Verängstigt, zer-ängstigt

Dienstag, 5. Juni 2012

Angst. Diese kontinuierliche Angst. Wer schützt uns vor den Fans? Sind unsere Stadien noch sicher? Übernehmen Hooligans unsere Stadien? Unsere Stadien! Unsere! Meine Stadien?
Überall Angst. Volle Hosen. Bange Fragen. Sondersendungen und Brennpunkte.
Aus aktuellem Anlass: Was gegen die Fanwut tun? Gegen Anhänger, die Bengalos werfen? Was gegen Anhänger, die freudetrunken den Platz mit ihresgleichen eintunken? Müssen wir uns nun öfter vor vorzeitigen Platzerguss fürchten?

Beharrlich panisch, beharrlich hasenherzig.

In Italien bebte die Erde. Wir sind gottseidank sicher, bei uns sind Erdbeben selten. Aufatmen dann.
Aber der Parmesan nahm Schaden; Produktion geschädigt. Die Furcht geht um, denn Parmesan wird deswegen teurer, berichtet die öffentlich-rechtliche Verängstigung. Spaghetti in Gefahr! Und Urlauberangst: Können wir noch nach Italien zum Urlauben?
Dann wieder mal Erdbeben in Asien, dazu Springfluten, die man nun Tsunami nennt. Können wir dort noch in den Urlaub? Aber ich habe doch schon gebucht! Kriegen die Urlauber ihr Geld erstattet? Kann man die Buchung rückgängig machen? Tiefe Ängste sind das. Unsere Ängste. Und es gibt noch schlimmere: Können wir dort noch ficken, uns an minderjährigen Strichern abregen? Schlaflosigkeit.

Immer nur Angst. Der Rohstoff unseres Daseins.

Angst vor Krankheit und Seuchen. Vor Viren mit Buchstaben-und-Zahlencode-Namen. Vor Monsterepidemien. Blutiger Auswurf. Mattheit, Müdigkeit, Koma. Tod. Schon Tausende widerfahrene Tode, tausende Tote, mehrere tote Tausender. Hat die Seuche schon wieder einen Tausender vollgemacht und kostet sie uns mehrere tausend solcher Tausender?
Sonderseiten in Zeitungen, Sondersendungen im TV; alles für die Panik, alles für die Informiertheit, die eine gesunde Panik als Sockel benötigt. Halb informiert, voll panisch - andersrum nicht denkbar. Halbinformation bis zum Überdruss. Man kann halbinformative Überinformation betreiben - Information macht abwägend und sicher; Überinformation verdummt. Information nimmt Angst; Überinformation gibt sie. Desinformation, Zer-informiertheit. Das alles erzeugt Angst. Und der Rohstoff soll fließen.

Das Land in dem Bang' und Bammel fließt. Wie Milch und Honig. Wie Hähnchenschenkel, die schlaraffianisch in Mäuler fliegen. Mäuler, die Angst verbreiten - Mietmäuler, Schandmäuler, Großmäuler.

Befremdlicher Schrecken. Schrecken vor Fremden. Denn wir sterben aus. Wir leiden im Übermaß an Überfremdung - und überfremden übermäßig. Wir werden islamisiert. Oh Gott, bald heißt es Oh Allah! Wann blitzt die erste Mondsichel vom Kölner Dom? Keine Integration, keine Anpassung. Das kann doch nicht gut sein! Wir verstehen sie nicht und alle, deren Weltbild wir nicht verstehen, neigen zum Terror. Keinen Kotau vor unserem westlichen Lifestyle zu begehen: Das ist doch terroristisch!
Da ist sie wieder, die Angst, dieses Steckenpferd des öffentlichen Monologes, den wir Diskussion getauft haben. Dicke Angst, ordentlich verordnete Angst. Ein Zittern, ein Bibbern - Moscheen machen flattrig. Dort sind Predigten gehässig, säuft man Christenblut, betet man für den Weltkrieg, den Kulturkrieg, trifft man Vorbereitungen, die Weltmacht an sich zu reißen. Die Angst von Soziopathen.

Neurotische Ängste erfüllen unseren Tag. Zähflüssig nehmen sie unserer Denken in Beschlag, lähmen sie unsere Zurechnungsfähigkeit. Klarer Verstand ist der Feind, Gelassenheit eine Kriegserklärung. Der bürgerliche Mensch anno merkeli, darf nicht abgeklärt, stoisch sein - er muß immer an der Krempe zur Panik gehalten werden. Frauen und Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Bedachtsamkeit stört; Konfusion dient. Der homo confusionis liest nicht beruhigend Konfuzius, er liest allerhand Konfusionika. So ist das anno springeri. Er liest von sich abschaffenden Deutschländern oder von überfremdeter Überalterung, vom uns ausblutenden Sozialstaat und von Ängsten aller Nuancen. Für jeden ist was dabei, jeder bekommt seine Portion Angst - so ist das anno bertelsmanni.

Gegen allgemein verordnete Ängste und Paniken immun zu sein, machte uns bloß krank. Krank als Gesellschaft.

Die Beschäftigung ist wichtig. Erwerbsarbeit ist heute so eine Beschäftigung. So lapidar sagt man das heute: Wo sind Sie denn beschäftigt? Aber es ist nicht lapidar, es ist kalkuliert, genau so gemeint. Denn Beschäftigung lenkt ab. Aber diese nervende Freizeit, in der der Beschäftigte dann zeitweilig unbeschäftigt ist! Hier kommt die Furcht als Beschäftigung ins Spiel. Arbeit und Angst, ängstlich Arbeitende und arbeitende Angsthasen, Angst durch Arbeit und Arbeit als Angst - in jeder Konstellation denkbar, man drehe nur die Worte Angst und Arbeit herum, dopple sie, mache sie von Nomen zu Adjektiven und so weiter: immer kommt etwas heraus, was zutrifft.

Angstmache jedoch immer dann nicht, wenn Aufschwüngchen gefeiert werden wie gewonnene Kriege; wenn Zuversicht notwendig wird. Denn ausschließlich Angst fruchtet nicht. Zuckerbrot und Peitsche, Hoffnung und volle Hosen. Man braucht doch auch Lichtblicke, um erfüllend verängstigen zu können.

Angstzustände sind die Grundlage jeder hoffnungslos optimistischen, künstlich unverzagten Gesellschaft. Soma. Wer genügend Ängste im Hinterkopf hat, der hat genügend Drang dazu, Hoffnung auch da zu sehen, wo es wenig Grund dazu gibt. Die Angst schärft die Suche, die Sucht nach Glück. Der Verängstigte ist triebhaft glücksuchend - an den unmöglichsten, an den irrationalsten Stellen sucht er. In der Wirtschaft, am Arbeitsmarkt, in geschönten Statistiken. Und beim Kaffeekränzchen mit Kringelgebäck - wir sind Biedermeier!

Angst ist menschlich. Sie ist auch wichtig. Erweiterte Pupillen, Muskelanspannung, schnellere Atmung - zur Vorbereitung auf schnelle Energieverwendung, zur besseren Wahrnehmung, Reaktion. So hat der Mensch überlebt, als er einst auf Raubtiere traf. Angst sichert das Überleben. Angstlosigkeit kann tödlich sein. Mancher Stier war mutig, rannte mutig gegen den picador, griff mutig die banderilleros an - das ist Mut, der Ströme von Blut hervorbringt. Angst hätte ihm vielleicht geholfen.

Aber diese Angst, die als Rohstoff dient, sie wird keinem Raubtier entgegengestellt...



9 Kommentare:

potemkin 5. Juni 2012 um 09:04  

Angst war immer ein probates Mittel der Politik, um die Massen gefügig zu machen. Das größte Raubtier, dem wir Steinzeitmenschen heute gegenüber stehen, ist das Finanzkapital. Aber dessen Opfer sind nicht so sichtbar wie Tsunamileichen und Verschüttete nach einem Erdbeben...

Anonym 5. Juni 2012 um 09:10  

Ein echt starker Artikel.
Danke, auch für die beiden Literaturhinweise.

Bei aller Fülle an Literatur über das Thema Angst, möchte ich den Klassiker hierzu benennen:

Grundformen der Angst, Fritz Riemann

Noch ein Spruch des Tages :-)
ANGST ist ein DÄMON, der einen süchtig macht.
- Paßt doch zu "Soma" oder ?

Hartmut

flavo 5. Juni 2012 um 14:54  

Das hat mit jetzt aber gut gefallen.
'Der Verängstigte ist triebhaft glücksuchend - an den unmöglichsten, an den irrationalsten Stellen sucht er.'
Ein wahrer Spruch. Das, was der Verängstigte nicht sieht, ist, dass dieses Irrationalste gerade die Verursacher der Ängste sind.
Im Grunde ist es ein Kunstwerk an psychosozialem Arrangement: man verängstigt jemand (auch allgemeiner, durch Gewissensvorwürfe, überhöhte Ansprüche usw.) und vielleicht gelingt es einem dadurch, dass jener nun mit offenen Armen die Lösungen empfängt, die man ihm bietet.Bindung durch Abstoßung und Reizung.
Ich bin reich und mächtig und das Losungswort dazu ist: Anstrengung. Du arbeitest viel? Aber du bist noch nicht reich und mächtig! Also arbeitest du noch nicht genug. Das Losungswort ist Bildung: du hast gelernt und bist gebildet? Aber du bist noch nicht reich und mächtig! Also hast du noch nicht genug gelernt. Das Losungswort ist Ehrlichkeit. Du bist ehrlich aber noch nicht reich? Du hast wohl gelogen.Das Losungswort ist Schönheit. Du pflegst dich, bist aber immer noch arm? Ich bin reich, was meinst du wohl, wie sehr ich mich gepflegt habe? Das horrende Gröhlgelächter im Hintergrund mag einen wirklich ängstigen.

Lysis wäre der althergbrachte Weg sich zu entängstigen.
Es ist aber schwierig. Wir sind wie kurze Gummibändchen. Getrieben aus Angst, spannen wir uns zu allerlei Zweck an, aber nur kurz. Man lernt dies und übt das, tut dort mit und dann auch noch hier.
Die Angst geht nicht weg. Man hat das ganze Leben einen Berg vor sich. Er geht unter einem mit. Daher bleibt man auf der Stelle. Man träumt vom erreichten Plateau. Man erreicht es aber nie, weil es ein erträumtes ist.

Anonym 5. Juni 2012 um 18:17  

wenn die angst solche tollen texte zur folge hat dann bin ich froh, daß es sie gibt.

pillo 6. Juni 2012 um 00:40  

Überinformation verdummt. - Wie wahr!

Und genau so ist es gewollt. In diesem ständigen Schwanken zwischen Schreckensmeldungen und Euphorieverbreitung muss das simple Gemüt ja völlig kirre werden. Man bombardiert uns von früh bis spät mit Nachrichten, News, Infos, Tickermeldungen, usw. Wer hier nicht gelernt hat, zu sortierien und ggf. auch zu ignorieren, lebt in steter Anspannung und kann irgendwann wichtiges nicht mehr von unwichtigem unterscheiden.

Es ist sicher auch für die Redakteure nicht immer ganz einfach, aus dem Wust an Informationen, die minütlich über die Ticker laufen, das Wichtige herauszufiltern. Seit geraumer Zeit kann man aber beobachten, das neben der schon genannten gezielten Panikmache, die wirklich wichtigen Nachrichten von "bunten Themen" bzw. "News aus aller Welt" (die für uns in Deutschland völlig irrelevant sind) überlagert und an den Rand gedrängt werden. Und hier mag ich nicht an Zufall bzw. handwerkliche Fehler in den Redaktionsstuben glauben.

Wenn man sieht, wieviel Sendezeit die Feierlichkeiten zum 60. Thronjubiläum der englischen Königin in den Hauptnachrichten der ÖR einnehmen und im krassen Gegenzug dazu die kurze Abhandlung des schwarz-gelben Kuhhandels in Punkto privater Pflegeversicherung mitbekommt, könnte man vor Wut an die Decke gehen.

EHEC-Gurke 6. Juni 2012 um 01:06  

jetzt bin ich aber sauer, dass Du mich nach einem Jahr schon wieder vergessen hast...

...nein nicht Du Roberto, sondern der ge-BILD-ete Bürger. Wie könnt ihr es wagen mich zu vergessen und stattdessen das Drecksblatt (erster Treffer bei google) für 60 Jahre Schmiere zu feiern. Ich wünsche Euch die Vogel- und Schweinegrippe und ausserdem die Maul und Klauenseuche auf einmal an den Hals. ;-)

Eure saure EHEC-Gurke
(die aber Roberto's Artikel zutreffend findet)

Anonym 6. Juni 2012 um 08:00  

ganz toller Artikel!!!!!!!
Daniela

Lazarus09 6. Juni 2012 um 09:24  

A-N-G-S-T !!
"Unsere" Wirtschaft, Fußballfans, Rocker, Zahnbelag...

"Zeitnot schaffen, Panik stiften, das Denken ausschalten"

Angst essen Milliarden (und Hirn)auf ...

..der Michel und nicht nur der nimmt's gerne,mit leerem Kopf nickt es sich eben leichter ... es ödet an

Anonym 10. Juni 2012 um 13:32  

Ein gaaanz toller Artikel. Wie die meisten, die ich hier lesen durfte.

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