Mal wieder weniger Demokratie wagen

Mittwoch, 20. Juni 2012

Der Standort Deutschland ist gefährdet. Zur Abwechslung sind es nicht zu hohe Löhne, die ihn ins Straucheln geraten lassen - und auch keine Wirtschaftskrise. Es ist die Demokratie - kein Defizit an ihr, sondern zu viel davon, bringt den Standort an Abgründe. Nachdem sich die Münchner an den Urnen gegen den Bau einer weiteren Startbahn aussprachen, unkt es aus Politik und Wirtschaft nun erneut, dass Großprojekte in Deutschland keine Chance mehr hätten. Deutschland verkomme zum fortschrittsfeindlich Areal - nach Stuttgart 21 und dem Protest der Anrainer des Frankfurter Flughafens, jetzt auch noch das Nein der Münchner. Der Wutbürger lähmt die Republik.

Bislang sprach man von Wutbürgern, wenn es sich um demonstrierende Menschen handelte. Nun ist schon Wutbürger, wer bei einem Bürgerentscheid sein basisdemokratisches Recht wahrnimmt. Dieses Zuviel an Demokratie erzeugt nicht Partizipation, mahnt nun die Wirtschaft, es hemmt in ersten Linie und macht das Land rückschrittlich. Die Menschen wüssten nämlich gar nicht, was gut für sie ist - weitere Lärmquellen in ihrem direkten Umfeld seien nämlich nicht unbedingt schlecht, weil sie Arbeitsplätze brächten, nur verstehe das der plebiszitäre Wutbürger nicht. Er ist so wütend, dass er nichts mehr sieht, dass er erblindet ist. Früher nannte man das demokratisches Grundrecht, was man heute als Wut zu diskreditieren versucht.

Die Skandalisierung, die die empörten Stimmen aus Politik und Wirtschaft zu formulieren versuchen, sie zielt darauf ab, demokratische Partizipation als etwas hinzustellen, das nicht historische Errungenschaft, sondern ökonomische Bremse ist. Man müsse quasi abwägen, was wichtiger zu sein hat. Hierzu malen sie Angstszenarien von einem Land, in dem die Bereitschaftsverweigerung zu öden Verhältnissen führe, zu Wettbewerbsunfähigkeit und nationalem Niedergang. Die Motive der Gegner spielen darin keine Rolle - spielen sie nicht, obwohl Stuttgart 21 sensibilisiert haben müsste, obwohl eigentlich klar ist, dass die Situation am Frankfurter Flughafen so nicht erhalten bleiben kann. Die Entscheidung der Münchner ist gleichfalls für die Kritiker des vermeintlichen Demokratiesuffizits unverständlich.

Großprojekte scheitern zukünftig vielleicht tatsächlich vermehrt, sollte man den Schneid haben, den Souverän an Entwicklungen zu beteiligen. Das liegt aber nicht an der Fortschrittsfeindlichkeit derjenigen Bürger, die sich erdreisten, ihren Versammlungs-, Demonstrations- oder Wahlrechten nachzugehen, sondern an der Unvereinbarkeit von Projekten mit der Lebensqualität der Menschen. Lärmhöllen wie in Frankfurt mögen Arbeitsplätze erzeugen, wobei auch das strittig ist - aber die gesundheitlichen Auswüchse und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen relativieren vieles. Was sind Arbeitsplätze wert, wenn dabei Herz- und Kreislauferkrankungen zulegen? Sind Menschen in Arbeit wichtiger als Menschen in nervösen Dauerzuständen? Das sind Fragen, die sich mit dem herrschenden Ökonomieverständnis gar nicht beantworten lassen, weil dieses nur die Habenseite kennt, das Soll aber sozialisiert - weil es Verantwortung nur für Gewinne übernimmt, nicht aber für Folgeschäden.

Es ratterte und krachte und lärmte vielleicht tatsächlich bald weniger, wenn man die Bürger an solchen Entscheidungen beteiligte und wenn man deren Entscheidung als bindend akzeptierte. Für manche ist das Fortschrittsverweigerung - eigentlich ist es allerdings nicht weniger als die Hege und Pflege der Demokratie. Und das ist auch eine Art Fortschritt. Kein materieller freilich, was den Apologeten des niedergehenden Landes aufgrund Demokratieüberschusses, natürlich wenig behagt. Demokratische Standards sind für sie nur fortschrittlich, wenn sie ihre profitorientierten Absichten absegnen und somit durch Mehrheitsentscheid legitimieren. Ansonsten fühlen sie sich der Tyrannei der Masse ausgesetzt, der Willkür böser Bürger, nicht zu bändigender Wutbürger.

Weniger Demokratie wagen, dann bleiben wir wettbewerbsfähig, modern, auf der Höhe der Zeit - anders gesagt: Unsere Zeit ist nicht demokratisch eingestellt, sie giert nach Diktat. Nur das Diktat kann den Aufgaben, die sich in der modernen Welt stellen, gerecht werden, könnte man schlussfolgern und schlussfolgern insgeheim diese mahnenden Stimmen ja durchaus. Es sind übrigens jene Wirtschaft und Politik, die nun von dieser Demokratie verdrossen sind, die sonst dem Volk Demokratieverdrossenheit vorwerfen, weil das nicht an Wahlurnen stürmt wie an Freibiertheken, um eine (Wirtschafts-)Politik abzusegnen, bei der es meist nur Verlierer ist.



13 Kommentare:

Anonym 20. Juni 2012 um 08:15  

Dem kann i direkt zustimma.

Mei schwester ist 93 in Erding verstorben. Sie hot damals gegen den Flughafen gekämft. I war oft da ..bin dort sehr vui spaziern gang..mit a bayr schwarz. dackeln...naja..jetz samma älter.....

Anonym 20. Juni 2012 um 08:39  

Es war einmal ein Land, in welchem ein weiser König lebte. Er war so weise, dass er gelegentlich unters Volk ging um seine Untertanen nach Ihrem Wohlbefinden zu befragen.

Und das Volk jubelte, dass der König, sich nach Ihren Sorgen und Wünschen erkundigte. Dabei wusste der kluge König, dass er es nicht allen Bewohnern des Landes recht machen konnte.

Aber das war dem Volk auch nicht wichtig. Schließlich war doch der König gekommen, um sein Volk zu besuchen. Der König - in eigener Person! Wo hätte es das zuvor schon gegeben?!

So ließ der König seine Hofmarshallen das Land nach Gutdünken regieren. Die Erlasse ließ er durch seine Boten ins Land tragen um dem Volk seine Entscheidungen mitzuteilen.

Dass sein Hofstaat sich regelmäßig etwas aus der Schatzkammer bediente nahm er hin. Schließlich wusste er, dass sein Gefolge sich darum kümmerte, das sein Volk zufrieden war. Und dieser Obulus war ihm das wert.

Aber eines Tages bemerkte der König, dass etwas anders war. Das Volk war unzufrieden. Es reichte nicht mehr, dass er sich gelegentlich unters Volk mischte. Und so ließ er verkünden, dass die Untertanen wählen könnten was im Land gemacht wird. Und die Menschen frohlockten und jubelten. Der König. Es lebe der König!!

Aber nun fragte sich der König, wie er es allen im Volke recht machen konnte?
Nun trug es sich zu, dass im königlichen Wald ein weiser Einsiedler lebte. Der riet ihm, seinen Hofstaat, welcher vorher den Willen des Königs ausführte in mehrere Gruppen zu teilen. Was für eine schöne Idee!

So gab der König jeder Gruppe von seinem Hofstaat verschiedenfarbige Trachten. So konnte jetzt sein Volk sehen, das dem König alle Meinungen wichtig waren.

Und damit das Volk diese Veränderung im Königreich wahrnahm, nannte der König es Demokratie. Schließlich war doch jetzt alles anders als vorher für die Menschen.

Zugleich ließ er tagtäglich über geschriebene Kurz-Botschaften im Volk verkünden, wie gut es den Menschen geht.

Und das Volk las die gefalteten Botschaften, welche jeden Tag in den Holzbriefkästen an den Hütten lagen, jeden Tag und frohlockte. Der König. Es lebe der König!

Und wenn er nicht gestorben ist und das Volk immer fleissig die täglichen Faltblätter liest, regiert er wohl noch heute.

mfg
Stephan
(der hofft, das seine etwas zynische und bildhafte Kurzgeschichte nicht zu sehr aus dem Rahmen fällt.)

Anonym 20. Juni 2012 um 12:01  

Dringend die Leute zum Aufwachen bringen:

Am 29. Juni findet die Abstimmung im Bundestag zum Fiskalpakt statt, der den Weg zur Fiskalunion ebnet. Dieser Fiskalpakt bedeutet einen beträchtlichen Transfer der staatlichen Souveränität, da das Haushaltsrecht - einer der Eckpfeiler der Demokratie - an eine überstaatliche Einrichtung übergeht. Mit dem Fiskalpakt wird eine europäische Föderation gegründet, die unser Grundgesetz nicht erlaubt, wie bereits das Bundesverfassungsgericht in seiner Lissabon-Entscheidung festgestellt hat. Nur wenige wissen, dass der Fiskalpakt eine Art Ewigkeitsklausel beinhaltet, da er nur mit Zustimmung aller 27 Mitglieder geändert werden kann.

Die Machtverhältnisse, die sich durch diese Fiskalunion ergeben würden, kämen einer Revolution gleich. Aus der Geschichte kennen wir in der Regel eine Revolution, die von unten nach oben geführt wird. Wenn jedoch, wie in diesem Fall, sich eine Revolution von oben nach unten vollzieht, dann nennt man das einen Staatsstreich oder Putsch.

Dieser Putsch wird durch die Erfüllungsgehilfen einer Regierung (EU) initiiert, die kaum jemand kennt, die die meisten nicht haben wollten und die für die meisten nicht greifbar ist.

www.wallstreet-online.de/nachricht/4944809-fiskalpakt-29-06-2012-leben-deutschen-grundlegend-veraendern

www.mmnews.de/index.php/wirtschaft/9452-esm-verfassungswidrig

Anonym 20. Juni 2012 um 12:02  

Die Petition:
Keine Ratifizierung des ESM-Vertrages und des Fiskalpaktes vom 27.04.2012

https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=24314

endless.good.news 20. Juni 2012 um 13:50  

Es könnte ja auch ein Ansporn für die Großprojektplaner sein ihre Projekte so zu entwerfen, dass es dem Wutbürger angenehm ist für diese zu stimmen. Wenn in München gegen die Erweiterung des Flughafens gestimmt wird, dann werden die externen Effekte wie Umweltverschmutzung und Lärm mit einbezogen. Wenn die Bauherren nicht plausibel machen können, wie sie diese Probleme vermeiden wollen, dann sollen sie halt nicht bauen.

Cora 20. Juni 2012 um 17:33  

"Weniger Demokratie wagen, dann bleiben wir wettbewerbsfähig, modern, auf der Höhe der Zeit - anders gesagt: Unsere Zeit ist nicht demokratisch eingestellt, sie giert nach Diktat."

Die Demokratie ist die letzte große Hürde, um dem Neoliberalismus freies Geleit zu geben. Darum wurde das Experiment zuerst ja auch in einer Diktatur (Chile) begonnen.
Nicht zu fassen, dass trotz der vielen erwiesenen Systemfehler dieses Experiment mit den immer selben dämlichen Begründungen vorangetrieben wird, in Deutschland und ganz Europa.

Floyd 20. Juni 2012 um 18:20  

Nicht zu vergessen, seit Jahren findet ein Abbau sozialer Errungenschaften statt, immer mit dem Hinweis wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt, wir sind Pleite, wir können uns diesen "Luxus" nicht mehr leisten. So hat man es jahrelang in die Köpfe gehämmert, jetzt ernten sie u.a. die Ablehnung teuerer Prestigeobjekte, wir sind schließlich Pleite.

Kaluptikus 20. Juni 2012 um 20:03  

So gehts natürlich auch nicht. Die Umweltauflagen machen das Project teuer und man ist dann nicht mehr konkurrenzfähig. Es muss etwas ganz Neues her, die heutigen Verbrennungsmotoren sind nicht mehr zeitgemäss, was wir brauchen muss so ähnlich revolutionär einschlagen wie damals die Dampfmaschine! Früher hab ich tatsächlich mal geglaubt, dass eines Tages die Flieger mit Atomreaktoren ausgerüstet werden, naja...
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hab die Petition mitgezeichnet. Bitte alle mitzeichnen.

Pyro 21. Juni 2012 um 12:37  

Wann immer Sie in den letzten Monaten etwas zum Thema (mangelnder) Demokratie schrieben, schnellte es aus mir heraus: "Die Piraten haben die Lösung! Mit den Piraten ist das Problem vollständig gelöst. Die Piraten bieten eine vollständige Lösung dieses Problems!"

ad sinistram 21. Juni 2012 um 12:39  

Hahahaha, ja, wahrscheinlich ist es genau so - oder eben doch ganz anders.

Anonym 21. Juni 2012 um 15:07  

@Roberto J. de Lapuente

Tja, wir hier in Deutschland haben halt wohl doch eine typisch "dt. Mentalität", die nicht einmal zwei verlorene Weltkriege, und gescheiterte Diktaturen (NS- und SED-Diktatur sind gemeint) besiegen dürften.

Ein Schriftsteller namens Mann hat die ja in "Der Untertan" bestens beschrieben....

...in Krisenzeiten bricht die halt immer wieder durch, die undemokratische Kultur bzw. undemokratische "dt. Mentalität"....

Trauriger Gruß
Bernie

Bruno 22. Juni 2012 um 01:40  

Ich möchte Ihnen für dieses Blog danken, Herr Lapuente!
Die Deutschen, die man erst gewaltsam der Barbarei entwöhnen mußte, um sie in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker einzugliedern... diesen zwangsdemokratisierten Deutschen kann man nicht über den Weg trauen, man kann nie wissen, ob unter der kosmopolitischen Maske nicht immer noch der alte Nazi lauert, der wie einst der scheinromanisierte Arminius nur darauf wartet, wieder sein Beil zu zücken.
Man sollte die Zuchtrute und den Nasenring also immer parat halten. Das Geschichtsbewußtsein des Deutschen sollte dabei möglichst um seine Vergangenheit als Nazi herum gruppiert sein - weniger, damit er aufhört, Nazi zu sein und nie wieder zum Nazi wird, sondern vielmehr, um ihn immer daran zu erinnern, daß er aufgrund seines latenten Nazi-Seins einer ständigen erzieherischen Überwachung bedarf.
Ihr Blog erfüllt diese Maßgabe vorbildlich, Herr Lapuente!

Anonym 22. Juni 2012 um 09:21  

@Bruno

Nur ein Einspruch.

Die "dt. Mentalität" der Obrigkeitshörigkeit und des Untertanengeistes fing lange vor den Nazis an, d.h. man muß wohl schon 1871 ansetzen, als Kaiser Wilhelm sich im dt. Nationalchauvinismus im Spiegelsaal von Versailles - zur Demütigung eines besiegten franz. Gegnerns - zum dt. Kaiser krönen ließ, und nicht erst 1933.

Gruß
Bernie

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