Einigkeit und Sieg und Geilheit!

Freitag, 22. Juni 2012

Jetzt müssen doch alle zusammenhalten. Alle zusammenstehen. Alle zusammenrücken. Wir sind doch eins. Stehen geschlossen, stehen gemeinschaftlich hinter den Gittern, die uns vom Fußballplatz sondern. Auf Plätzen, in Kneipen, in Gärten. Alle fixiert auf Eintracht, Gleichklang, Harmonie. Neunzig Minuten Einhelligkeit - und dann vielleicht nochmal neunzig Minuten - und abermals neunzig Minuten süßes Miteinander. Und letztlich vielleicht weitere Tage siegestrunkener Frieden, selige Brüderlichkeit, euphorische Schwesterlichkeit.

Der Arbeitslose und sein Fallmanager fordern vereint Eckball.
Der sich von den Alten ausgebeutet wähnende Junge und der von den Jungen als zu teuer bezeichnete Alte brüllen simultan Das war Einwurf, blinder Sack!
Der Neonazi und der abgeklärte Demokrat kooperieren im Jubel.

Wir stehen zusammen, kennen keine Parteien mehr, nur noch das Kollektiv. Einigkeit und Sieg und Geilheit für das einig Fußball-Schland! Eine geile Zeit! Das Volk, sonst zerrissen, zerstritten, partikularinteressiert, plötzlich ein pauschalisierter Klumpen. Am einen Ende des Seils ziehend, auf derselben Seite zerrend. Zugleich! Zugleich! Individualinteressen, Selbstzwecke, Eigennützlichkeiten addiert zu dem einen einzigen Interesse. Neunzig Minuten und darüber hinaus - bis dass das Schlusspfiff uns scheidet, keine Unterschiede mehr. Der große Gleichmacher! Oh utopischer Fußball, du egalitärer Rasensozialismus! In dem alle gleich sind, unterschiedslos, analog.

Vergessen die Diskrepanzen zwischen Mitgliedern der FDP und den Mitgliedern von Die Linke.
Aufgehoben das Gefälle zwischen Ackermännigkeit und Armut.
Abgepfiffen die Divergenz zwischen Springer-Konsument und documenta-Besucher.

Alle zusammen hoffend. Hoffen auf das erlösende Tor. Hoffen auf den Schlusspfiff. Hoffen darauf, dass nach dem letzten Schlusspfiff des Turniers ein Pokal dem Nachthimmel entgegengereckt wird. Dann hoffentlich Tage voller Euphorie; Suff für alle. Dann gibt es keine Parteien mehr, nur noch Rausch. Bis dahin: gemeinsam fluchen, schimpfen, mit Fäusten drohen; bis es soweit ist: miteinander jubeln, singen, tanzen; bis zur Aprés-Fußball-Ekstase, -Delirium, -Bierseligkeit: gemeinsames Fiebern, gemeinsame Tränen, gemeinsames Verständnis für die Affekte des Mitfans.

Der Leiharbeiter fällt seinem Leiharbeitgeber um den Hals, nachdem der Ball die Torlinie passierte.
Ausgebeuteter wie Ausbeuter beweinen harmonisch ein Gegentor.
Sparwütiger Kunde und der dieser Sparwut wegen im Minijob zurückgestufte Verkäufer singen einträchtig Olé, olé!

Und dann pfeift der Schiedsrichter ein letztes Mal. Und dann ist der Rathausbalkon leer, der Rathausplatz verwaist, nur Fähnchen liegen noch herum. Party vorbei. Keine Spiele mehr, keinerlei Berichte über Mittagstisch und Schlafbefinden der Elf. Niemand berichtet mehr im feierlichen Ton und mit würdiger Miene von den Fürzen, die bestimmten Spielern quersitzen. Fürze, die die nationale Harmonie begründeten; Spielerstuhlgänge, die Einigkeit und Sieg und Geilheit! ausmachten - alles passé, alles vorbei. Die hübsche Symmetrie aufgelöst ins Nichts. Kein Arm in Arm mehr, kein Geschunkel. Der Wohlklang erledigt. Es war ne geile Zeit!

Dann drangsaliert der Personaldienstleister wieder seinen verliehenen Arbeitnehmer, der Kunde wieder den minijobbenden Regaleinräumer.
Dann verachtet Die Linke wieder die Freien Marktliberalen und das Ackermännische das Hartzische.
Dann beklagt sich abermals die Jugend über das kostenintensive Alter und der aufrechte Antifaschist mosert über den Neonazi, während er Deutschland schafft sich ab! als das Buch des letzten Jahrzehnts rühmt.

Dann ist wieder alles, wie es immer war - der Ausnahmezustand bestätigt nur den Regelzustand.



20 Kommentare:

christophe 22. Juni 2012 um 07:18  

Es scheint sich tatsächlich um einen kollektiven Taumel, eine Amnesie zu handeln. All die schwarz-rot-goldenen Fähnchen an Autos und Häusern, die Silvesterkracher, wenn 'wir' ein Tor geschossen haben. Einzig das Bundesverfassungsgericht scheint noch wach zu sein...

Anonym 22. Juni 2012 um 09:36  

...es wäre mir ein innerer Reichspartreitag, wenn wir gegen die Griechen verlieren würden...

ad sinistram 22. Juni 2012 um 09:45  

Ausscheiden bei der EM? Man kann viel sagen heutzutage. Über Gene, über Rassenspezifika, über Faulheit von Südländern - aber Ausscheiden bei der EM? Das führt zu weit! Sowas kann man nicht sagen!

Anonym 22. Juni 2012 um 10:17  

@ Anonym (9:36 Uhr)

... aber selbst Du sagst noch "wir", wenn Du von der deutschen Mannschaft sprichst, die doch letztlich auch nur ein hochbezahlter Teil des entertainment business ist. Irgend wie scheint es eben doch in den meisten Leuten drin zu stecken ...

flavo 22. Juni 2012 um 10:17  

Das ist Entlastung. In den Ursud, in die differenzlose Masse eintauchen, das entlastet.
Darüber hinaus bietet der Fussball das emotionale Set der Gegenwart par excellence. JedeR kann neunzig Minuten das emotionale Plateau des Neoliberalismus durchleben, interpassiv zwar. Anstrengung, Kampf, Konkurrenz, Erfolg, Misserfolg, Jubel, Trauer, Zittern, Flexibilität, Kreativität und Innovation. Ein Fußballspiel ist wie eine Eichung. Das Diffuse und Fragmentierte, Langgezogene und Schattenhafte des Alltags, erfährt hier seine Zurückführung auf das Urbild, seine Eichung, die Sinngebung, das durchgreifende klärende Ordnen des Erlebensflusses. Daneben, da nun mal die Mehrheit in Armut lebt, kann sie interpassiv mitterleben, um was es geht. Im kleinen, oft leidvollen Existenzradius der Armut (und wir nehmen gettost den ächzenden Mittelstand hinzu) beginnt man zu lechzen nach den Erlebensformen des Glücks. Interaktiv geht es nicht, da gibt man es sich halt interpassiv. Erleben tun es andere und man selbst grabscht hektisch nach den Partikeln im Fiktiven. Eine Bierflasche, eine Couch und die Einflösung des kompensierten neoliberalen Lebensmodells in Sportform. Man jubelt, hüpft auf, reckt die Faust in die Höhe, man hat gesiegt, ein Tor geschossen, man schreit direkt und tanzt mit den Genossen. Als hätte man selbst gewonnen. Leider war es eine mentale Fiktion. Man weder gewonnen, noch verloren. Es ist eigentlich nichts passiert. Eine schale Realität äugt hinter der Fiktion hervor.
So beginnt am nächsten Tag um 8 mit dem Anpfiff das alte Leben. Es besteht zwar nur aus einer endlichen Reihe von Halbzeiten, man spielt es nur einmal zu Ende, der Schluss wird mit dem Tode gepfiffen. Bis dahin bliebt es ein darbendes Spiel, eine Kopie der Fiktion in Graustufen, die eines allen voran machen: durstig nach Farbe.

Anonym 22. Juni 2012 um 12:29  

...das "wir" war mal wieder reine Faulheit....wollte Buchstaben sparen, die ich jetzt um sehr mehr ausgeben muss.....lach, hab` bisher kein Spiel gesehen und werde es auch in Zukunft nicht....

Matt 22. Juni 2012 um 13:22  

Ähnlich könnte man über den "Tatort" oder "Wetten dass" schreiben, was genauso die verschiedensten Gemüter mitfiebernd vor dem Fernseher eint.
Oder über die Betriebsweihnachtsfeier, wo Abteilungsleiter und Angestellter gemeinsam glasigen Auges in den Punsch stieren ;)

flavo, "da nun mal die Mehrheit in Armut lebt"...
"Die Mehrheit der Deutschen lebt in Armut". Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.

Anonym 22. Juni 2012 um 13:30  

Wow, was für ein treffender Text! Trunkenes Volk im Taumel, möglicherweise bis zum Delirium Tremens.

Anonym 22. Juni 2012 um 17:44  

es gibt sie noch, die wirklich wichtigen dinge

wenn nationaler nebel wabert
wenn beckenbauer schwachsinn labert
wenn deppen gröhlen bis halb vier
dann steht die euro vor der tür

wenn sitten und moral versterben
wenn menschen schwarz-rot-gold sich färben
vom nasenbein zum couchfurnier
dann startet bald wohl ein turnier

die schuldenkrise? syrien?
die aok-gebührien?
vergessen, abgehakt, passé!
king fußball rult. olé! olé!

http://www.spreeblick.com/2012/06/08/vreitagsvers-der-funfzigste/

Trojanerin 22. Juni 2012 um 23:33  

Der Spielort des heutigen Spiels wird oft wie selbstverständlich als Danzig bezeichnet. Das finde ich sehr befremdlich. Ein griechischer Schlagerstar musste kürzlich im deutschen Fernsehen erklären, dass er der deutschen Mannschaft eher den Sieg wünscht, als der griechischen Mannschaft, sonst wäre er noch stärker ausgebuht worden. Immerhin zahlt Deutschland für die faulen Griechen...
Aber es ist schon schön Frau Merkel im Stadion zu wissen und die Fußballer berichten zu hören, wie sie von der Kanzlerin beim Duschen überrascht werden. Die Kanzlerin ist halt ganz nah bei den Millionären.

Das ist doch Volksverdummung, aber dient wahrscheinlich als Ablenkung. Was für Gesetze oder verschärfte Sanktionen sollen denn dieses Mal still verabschiedet werden?

Karl 22. Juni 2012 um 23:37  

> hab` bisher kein Spiel gesehen
> und werde es auch in Zukunft
> nicht....

Lobenswert!

Anonym 23. Juni 2012 um 00:26  

@flavo

Das ist viel zu psychologisch gedacht. Ohne den Patriotismus würde DIESE spezielle Form der Ablenkung und Ersatzbefriedigung nicht funktionieren. Und denk daran, dass manche Leute sogar bereit sind fürs Vaterland zu töten, das kann man schwer als Sehnunsucht nach Farbe fassen.

---

Die im Patriotismus behauptete Gemeinschaft ist ein offenkundig ein Wahn. Die (übrigens staatlich organisierten) Events haben mit der Realität ja nichts zu tun und wenn die Deutschen dort Brüder sind, dann beweist das nur, dass sie es sonst nicht sind. In Wahrheit sind alle Deutschen Konkurrenten, sich also mehr oder weniger feindlich gesonnen. Sie konkurrieren ums Geld, um Anerkennung, darum wer welchen Posten ergattert, wer oben und wer unten steht. Nix Einheit. Insofern der Artikel zumindest ein klein bisschen diesen Wahn aufs Korn nimmt, gefällt er mir sehr gut.

maguscarolus 23. Juni 2012 um 15:07  

>>Anonym 22. Juni 2012 09:36
...es wäre mir ein innerer Reichspartreitag, wenn wir gegen die Griechen verlieren würden...>>

Leider, leider nicht eingetroffen. Ich hatte mich mit diesem Wunsch auch da und dort unbeliebt gemacht bzw. bin damit auf Verständnislosigkeit gestoßen.

Zu sehr ist das nationale Wachkoma fortgeschritten.

Anonym 23. Juni 2012 um 20:11  

Es lässt einen nach Luft schnappen, man ringt nach Fassung. Die Trojanerin hat es gesagt und sie erhebt eine der wenigen Stimmen, die man momentan vernehmen kann.
Wie selbstverständlich wird Lviv als Lemberg zurückgedeutscht, Gdansk wird wieder Danzig und nirgends hört man auch nur den leisesten Einwand. Wenigstens E R W Ä H N E N könnte man als Journalist doch einmal, dass außerhalb der EM diese Städte wieder die rechtmäßigen Namen tragen. Aber in der nationalistischen Hitze der Fussballgefechte will von solchen Kinkerlitzchen keiner etwas wissen. Gomez´ Frisur, Boateng´s Freundin, ...hält die Wade von Borsti noch ??? All das ist viel wichtiger als die Tatsache, dass man zuletzt in Lviv in der Ukraine Deutsche hat "Lemberg" sagen hören als diese dabei noch die Wehrmachtsuniform trugen.
Aber Hauptsache man kann beim nächsten Spiel der Nationalmannschaft wieder das vertraute "SIEG,SIEG,SIEG" Gegröle hören.
Das "neue nationale Bewusstsein" lässt dies ja ohne Magengrummeln zu.
Kritisiert man solch infantile Deutschtümelei jedoch, wird man von Springerschmieranten wie Ulf Poschardt als "antideutsch" diffamiert !
Anton Chigurh

Tim 23. Juni 2012 um 20:54  

Was es noch nie gegeben hat: Selbst im alternativsten Club der Stadt (250.000 Einwohner) trug der DJ (der dort seit über 10 Jahren anerkannte alternative Partys abhält) gestern ein Hemd mit "Deutschland"-Aufschrift, im Publikum mehrere Deutschland-Trikotträger, und ein in eine Deutschlandfahne Gehüllter wurde ebenfalls auf dem Floor gesichtet.
Und in dem Club läuft seit über 10 Jahren niemals Mainstream, sondern nur Punk, Indie und ausgefallene elektronische Musik...
Wenn der Nationalismus nun schon so weit ist, was soll ihn jetzt noch stoppen??

Anonym 23. Juni 2012 um 23:01  

Wie immer, schön geschrieben.

Bei den derzeitigen Gröhlereien, sei es nun ein Fan oder keiner, ich bin mir sicher - viele sogenannte Fussballfans sind nur der Party wegen und des Gegröhles am TV Schirm um diesem Ereignis deutscher Geschichte beizuwohnen.

Ablenkung vom Eurowahnsinn kann es sein, aber vielmehr fürchte ich eine neue nationale Welle, die durch das Land rollen wird und jeden, der nicht der Leitkultur entspricht, umkickt.

Sollen sie doch böllern und gröhlen, wach werden sie dann, wenn die Realität sie eingeholt hat. Dann gibt es aber kein zurück mehr.

Ich schaue mir weder die BL noch die EM und schon garnicht die WM an - mir sind die beiden Prothestanten am Himmel der Macht auch schon zuviel.

L.K.

Anonym 24. Juni 2012 um 10:54  

Mit Angst wird nun versucht, uns eine neue Staatsform aufzudrängen, in der alles Heil von Brüssel ausgeht:
"Das Wachstum würde massiv einbrechen, die Arbeitslosigkeit auf mehr als fünf Millionen steigen: Nach SPIEGEL-Informationen rechnet das Finanzministerium für den Fall eines Euro-Zusammenbruchs mit katastrophalen Folgen für die deutsche Wirtschaft."

Vergessen wir das Lustigmachen über Fußball, das Klassifizieren von RTL-Fernsehzuschauern - es geht um viel, viel Wichtigeres!

Anonym 25. Juni 2012 um 10:34  

Hier wird immer mal wieder von Kommentatoren betont dass sie sich die EM und/oder Fußball generell nicht ansehen.

Entweder lese ich das nur hinein, oder es schwingt immer die Unterstellung mit, dass Fußballinteresse mit Gleichschaltung im Sinne des Artikels und kollektivem Desinteresse am Rest der Welt einhergeht.

Als könnte man sich das Spiel nicht auch ansehen ohne dabei im totalen Rausch unterzugehen. Als würde man nicht merken wie die Kanzlerin alle 2 Minuten ins Bild rückt und ihr Image über den Sport profiliert.
Die gröhlende Masse ist nunmal am lautesten, aber davon implizit und insgeheim auf die meisten anderen Fans/Zuschauer schließen zu wollen geht am Ziel vorbei.

Anonym 25. Juni 2012 um 11:57  

@Roberto J. De Lapuente: Ich bin vor ein paar Tagen erst auf Ad Sinistram gestoßen - und seitdem ein großer Fan. Toll. Auch dieser Text - so treffend, so wunderbar formuliert. Ich finde es auch seit Jahren sehr faszinierend, dass Fußball tatsächlich der einzige Sektor ist, bei dem bei Zeiten überhaupt noch D als Nation greifbar ist... verrückt.

Anonym 26. Juni 2012 um 12:56  

Im Grunde so wie Weihnachten.

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