Eine stets besonders besorgte Industrie

Freitag, 29. Juni 2012

Die Achse Bertelsmann-Springer kampagniert mal wieder. Weniger bombastisch als sonst, aber gut gestreut durch Programm und Geschmier' - sie gibt sich in boulevardesker Empörung und Besorgnis. Sexualstraftäter sind das Steckenpferd dieser emotionsgeladenen Diskurse. Mit spitzem Unterton und einer bürgerlichen political correctness, die ins Unkorrekte tendiert, die zur savanarolaschen Raserei wird, erzählen sie von den Abertausenden von Vergewaltigungen, Belästigungen, Ungerechtigkeiten gegenüber Opfern und Bevorteilung von Tätern - und sie stützen den Mob, der den Rechtsstaat mit einem billigen Rache-Dienstleister, einem schalen Vergeltungs-Service verwechselt.

Eine Gesellschaft von Gewalt- und Sexualstraftätern

Eine Ex-Minister-Gattin will den Kindesmissbrauch als Themenblock in den Unterricht einbauen lassen. Straftäter kastrieren?, fragt man mit unschuldigen Rehäuglein aufmacherisch. Ein Dorf in Aufruhr: Zwei aus der Haft entlassene Sexualstraftäter leben dort und sollen mit Gewalt aus dem Dort geprügelt werden! Zudem seltsame Themenschwerpunkte wie: Eine Vielzahl der jährlich zu Tode kommenden Frauen seien Opfer ihrer männlichen Partner. In Berlin hat ein Mann seine Frau zerstückelt, was Proteste gegen Männergewalt entfachte und nochmals die These von den von Männerhand getöteten Frauen aufwarf - Zerstückelung, eine der extremsten Perversionen als Beweis dieser männlichen Domäne? Aus diesem Ragout zwischen Herrschaftsphantasien und unbändiger Lust, die man ja dem Mann, dem Sexualstraftäter zuordnet, läßt sich immer etwas Empörendes filtern. Ist die Trivialisierung sexueller Straftaten schon schlimm genug, so ist die Zuordnung der Problematik zu einem reinen Männerthema, doch schon mehr als fahrlässig - jedenfalls, was die häusliche Gewalt angeht, die auch immer ins Feld geführt wird, wenn dergleichen Themen aktuell sind.

Es entsteht eine Wahrnehmung der Gesellschaft, wie sie nicht ist. Nicht an jeder Ecke lauert die Vergewaltigung, nicht überall ist die Fummelei an kindlichen Geschlechtsteilen standardisierter Alltag. Sie dürfte wohl eher die Ausnahme sein. Wenn Bertelsmann das Ergebnis einer Umfrage verkündet, wonach ein Drittel aller Frauen schon mal Gewalt durch männliche Hand erfahren haben, so muss der Wahrheitsgehalt angezweifelt werden - oder man sollte sich fragen, wie sich Gewalt hier definiert. Gab manche Frau an, schon mal ungestüm von ihrem Partner am Oberarm gepackt worden zu sein und haben die Auswerter das als Gewalttat veranschlagt? Männer würden den rüpelhaften Griff am Arm womöglich gar nicht als nennenswert erachten, womit auch nicht ein Drittel aller Männer schon mal weibliche Gewalt erfuhr, sondern ein geringerer Anteil - Dunkelziffern gibt es männlicherseits keine. Bei Frauen gleichwohl schon, denn zugleich mit der Studie erklärte man, dass es eine Dunkelziffer geben müsse.

Die Dramaturgie ist leicht zusammenzufassen. Sie ist ein Sud aus Klischees, dumpfen Vorurteilen und Bauchgefühlen, aus Racheaffekte und Vergeltungsrhetorik, aus unwissenschaftlichen Mann-Frau-Zuordnungen, wichtigtuerischem Hineinsteigern und Hochspielen, überzogenen Zahlenspielen und Statistikwerten, politischen Motivationen und reaktionären Patentrezepten, großem Moralisieren und der unreifen Erkenntnis, dass lediglich die strikte Überwachung des Verhältnisses zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Mann und Frau dazu führen könne, Kinder oder Frauen vor sexuellen und gewalttätigen Übergriffen zu bewahren.

Eine eigene kleine Industrie

Die Gruppen, die das Thema köcheln lassen, implizieren der Öffentlichkeit, sie seien die Vertreter des Anstandes und der Sitte in einer Gesellschaft, die durch und durch fahrlässig und blind mit jenen Themen umgeht. Bestimmte Medien, gerade jene aus dem Hause Springer und Bertelsmann, verleihen Gruppen wie jener, für die die Guttenberg-Gattin wirbt, ein Forum. Dort verbreiten sie ihre Schreckgespenster, überspitzen und dramatisieren sie die Problematik. Sie sind überproportional öffentlich vertreten, stehen in keiner Relation zu den tatsächlichen Zuständen. Nur wenn es so wirkt, als gäbe es dauerhaft Vergewaltigungen und Nötigungen, Gewaltexzesse und -phantasien, Dunkelziffern verschüchterter Opfer und ein Übermaß an Rücksicht gegen Täter, können sich die Schutzgruppen öffentliche Aufmerksamkeit erhaschen. Sie sind zu einer Industrie herangereift, die übergroße Kulissen aufbaut, um darin leben zu können.

Diese anständige und sittsame Industrie verlangt eine unanständige und sittenlose Rechtssprechung. Sie rechtfertigt das damit, dass sie Deutschland als Paradies für Vergewaltiger und Kinderschänder, für Schläger und familiäre Ausbeuter bezeichnet. Strafen werden verharmlost und für zu milde befunden, Richter seien zu nachsichtig und urteilten nicht im Namen des Volkes. Die Todesstrafe wird zwar nicht gefordert, wird aber als rhetorisches Mittel toleriert - hierzu geht man auch immer wieder Bündnisse mit Rechtsradikalen ein. Die Lobbyisten, die das verbreiten, entstammen dem Boulevard oder der seichten Kunst. Til Schweiger kann hier als Beispiel gelten. Es ist eine Industrie, die Panik erzeugt, denn davon lebt sie. Und nebenber produziert sie an ihren Fließbändern gute und rechtsschaffene Menschen, nicht aber Aufklärung und Informiertheit.

Berichtet man von Missbrauch, ist ein Einspieler zum Gewaltpotenzial von Männern nicht weit

Es wirkt unübersichtlich, wenn hier bislang zwischen sexuellen Übergriffen an Kindern und Gewalt gegen Frauen kaum unterschieden wurde. Doch das ist programmatisch von der Lobby übernommen. Immer dann, wenn von Missbrauchsfällen berichtet wird, ist ein Schwenk zum generellen Gewaltpotenzial von Männern unabdingbar, eine Wendung zur häuslichen Gewalt von Männern gegen Frauen angesagt. Beides scheint im Weltbild dieser Lobbygruppen eine Einheit abzugeben. Der sexuelle Übergriff ist ein Akt der Gewaltverherrlichung und eine Machtdemonstration - eine stereotyp männliche Domäne. Der Schwenk zum Gewaltpotenzial ist die Generalisierung des Problems. Nicht einige wenige missbrauchen, nötigen oder schlagen, es ist ein Problem, das in jedem Mann schlummert und ausbrechen kann. Kinder und Frauen leben auf Pulverfässern, mit Zeitbomben zusammen, die von der Evolution auf Gewalt konditioniert wurden. Kulturelle Evolutionsprozesse existieren in dieser Verbohrtheit nicht; das menschliche Miteinander ist bloß ein naturalistisches Schauspiel, der Mensch quasi willenlos, durch Zivilisation nicht domestiziert, sondern immer noch mit den Affekten aus Höhlentagen behaftet.

Es gibt keine Unterscheidung bei Bertelsmann und Springer. Dem Bericht über die Zerstückelung einer Ehefrau folgte neulich das genannte Studienergebnis, wonach ein Drittel aller Frauen schon mal Männergewalt ertragen mussten. Bestialischer Mord und häusliche Gewalt werden vermengt, als ob jedes Ziel häuslicher Gewalt, die es natürlich geschlechtsübergreifend gibt, die Tötung des Partners beinhaltet. Wenn Partner Partner schlagen, geschieht das nicht mit der Absicht, den anderen zu töten - es ist eher Hilflosigkeit, kommunikative Beschränktheit, Jähzorn. Nachdem man über die Zustände in einem Dorf berichtete, in dem zwei ehemalige Häftlinge leben, die aufgrund eines Sexualdeliktes jahrelang hinter Gittern verschwanden, kam erneut dieselbe Studie ins Gespräch. Womöglich glaubt ein Teil der Besorgnis-Industrie, mit der Kultivierung männlicher Domänen, die aber nicht mehr als Klischee sind, könne man das Problem endgültig bannen.

Feindbild, nicht Patient oder Hilfebedürftiger

Lösungsansatz des industrialisierten Sichsorgens ist stets das Brachiale: Höhere Strafen, Kastrationsphantasien, ewiges Wegschließen. So geht man nicht mit gesellschaftlichen Problemen um - dies kommt eher einer Sonderbehandlung von Feindbildern gleich. Die Öffentlichkeit müsste eher dafür sensibilisiert werden, dass es auch für denjenigen, der merkt, dass er sexuelle Vorlieben entwickelt hat, die sich mit den gesellschaftlichen Konventionen und vielleicht gar mit der Menschenwürde nicht vereinbar sind, ein schweres Los ist, mit diesem Schandmal zu leben. Verständnis und Hilfe a priori - nicht Moral und Urteil hernach! Das erleichterte den Umgang der Betroffenen mit ihrem Problem erheblich, würde sie therapieoffener machen, transparenter mit ihrer sexuellen Entwicklung umgehen lassen. Nicht alle natürlich, aber doch viele. Vielleicht könnte so schon vorab vereitelt werden, was die Lobby jetzt hinterher schwer bestraft sehen will. Wenn der Pädophile sich nicht verschanzt, seine sexuelle Neigung daher unterdrücken muss, bis es nicht mehr geht, sondern sich offen Hilfe suchen kann, ohne dafür von seinem Umfeld gleich verurteilt zu werden, dann mag manches Leid an Kindern und Jugendlichen verhinderbar sein. Höhere Strafen schrecken vor nichts ab. Wie der Raubmord trotz Todesstrafe in den Vereinigten Staaten weiterhin floriert, so verhindern auch längere Haftstrafen nicht Sexualstraftaten - das Drakonische ist stets Nachreaktion, verhindert werden kann jedoch nur vorher, indem man Ursachen, Wurzeln und Antriebe kennt, aufspürt und bearbeitet.

Der Diskurs muss verstehen, dass es zwar ein Täter-Opfer-Verhältnis gibt nach so einer Tat, dass innerhalb dieses Geflechts ein Strang aber auch als ein Opfer-Opfer-Diskurs geführt werden muss. Der Missbraucher ist Täter in diesem Moment, aber er ist es, weil er auch Opfer ist oder war. Täter werden nie als Täter geboren - sie werden dazu gemacht. Wegen ihrer Biographie, die sie möglicherweise dazu werden ließ - ihrer inneren Konstitution wegen, die vielleicht günstig lag, bei entsprechender soziologischer Grundlage, auch bestimmte Sexualvorlieben zu entwickeln, bestimmte Machtkonstellationen zu forcieren, die mit den gesellschaftlichen Vorstellungen von Sexualität und Gewalt nicht deckungsgleich sind - und sie sind Opfer einer Gesellschaft, die dieses Problem nicht verständig angehen will, sondern zelotenhaft jedes Anzeichen dieses Problems als Teufelei und als unverzeihlich deklariert. Das geht so weit, dass man Ansätze, die für ein Verständnis des Problems plädieren, tabuisiert und als Gemeinheit an den Opfers diskreditiert, sogar als gutmenschliche Beihilfe zur Sexualstraftat herabmindert.

Hinwirkung auf den drakonischen Rechtsstaat

Die Beteuerungen, der amtierende Rechtsstaat sei zu lasch, erinnern an jene Polemiken, die einst das rechte Spektrum der Weimarer Republik verbreitete. Die Demokratie war für jene nur eine Plauderstunde, die zu nichts führe - Preis für diese geselligen und unergiebigen Runden sei, dass die innere Ordnung zerrütte, dass man Verbrecher zu zaghaft behandle und überhaupt gefühlsduselig und übermenschelt sei. Die Forderungen der Lobby und diverser Politiker, die sich von ihr einlullen lassen, klingen heute ganz ähnlich. Sie verbreiten Ansichten, wonach der Rechtsstaat von heute eine Teestunde für Sexualstraftäter darstelle - langjährige Haftstrafen werden nur als zu kurz zur Kenntnis genommen; Sicherheitsverwahrung als Luxushaft. Sie sinnen auf Rache, nicht auf Sühne durch rechtsstaatlich konzipiertes Strafmaß. Bei vielen kommt gar die Todesstrafe als legitimes Mittel zur Selbstverteidigung ins Spiel. Und es überrascht gar nicht, dass mancher aufgebrachte Mob sich mit den ansässigen Ortsverbänden der NPD zusammentut, um gegen anwohnende Ex-Häftlinge mit Sexualstrafvergangenheit aufzumarschieren.

Es ist insofern nicht ausschließlich der drakonische Rechtsstaat, wenn es dergleichen überhaupt geben kann, das gelobte Land - es ist ein Generalangriff auf das demokratische Selbstverständnis. Die Aussetzung von Bürger- und Menschenrechten scheint recht und billig bei aufgrund Sexualstraftat straffällig gewordenen Menschen - dass dies auch auf andere Straftaten ausstrahlte, darf angenommen werden. Man fordert körperliche Eingriffe, Verweigerung des Anspruchs auf Resozialisierung, Angriffe auf Leben - und man fordert etwas vage auch Eingriffe in die Leben aller, wenn man Überwachungsmechanismen bejaht, die vor einem solchen Verbrechen schützen sollen. Es zeigt sich, dass Betroffenheit und Besorgnis, emotional aufgeladen durch eine Industrie, die sich selbst medial erhalten will, in savanarolaschen Eifer münden kann, in einer Diktatur der Ehrbaren und Anständigen, in Gesinnungsdrangsal. Bertelsmann und Springer unterstützen diese Industrie und Lobby, weil die Absichten zur Schwächung der Demokratie zu ihrer Leitlinie gehört. Sie ist es gar nicht, weil sie Antidemokraten wären, sondern weil sie glauben, dass weniger Demokratie zu einer Stärkung derselbigen führte. Zu einer Demokratie, wie sie sie sich vorstellen. Wenn jeder beispielsweise weniger Privatrechte hätte, dann hätte die Allgemeinheit mehr Sicherheit, was man irrtümlicherweise als demokratisches Gut definiert. Diese Kombination aus Überwachungsmentalität und apriorischem Misstrauen und aposteriorisches Rachegefühl ist es, was dort als "wehrhafte Demokratie" verstanden wird. Und dieses Verständnis von Zusammenleben war es, was damals in ganz Europa zu faschistischen Ausbünden führte.



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Vor der Zäsur

Donnerstag, 28. Juni 2012

Noch einige Augenblicke bis zur Zeitenwende in Deutschland und Europa, nur noch einige Stunden. Noch nicht ganz; noch ist Hoffnung. Und die schielt auf das Bundesverfassungsgericht. Das wird sodann einige Spitzfindigkeiten anbringen, drei bis fünf Ungereimtheiten beanstanden und folglich nur noch zusehen, wie die Abwicklung des politischen Gestaltungsrahmens geformt, wie dieser erlischt und radikal versachzwangt wird. Ratifiziert wird die Übernahme der nationalen Souveräntitäten in Europa durch die Brüsseler Exekutive in einigen Wimpernschlägen dennoch sein - fehlt nur noch die Unterschrift des Bundespräsidenten. Auf dessen Weigerung kann man in etwa so hoffen, wie auf die belebende Wirkung eines Aderlasses.

Die Linke, diese angeblich einzige antidemokratische Partei im Parlament, versucht kurioserweise das zu retten, was wir noch Demokratie nannten, weil uns der Präfix Post- irgendwie immer nicht einfiel. Der Dank hierfür wird sein, dass sich Die Linke noch mehr isoliert, dass man sie zu den Bestattern des europäischen Gedankens erklärt und als Spielverderber anschwärzt. Was für Zeiten! Da prescht die Reaktion progressiv voran, da wird der Ständestaat mit ganz neuen kontinentalen Mitteln aufgefrischt - und soziale, ausgleichende Politik führt, obwohl benötigt, obwohl sie Konjunktur haben müsste, nur auf das Abstellgleis der öffentlichen Wahrnehmung und Akzeptanz. Die Linke bekommt hin und wieder zu hören, sie wolle nur Macht und ginge dafür den populistischen Weg - wollte und täte sie ausschließlich dies, hätte sie lediglich dieser Sehr Großen Koalition beitreten müssen, die den ESM zu ratifizieren verspricht.

Was hat man nicht alles gelesen, nachdem Krisen den Kontinent einhüllten, diese vielen kleineren Krisenherde, die von der Strukturkrise des Systems ablenken sollten. Frohnaturen und Schwärmer meinten zuversichtlich, nun sei das Schlimmste überwunden, nun sei diese Politik, die nur noch Wirtschaftspolitik sein wollte, sei der neoliberale Kurs endgültig diskreditiert genug, um auf der Schutthalde der Geschichte zu landen. Tja! Heute wissen wir höchstoffiziell, dass es dieser Neoliberalismus gar nicht war, der das Kriseln machte, es war eher das Zuwenig davon. Daher musste man ihn bestärken, auf dass er bestimmter, entschiedener praktiziert würde - er sollte fast sowas wie Verfassungsrang haben. Und in einigen Stunden wird das auch so beschlossen sein. Zweidrittel des Bundestages verfügen dies dann für Deutschland - und für den Rest Europas, wenn man schon mal zusammensitzt und darüber spricht. Gut, gesprochen wurde darüber nicht, die Regierung malte die Alternativlosigkeit an die Tafel und erzählte Schauermärchen, wie es würde, wenn es nicht so würde, wie sie es gerne sähe.

Diese Alternativlosigkeit ist bald nicht mehr nur Gebärde, sie ist dann offizielles Programm Europas. There is no alternative! ist die neue Präambel. Der Eingriff der Brüsseler Exekutive entzieht dem Parlament Entscheidungsbefugnis, drängt zu neoliberalen Strukturreformen und stellt Sozialpolitik hinten an. Wir können unseren Enkeln in vielen Jahren erzählen, dass wir sowas wie Sozialpolitik erlebt haben, dass wir Gesetze gekannt haben, die als Ziel die Partizipation aller Bürger angaben - Sozialismus... Opa, du hast im Sozialismus gelebt?, wird der Grünschnabel fragen - er wird in der stark unterfinanzierten Schule, deren Lehrpläne freundlicherweise für wenig Geld die Familie Mohn schreibt, davon gehört haben; und er wird davon gehört haben, dass der mutige Beschluss zur ESM Europa vor dem lauernden Sozialismus und seiner widernatürlichen Gleichmacherei bewahrt hat. Wir werden bestenfalls unserem Enkel davon erzählen können, die in Aussicht gestellte längere, immer noch längere und noch längere Lebenserwartung, die uns mit Urenkeln bekannt machen würde, ist erstmal verschoben. Der Bundestag wird ab und an die gesundheitliche Versorgung ausbauen wollen, nur wäre das eine Mehrbelastung im Staatshaushalt, da macht Brüssel nicht mit und verbietet es. Solche Schauermärchen hat die Regierung bislang vergessen zu erzählen...

Neoliberalismus als Verfassungsauftrag - das hätte doch keiner geglaubt vor einigen Jahren! Man hat immer wieder Ansätze davon gesehen: bei der EU-Verfassung, beim Vertrag von Lissabon - aber dass es mal so unvermittelt, so direkt und schroff geschieht, das war nur die Überspitzung diverser Publizisten, die auf diese gefährliche Richtung aufmerksam machen wollten. Das war doch nur ein dramatischer Kniff! Die Krise hätte den Neoliberalismus schrumpfen sollen - aber er ist geadelt worden. Er nennt sich nun konstitutioneller Liberalismus, Monarch qua Verfassung - der außerdem auf Gottesgnadentum fußt: Du sollst neben mir keine anderen Götter haben! Hätte Jahwe seinem Mose heutigentags die Leviten, also die Gebote gelesen, so würde dieses ersten Gebot wohl lauten: Ich bin der Alternativlose!

Nie wieder neoliberale Reformen, nie wieder Privatisierungswahn, nie wieder Wettbewerbsdruck im Gesundheitswesen oder bei der Versorgung von Senioren beispielsweise, nie wieder effizientes Bildungswesen zur reinen Berufsvorbereitung statt humanistisches Bildungsideal und Vermittlung von Allgemeinwissen, nie wieder Markt im Sozialwesen, nie wieder ein Primat des Spekulativen vor dem Realen - das hoffte man, glaubte man zum Greifen nahe. Eine historische Chance schien sich zu eröffnen. Das ist eine Zäsur, eine große Wende!, jubelten manche - endlich käme es anders, wieder auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnittener. Diese Zäsur ist nun ganz anders da, die Zeitenwende lauert anders als optimistisch gedacht in Startlöchern, wartet nur noch auf die Unterschrift des Bundespräsidenten, der wiederum nur auf die Einwilligung des Bundesverfassungsgerichts wartet. Leider wird das kein beckettsches, kein unaufhörliches Warten sein - dann hat es sich ausgewartet und die Zäsur ist endlich vollzogen.

Vielleicht arrangiert man dann doch noch einen Volksentscheid. Nicht aus Verantwortungsgefühl heraus, nicht weil man sich schämt, über den Kopf derer, die man politisch entmündigt, Entscheidungen zu fällen - nein, ganz kalkulativ. Man muss sich schon verdammt sicher sein, die Medienlandschaft in der Tasche zu haben, um glauben zu können, aus einem Volksentscheid legitimiert herauszugehen. Über die Medien fällt oder erwächst die Übernahme der nationalen Souveränitäten - wir sind bis hierher überhaupt gekommen, weil die Medien derart unkritisch berichteten. Wenn sie nun beginnen, ein mögliches Nein bei einem Volksentscheid als Untergang Europas zu zeichnen, als Niedergang des Wohlstandes und als metaphorisches Einfalltor für leistungsstarke Chinesen und leistungsschleicherische Afrikaner oder Araber, dann wirken sie aktiv mit am neuen Europa. So weit sind wir gekommen! Die Putschisten fordern Volksentscheide, weil sie ganz genau wissen, wie die Medien ihnen zuspielen. Und am Ende waren wir es, die es legitimiert haben - jammert nicht, ihr wolltet es doch!

Ach, und falls der Volksentscheid scheitert, machen wir es eben irisch - dann befragen wir in einigen Monaten nochmals das Volk - und nochmals - und nochmals... irgendwann ist es müde genug, um Ja zu sagen. Infantile Taktik! Kinder quengeln und bearbeiten ihre Eltern solange, bis die Ja zu PlayStation und Wuschelhund sagen. Belästigen, nerven, bearbeiten - dieser kindische Terror nennt sich dann Politik im Namen des Volkes.

Ironie ist vorallem, dass man diese Augenblicke bis zur Ratifizierung nochmal als Teil einer Freiheit genießt, die sich dieses Europa nach dem Krieg stückchenweise erarbeitet hat - dabei ist diese Freiheit schon lange beschnitten und zersetzt. Aber man tut so, als sei das Jetzt noch lebenswert und das Dann nicht mehr. Das adelt das Jetzt, hübscht es unberechtigterweise auf. Schon heute ist die Freiheit des Parlamentes relativ. Sie ist erstickt im Lobbyismus, erstickt von einer ökonomischen Lehre, die sich Selbstzweck ist und keinerlei ethische Inspiration kennt, erstickt in obskuren Machtverhältnissen, die sich in Parolen wie Der Markt glaubt..., Der Markt fordert..., Der Markt reagiert... niederschlagen. Schon jetzt ist dieser Markt der Okkupator des Parlaments - dort ist er so selbstherrlich, dass er sogar schon im pluralis majestatis auftritt, als Die Märkte. Wir geben kein Eldorado auf - im Grunde war Opposition gegen diesen neoliberalen Zeitgeist in den letzten Jahrzehnten nicht mehr, als das wenige Erhaltenswerte, das es noch gab, zu sichern und dabei zuzusehen, wie diese Sicherung scheiterte. Vielleicht war das auch, ohne es in Schutz nehmen zu wollen, das Motiv hinter dem pseudosozialdemokratischen New Labour: Erhalten, was zu retten ist. Aber man rettete von zehn immer nur zwei Sujets - und das auch nur für eine kurze Atempause. Nun treten wir in eine neue Zeit ein und weinen dem Davor nach, obwohl das auch schon marode war - wir wollen abermals nur erhalten. Man war als Opposition so mit dem octopus neoliberalis beschäftigt, mit diesem Kampf gegen Fangarme, die den Aufbruch und Abbau von sozialen Errungenschaften, Traditionen, Lebensgefühlen, Ruheräumen und Entschleunigungen markierte, dass für die Definition eines anderen Weges kaum Zeit blieb. Und definiert man ihn doch, so endet man wie Die Linke - denn alles was heute geschieht ist alternativlos. Wer etwas anderes erzählt, der muss geradezu lügen.

Nochmal durchatmen, noch ist die Zäsur nicht ganz vollzogen. Nochmal Luft einsaugen in dieser anderen Welt, in der es theoretisch noch die Alternative zur Alternativlosigkeit gab. Die Luft schmeckt nachher nicht anders als heute - aber sie wird für einen großen Teil der Menschen das einzige sein, was man sich noch leisten kann. Partizipation unter dem ökonomischen Einfluss des Brüsseler Exekutive heißt, teilzuhaben an Luft und Liebe - denn die fallen nicht in den Bereich der Schuldenbremse.



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Ridendo dicere verum

Mittwoch, 27. Juni 2012

"Noch heißt es nur, dass das Prekariat verantwortungslos sei, Kinder bekomme, die wir uns nicht leisten könnten als Gesellschaft. Dabei könnten wir sie uns leisten, wenn wir denn wollten. Wir könnten es uns sogar leisten, sie gut zu bilden, sie teilhaben zu lassen am sozialen und kulturellen Wohlstand. Könnten wir! Wollen wir nur nicht! Man will keine Ahmeds oder Kevins, will keine Kinder von unten oder von sonstwoher - man will Rüdiger-Pascals, die irgendwann mal beruflich als Vermögensverwalter ihres Erbes fungieren. Daher werden Gummis verteilt und Pillen gereicht, damit den gewollten Kindern dieser Gesellschaft ein wohliges Leben beschert ist; ein Leben, in dem sie die Armut der anderen nicht mehr finanzieren müssen; ein Leben als erwünschte Kinder, als erwünschte Jugendliche, als erwünschte Erwachsene - das Wunschkind elitärer Absichten eben: das Herrenmenschentum!"
- Roberto J. De Lapuente, "Auf die faule Haut: Skizzen & Essays" -

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Tore für ihr Europa

Dienstag, 26. Juni 2012

oder: Merkel hofft auf ESM-Sieg von Löws Truppe - und die stützt der Kanzlerin EM-Vorhaben. Oder war es andersherum? Eine Unterscheidung scheint bald stündlich schwerer...

Dass die Politik die Nähe des Sports sucht, ist weder neu noch besonders originell. Wie sie die Kanzlerin allerdings sucht, diese Nähe, das hat es vormals in Deutschland noch nicht gegeben. Noch nie zuvor benutzte die politische Richtlinienkompetenz dieses Landes so kalkuliert den Tribünenplatz oder den Zugang zum Entmüdungsbecken. Wie darauf die Fußball-Nationalmannschaft reagiert, das dürfte hingegen auch so ein Fanal sein. Nie zuvor scheint eine nationale Auswahl so ehrerbietig mit der Ausbeutung ihres Sports zu politischen Zwecken umgegangen zu sein - kein Nationaltrainer vor Löw katzbuckelte je so ungeniert devot vor einem Kanzler.

Man kann nicht erwarten, dass sich eine Fußball-Nationalmannschaft gegen diese Vereinnahmung zur Wehr setzt. Sie ist ja keine Meute junger politisierter Menschen, die mit Eloquenz auftritt, um sich gegen das Establishment aufzulehnen. Sie ist, nachdem sie einst ein Haufen war, der der Fußlümmelei nachging, selbst Establishment geworden. Ob man aber so weit gehen muß wie Löw und seine Spieler, ist doch mehr als fraglich. Ist es denn wirklich nötig, dass Löw vor versammelter Journalistenriege der Kanzlerin Arbeit lobt? Kommt sich ein Khedira nicht belämmert vor, wenn er in Blöcke hineinnotieren läßt, dass die Nationalelf geschlossen Fan von Merkel sei? Muss denn jeder Spieler, der von der PR-Abteilung des DFB ins Rampenlicht geschickt wird, ein anerkennendes, ein lobendes Wort für Merkel auf den Lippen tragen? Ist diese anheimelnde Nähe denn notwendig?

Politik missbraucht Sport - das ist schon wahr. Aber im aktuellen Falle der Nationalelf ist es so, dass sie sich genussvoll missbrauchen läßt, sich zum nützlichen und willigen Idioten macht, an der Blendwerkmaschinerie mitpedaliert, die ein breiter Teil der Medien in Schwung geworfen hat. Die DFB-Auswahl äußert sich freilich nicht inhaltlich zur Politik Merkels, sie zeigt einfach nur Sympathie und schmust dezent mit ihr. Gesunden Abstand hält sie keinen - dafür fühlt man sich zu geschmeichelt und geliebt. Man ist schließlich Fan von ihr - ohne sich je politisch zu äußern. Das indoktriniert natürlich die Anhängerschaft, die diese Nähe nicht unangebracht oder zumindest peinlich findet, sondern ganz normal und auch schön, denn so steht doch das Land einig zusammen in der Stunde sportlicher Ausnahmezustände.

Dabei ist dieser Ausnahmezustand ein Zustand, der den wirklichen Ausnahmezustand kaschiert. Während ein Putsch im Gange ist, der Europas Demokratien entkräftet und Parlamente künftig von der Entscheidungsbefugnis abhält, weil das Haushaltsrecht im Orkus überstaatlicher Verbürokratisierung verschwinden soll; während in Verfassungen einzubauende Schuldenbremsen den gestalterischen Handlungsspielraum einengen und den Sozialstaat als primäres Einsparpotenzial brandmarken; während Sparprogramme für Hungerleider fiskalpaktierend verbindlich werden und Zuwiderhandlung legitim abgestraft werden kann - während also der Ausnahmezustand zu einem Dauerzustand werden soll, angetrieben von Merkel und ihren Einflüsterern, bezeugen junge Männer, bezeugt eine offizielle Auswahl des Landes, Sympathie für diese Frau - outen sich die DFB-Kicker fröhlich als Merkels Fans.

Von was genau sind sie denn Fan? Vom Sparen? Vom Umsturz, der von oben herab geplant und bewerkstelligt wird? Von den offenbaren Problemen, die diese Frau mit der Demokratie zu haben scheint? Von der Hegemonie, die sie hängender Backens anstrebt? Was genau ist bitte der Grund, sich zum Fan dieser Frau zu machen? Es interessiert nicht, welcher Verteidiger des DFB mit einem leichten Mädchen kopuliert - es spielt aber eine erhebliche Rolle, weshalb man mit der Politik Merkels so unkritisch beischläft.

Wer sich so benimmt, ist nicht das Opfer von Politik - er ist Täter. Bei fiktiven Entmerkelisierungsprozessen nach ihrer Zeit würden sie sicherlich als Mitläufer eingestuft. Sie geben dieser politischen Konzeption, diesem Europa von Konzernen und Banken, eine elanvolle Note, lotsen den politisch unbedarften Teil ihrer Anhänger in die Arme Merkels. Löws Mannschaft kickt nicht für Deutschland, sondern für ein Europa nach Merkels Kriterien. Sie strebt nicht den Pokal an, sondern den Fiskalpakt mit all seinen Demokratieantipathien. Sie schießen nicht Tore zum Sieg, sondern schießt auf demokratische Strukturen und auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. So ist nicht die Auswahl des DFB, sondern nicht weniger als der Auswurf des ESM.

Ein Wort zur UEFA noch. Sie liefert ja die Bilder. Man mokierte sich kürzlich darüber, dass eine Szene Löws während des Spiels hineingeschnitten war. Die Szenen aber, bei denen Merkel jubelnd oder fiebernd zu betrachten war, waren live, waren nicht eingebaut. Und es waren nicht wenige Szenen. Man erinnere sich, als der DFB 1990 im Finale der Weltmeisterschaft stand, da besuchte Helmut Kohl das Stadion in Rom. Man sah ihn gleichwohl vor dem Spiel, kurzes Statement eines Reporters dazu - das war es auch schon! Gesehen wurde er erst wieder bei der Pokalübergabe - dort aber als Statist, klatschend und zurückhaltend. Jubelszenen während des Spiels waren nicht zu sehen, kein Mitzittern, keine entstellte Miene beim Gewahrwerden einer gescheiterten Chance. Weshalb widmet die UEFA dieser Frau diese vehemente Aufmerksamkeit? Ist die EM eine Unterorganisation des ESM? Merkel derart weichzuspülen, sie dauerhaft als Jubelkanzlerin zu stilisieren: dass ist schon schier als Werbespot für ihren Fiskalpakt einzustufen? Nie zuvor biederte sich der europäische Fußballverband so hemmungslos an die europäische Politik an, wie es dieser Tage geschieht. Das ist der eigentliche Skandal um die Bilder, die die UEFA in die Wohnzimmer strahlt - nicht die Neckerei Löws mit einem Balljungen, die so nicht stattfand. Und nicht dessen Spaß mit diesem Jungen ist zu unterstreichen, sondern sein neckisches Treiben mit der Kanzlerin wäre eine Schlagzeile wert. Merkels Fiskalpakt-Politik wird mit ihrem Gejubel von der UEFA in die Totale genommen, wird mit einem Sie-ist-eine-von-uns-Streich flankiert und gestützt; Merkels Fiskalpakt-Politik in der Totale scheint total...

Eine so eklatante Nähe des Fußballs zur Politik gab es hierzulande vermutlich seit "damals" nicht mehr. Es ist das Wesen totalitärer Politik, jede Nische des alltäglichen Lebens zu erobern, um die eigenen Denkmuster, Ziele und ideologischen Konzepte in den Köpfen der Menschen zu verfestigen. Im politischen Totalitarismus leben wir nicht, nur der Profitismus ist das Totale - dennoch ist diese Verpflanzung des Politischen ins Sportliche ein Akt, der an totalitäre Epochen erinnert. Es gab in jener damaligen Zeit viele Schreibtischtäter - weniger Rasentäter, weil der Fußball nicht den medialen Stellenwert hatte, den er heute hat. Von Rasentretern scheint man sich nun gar zu Rasentätern zu modifizieren - Rasenmittäter! Löws Mannschaft ist nicht einfach nur naiv, nicht bloß nett zu einer Frau, die sie regelmäßig besucht - sie macht sich zum Teil jener Täterschaft, die sich großkotzig als gewissenhafte Politik bezeichnet. Bislang haben große Turniere vom politischen Geschehen abgelenkt - die Nationalelf heute wirkt aber nicht nur auf dem Rasen ablenkend, sondern verschafft der Kanzlerin auch noch ein Alibi. Das ist nicht arglos - das ist Mittäterschaft!



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Unser Erich heißt Angela

Montag, 25. Juni 2012

Die Welt dreht sich um unsere eiserne Kanzlerin!, stand über dem Zeitungsartikel. Und ein Nationalspieler zeigte sich erfreut darüber, dass diese Frau aus Eisen zur Viertelfinalpaarung nach Danzig käme, was den Artikel mit der Überschrift "Sie gibt uns ein gutes Gefühl!" krönte. Außerdem, mal quergelesen: Die Kanzlerin allein gegen alle! oder Die Kanzlerin ist die Stimme der ökonomischen Vernunft! oder Die Kanzlerin bleibt standhaft! oder Merkel eisern; alle gegen Merkel! oder Merkel gegen den Rest der Welt! oder Begeisterter Applaus für Klartext-Rede! Ein hübsches Potpourri an Kitsch, Schmiere und Schmalz. Lobgesänge, die auch aus dem DFB-Lager kommen; Löw schwäbelte vor sich hin, dass er sich über jeden Besuch freue, er sich aber nicht reinreden lasse in seine Aufstellung, ihr aber auch nicht reinrede in ihre Politik. Jeder tut, was er am besten könne. Die Kanzlerin und Fußball ist überhaupt so ein Thema, auch dazu hymnische Journalisten-Prosa: Der Mensch kommt zum Vorschein!

Ausladende Beschönigungen, schnulzige Parolen zur Kampfmoral, schwülstige Durchhalterhetorik und manierierte Darstellungen. Die letzte Kämpferin, die die Krise seriös in den Griff bekommen wolle, liest man da. Alle sind unanständig, nur Merkel und ihre Entourage nicht. Der Genosse Honecker zeigte sich kämpferisch und unermüdlich in seinem Einsatz für den Sozialismus!, las man früher fuori le mura. So schmierig, so schmalzig, so kitschig war nicht mal der Lobgesang auf den lallenden Genossen - pathetisch ja, weihevoll ja, salbungsbetont auch. Aber so überladen?

Honeckeriaden auf diesen Erich, der nun Angela heißt, allerorten, gleichwohl sie Demokratien totspart und aushebelt, sie sich für Deutschland eine Rolle als Hegemon Europas ausgedacht hat. Sie manövriert dieses Land in isolationistische Verhältnisse, macht es anrüchig und politisch dubios. Einem Präsidenten kostete die geistig-moralische Nähe zu ihr und ihrem Europa-Entwurf schon das Amt. Tirpitzianisch geht sie ans Werk. Wilhelminisch säbelrasselt sie. Ihre Großspurigkeit verbirgt sie hinter Understatement - hinter dem, das man ihr andichtet. Auch Ulbricht war bodenständig und turnte bekanntlich mit den Werkstätigen - kann aber nicht oft passiert sein, denn er blieb beleibt wie eh und je. In und für die Medien turnte er gewiss oft...

Dieser weibliche Honecker der BRD, den sie uns täglich zeigen, er ist die Farce vormaliger Tragödien. Wie damals, als sie ihr Vierzigjähriges feierten, als sie beteuerten, weder Ochs noch Esel würden sie aufhalten, gleichwohl synchron die Menschen die Straßen mit Unzufriedenheit füllten. Immer schriller wurde die Beschönigung. Geschichte wiederholt sich gelegentlich potenziert ins Lächerliche, wird zur Farce, was mal Tragödie war. Dann schenkt uns die Kanzlerin einen EM-Sieg oder sie macht Wasser zu Wein oder wandelt über selbiges. Kranke gesund zu machen schafft sie derzeit nicht, stattdessen macht sie aber Gesunde krank und Lebenslustige suizidal - Selbstmordraten erklimmen sparpolitisch motiviert Rekordhöhen in Hellas. Sie ist unfehlbar, korrekt, kämpferisch und siegesgewiss. Die Merkel in ihrem Lauf und so weiter. Ochs und Esel halten auch nicht ihren Bundespräsidenten auf, der ja anfangs nicht ihrer war, der aber ganz gut zu ihr passt. Pazifismus ist Glückssucht - das sind Losungen wie Sparen ist Investieren! oder Wenn alle weniger haben, haben alle mehr!

Ein fades orwellianisches Zweigestirn ist das... und beide in Honeckeriaden vereint, die eine kämpft wie Erich für den Sozialismus, der andere turnt wie Spitzbart mit den Werktätigen. In der DDR kamen diese beiden Gestalten, Honecker und Ulbricht, zeitlich hintereinander - es war halt eine Mangelgesellschaft, man konnte sich nicht alles gleichzeitig leisten. Die Bundesrepublik hat immer noch Überfluss und leistet sich solche Geschöpfe zeitgleich...



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Einigkeit und Sieg und Geilheit!

Freitag, 22. Juni 2012

Jetzt müssen doch alle zusammenhalten. Alle zusammenstehen. Alle zusammenrücken. Wir sind doch eins. Stehen geschlossen, stehen gemeinschaftlich hinter den Gittern, die uns vom Fußballplatz sondern. Auf Plätzen, in Kneipen, in Gärten. Alle fixiert auf Eintracht, Gleichklang, Harmonie. Neunzig Minuten Einhelligkeit - und dann vielleicht nochmal neunzig Minuten - und abermals neunzig Minuten süßes Miteinander. Und letztlich vielleicht weitere Tage siegestrunkener Frieden, selige Brüderlichkeit, euphorische Schwesterlichkeit.

Der Arbeitslose und sein Fallmanager fordern vereint Eckball.
Der sich von den Alten ausgebeutet wähnende Junge und der von den Jungen als zu teuer bezeichnete Alte brüllen simultan Das war Einwurf, blinder Sack!
Der Neonazi und der abgeklärte Demokrat kooperieren im Jubel.

Wir stehen zusammen, kennen keine Parteien mehr, nur noch das Kollektiv. Einigkeit und Sieg und Geilheit für das einig Fußball-Schland! Eine geile Zeit! Das Volk, sonst zerrissen, zerstritten, partikularinteressiert, plötzlich ein pauschalisierter Klumpen. Am einen Ende des Seils ziehend, auf derselben Seite zerrend. Zugleich! Zugleich! Individualinteressen, Selbstzwecke, Eigennützlichkeiten addiert zu dem einen einzigen Interesse. Neunzig Minuten und darüber hinaus - bis dass das Schlusspfiff uns scheidet, keine Unterschiede mehr. Der große Gleichmacher! Oh utopischer Fußball, du egalitärer Rasensozialismus! In dem alle gleich sind, unterschiedslos, analog.

Vergessen die Diskrepanzen zwischen Mitgliedern der FDP und den Mitgliedern von Die Linke.
Aufgehoben das Gefälle zwischen Ackermännigkeit und Armut.
Abgepfiffen die Divergenz zwischen Springer-Konsument und documenta-Besucher.

Alle zusammen hoffend. Hoffen auf das erlösende Tor. Hoffen auf den Schlusspfiff. Hoffen darauf, dass nach dem letzten Schlusspfiff des Turniers ein Pokal dem Nachthimmel entgegengereckt wird. Dann hoffentlich Tage voller Euphorie; Suff für alle. Dann gibt es keine Parteien mehr, nur noch Rausch. Bis dahin: gemeinsam fluchen, schimpfen, mit Fäusten drohen; bis es soweit ist: miteinander jubeln, singen, tanzen; bis zur Aprés-Fußball-Ekstase, -Delirium, -Bierseligkeit: gemeinsames Fiebern, gemeinsame Tränen, gemeinsames Verständnis für die Affekte des Mitfans.

Der Leiharbeiter fällt seinem Leiharbeitgeber um den Hals, nachdem der Ball die Torlinie passierte.
Ausgebeuteter wie Ausbeuter beweinen harmonisch ein Gegentor.
Sparwütiger Kunde und der dieser Sparwut wegen im Minijob zurückgestufte Verkäufer singen einträchtig Olé, olé!

Und dann pfeift der Schiedsrichter ein letztes Mal. Und dann ist der Rathausbalkon leer, der Rathausplatz verwaist, nur Fähnchen liegen noch herum. Party vorbei. Keine Spiele mehr, keinerlei Berichte über Mittagstisch und Schlafbefinden der Elf. Niemand berichtet mehr im feierlichen Ton und mit würdiger Miene von den Fürzen, die bestimmten Spielern quersitzen. Fürze, die die nationale Harmonie begründeten; Spielerstuhlgänge, die Einigkeit und Sieg und Geilheit! ausmachten - alles passé, alles vorbei. Die hübsche Symmetrie aufgelöst ins Nichts. Kein Arm in Arm mehr, kein Geschunkel. Der Wohlklang erledigt. Es war ne geile Zeit!

Dann drangsaliert der Personaldienstleister wieder seinen verliehenen Arbeitnehmer, der Kunde wieder den minijobbenden Regaleinräumer.
Dann verachtet Die Linke wieder die Freien Marktliberalen und das Ackermännische das Hartzische.
Dann beklagt sich abermals die Jugend über das kostenintensive Alter und der aufrechte Antifaschist mosert über den Neonazi, während er Deutschland schafft sich ab! als das Buch des letzten Jahrzehnts rühmt.

Dann ist wieder alles, wie es immer war - der Ausnahmezustand bestätigt nur den Regelzustand.



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Nomen non est omen

Heute: Sozialromatik

Ein Gastbeitrag von Markus Vollack.
"Hollande ist beileibe nicht der ausgabenfreudige Sozialstaatsromantiker, als den ihn die Strippenzieher des Kanzleramts im französischen Wahlkampf dargestellt hatten."
- Zeit Online vom 30. Mai 2012-
In der öffentlichen Begriffsverwendung gibt es die Bezeichnungen des Sozialromantikers, der Sozialromantik, des Sozialstaatsromantikers, und der sozialromantischen Vorstellungen. Die Begriffe sind negativ besetzt. Damit werden vor allem Vorschläge, des Sozialstaates betreffend, als realpolitisch und pragmatisch nicht umsetzbar deklariert.

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Brot und Spiele für die Mittelstandswampe

Donnerstag, 21. Juni 2012

Es ist ein hartnäckiges Gerücht, dass sich bei Uninformierten hält: RTL ist mitnichten der konzipierte Sender für Hartz IV-Empfänger, Ungebildete oder andere prekarisierte Gesellschaftsschichten! Eigentlich ist es nicht nur die Bewahrung eines Gerüchtes, wenn man das behauptet - es ist Rufmord an denen, die man arroganterweise als Unterschicht bezeichnen könnte. Die schaut natürlich auch RTL - und möglicherweise sogar überproportional häufiger als der Mittelstandsbauch. Aber das ist ein nebenher zufällig erzeugter, vielleicht nicht mal bewusst gewollter Effekt. RTL bedient nicht das Prekariat, es serviert der Mittelschicht, überdies sogar der besser situierten Mittelschicht, ein bunt gewürfeltes Programm der Eintönigkeit.

Beratung für den Mittelstand

Nachrichten und Neuigkeiten flimmern dort als eine schlecht getarnte Form von konsumistischer Lebensberatung über die Mattscheibe. Man bekommt erklärt, welches Produkt wie günstig und wie gut ist - Lohnt sich der Kauf? - Wohin in den Urlaub? Empfehlung für das Wochenende: Gehen Sie in einen Freizeitpark! Der Freizeitpark Soundso hat zufälligerweise diese Woche eine Sonderaktion! - Sinnvoll für die Zukunft: Privat rentenversichern! Mehr Infos finden Sie online! - Wie Sie sich bei der Hitze im Büro abkühlen können! - Darf ich im Büro EM gucken? Beratung und Verkaufsanreize, Konsum und Verlockung...

All das ist nicht für jene Klientel gedacht und gemacht, die man als Hartz IV-Empfängerschaft bezeichnet - es richtet sich an die, die finanzielle Substanz aufbringen, die sich ernsthaft Gedanken um Urlaub und tägliche Kaufräusche machen können, die in einem Büro anschaffen dürfen; es richtet sich an jenen Teil der Mittelschicht, bei dem die Prekarisierung des Arbeitslebens noch nicht eingetroffen, bei dem der Rahm abschöpfbar ist. Es ist der Wohlstandsbauch, der hier gekitzelt und gebauchbinselt wird. An dessen Speck richtet sich die lebensberatende und hedonistische Botschaft des Senders - nicht an die vermeintlich vor dem Fernseher geparkten Wampen von Arbeitslosen, Niedriglöhnern oder Bildungsfernen.

Klischeebestätigung für den Mittelstand

Nachmittags unterhält sich das Publikum mit gescripteter Reality. Die dient nicht etwa dafür, den Erwerbslosen künstliche Hartz IV-Empfänger nach Drehbuch vor die Nase zu setzen. Nichts was die Gestelltheit dieser Konzepte abwirft, kommt wirklichen Bezieherun des Arbeitslosengeldes II bekannt vor - nichts stimmt auch nur ansatzweise mit deren Wirklichkeit überein. Speckige Haushalte sind nicht per se nur Hartz IV-Haushalte; ein Leben in Saus und Braus, etwa Kurzurlaube oder Wellness-Erlebnisse, kommen unter Transferbeziehern wohl sehr selten vor. Und aus dem Hut gezauberte Bewerbungsgespräche auf Mallorca wohl eher auch. Es sind billige Klischees, die so überspitzt geschauspielert werden, dass sie den wirklichen Arbeitslosen total entfremdet sind. Das dient nicht den prekarisierten Schichten, sondern dem mittelschichtigen Zuseher vor der Glotze, der einen ganz besonderen Blick auf die Unterschichten wirft. RTL ist der Dienstleister; er serviert elitäre Luftschlösser, in denen Erwerbslose als dreckig, faul und dennoch vermögend gezeichnet werden. Der "Asoziale", wie ihn das Klischee kennt, ist nicht das Fabrikat aus Brennpunkten - er ist Kopfgeburt stümperhafter Drehbuchautoren, die dem mittelschichtigen und gutsituierten Publikum Klischees bestätigen wollen.

Mitten im Leben ist nicht die Unterhaltung für Menschen, die arbeitslos sind - es ist kein Konzept, das die Problematiken von Arbeitslosen auch nur streift, sondern von ihnen ablenkt, um sie in den spießbürgerlichen Kanon der Mittelschicht zu packen, in dem man nachlesen kann, dass alle Arbeitslosen verblödet, faul, ungepflegt oder kriminell sind. Der betuchte Mittelstand, der die Zeit aufwendet, nachmittags vor dem TV-Gerät zu hocken, wird unterhalten, bestätigt und je und je auf Stereotype abgerichtet.

Schau göttlicher Auserwähltheit

Auch das vermeintlich abgesicherte Leben der Mittelschicht will aufschauen. Sie tut das am Vorabend, wo man regelmäßig über den Superreichtum "informiert" wird. Millionen sind nicht der Rede wert, Milliarden machen Themasetzung bei RTL. Das bedient nicht Leute, die schon froh wären, wenn sie tagsdrauf ohne zu viele Blicke in den klammen Geldbeutel einkaufen könnten. Das ist der Traum einer Gesellschaftsschicht, die relativ satt und abgesichert ist. Superreichtum wäre für manchen Hartz IV-Empfänger wahrscheinlich schon, sich zum Abendessen ein dickes Rindersteak zu leisten.

Von Reichtum zu berichten, der so maßlos ist, dass man ihn sich kaum vorstellen kann, ist nicht der Feuchttraum der Armut - ihr reichte Absicherung durch Anstellung und ein kleines Gehalt. Der potente Mittelstand, der selbst so hat, dass er leben, dass er urlauben und freizeiten kann, wird bedient. Er soll träumen, noch mehr urlauben und freizeiten zu können. Leute wie Gates und Jobs, die bei RTL Dauerbrenner sind, sind die Helden einer konsumistischen und hedonistischen Schicht und ihrer Medienanstalten - für einen Boulevard der Calvin verinnerlicht hat, wonach prädestiniert ist, wer Geld hortet. Wenn RTL dem Mittelstand den Superreichtum aufzeigt, über dessen Villen, Schiffe und Golfanlagen berichtet, dann ist das eine Schau in die himmlische oder gar göttliche Auserwähltheit eines konsumistischen Lebensgefühls - dann ist das der Ringelpiez hedonistischer Heiligengestalten. Dort huldigt man der Ikonen des Mittelstandes. Zwar mag sich auch der Hartz IV-Empfänger daran ergötzen, aber der braucht zur Ergötzung weitaus weniger.

Gesindelfreier Abend

Im Nachmittagsprogramm spult man den Hartz IV-Stereotyp ab. Was Leben am Regelsatz bedeutet, ist dort jedoch nicht Thema - auch die soziale Exklusion wird nicht beachtet. Dafür fickt, säuft, betrügt sich ein Pack durch die Sendung, das zufälligerweise keine Arbeit hat - conclusio daraus: ohne Arbeit lebt man so! Am Abend, nachdem sich die mittelschichtige Sendergemeinde über das Gesindel empört und belustigt hat, wird der RTL-Garten verriegelt - Zutritt für Arbeitslose verboten! Für echte Arbeitslose natürlich - ab und an darf ein Medien-Arbeitsloser doch auftreten. Stern TV berichtet dann von einem Mann, der seit Jahrzehnten nicht mehr arbeitete und das auch vehement als Lebensmodell vertritt. Der gilt dann pars pro toto. Der wirkliche Arbeitslose ist allerdings unterrepräsentiert.

Bei Wer wird Millionär? findet sich meist Mittelstand oder jedenfalls der zukünftige, Studenten also, die bei der sozialen Balance des deutschen Bildungswesens mit großer Wahrscheinlichkeit aus besserem Hause stammen. Arbeitslose sind rare Gestalten bei WWM. Und das, obwohl nach offiziellen Angaben rund sieben Prozent der hier lebenden Menschen arbeitslos sind. Weitaus mehr als Ärzte oder Anwälte, weitaus mehr als IT-Experten oder Sekretärinnen. Die kommen in der Sendung allerdings weitaus häufiger vor. Das mag an den Auswahlkriterien liegen, könnte man nun einwenden - dass man aber keinerlei Anstalten macht, die Kriterien durchlässiger zu machen, wenn es denn so wäre, liegt auf der Hand. Wo es etwas zu gewinnen gibt, da gibt es das Wort Arbeitslosigkeit nicht. Kein Unterschichtler geht bei RTL aufgrund Gewinns aus seiner Armut - wohl aber mancher Angehöriger der Mittelschicht in eine noch besser abgesicherte Zukunft. Almosen kann er haben, wenn er nachmittags ein Klischee nachspielt, das er in seinem realen Leben so gar nicht kennt, das er dem RTL-Konsumenten nun aber verkaufen soll.



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Mal wieder weniger Demokratie wagen

Mittwoch, 20. Juni 2012

Der Standort Deutschland ist gefährdet. Zur Abwechslung sind es nicht zu hohe Löhne, die ihn ins Straucheln geraten lassen - und auch keine Wirtschaftskrise. Es ist die Demokratie - kein Defizit an ihr, sondern zu viel davon, bringt den Standort an Abgründe. Nachdem sich die Münchner an den Urnen gegen den Bau einer weiteren Startbahn aussprachen, unkt es aus Politik und Wirtschaft nun erneut, dass Großprojekte in Deutschland keine Chance mehr hätten. Deutschland verkomme zum fortschrittsfeindlich Areal - nach Stuttgart 21 und dem Protest der Anrainer des Frankfurter Flughafens, jetzt auch noch das Nein der Münchner. Der Wutbürger lähmt die Republik.

Bislang sprach man von Wutbürgern, wenn es sich um demonstrierende Menschen handelte. Nun ist schon Wutbürger, wer bei einem Bürgerentscheid sein basisdemokratisches Recht wahrnimmt. Dieses Zuviel an Demokratie erzeugt nicht Partizipation, mahnt nun die Wirtschaft, es hemmt in ersten Linie und macht das Land rückschrittlich. Die Menschen wüssten nämlich gar nicht, was gut für sie ist - weitere Lärmquellen in ihrem direkten Umfeld seien nämlich nicht unbedingt schlecht, weil sie Arbeitsplätze brächten, nur verstehe das der plebiszitäre Wutbürger nicht. Er ist so wütend, dass er nichts mehr sieht, dass er erblindet ist. Früher nannte man das demokratisches Grundrecht, was man heute als Wut zu diskreditieren versucht.

Die Skandalisierung, die die empörten Stimmen aus Politik und Wirtschaft zu formulieren versuchen, sie zielt darauf ab, demokratische Partizipation als etwas hinzustellen, das nicht historische Errungenschaft, sondern ökonomische Bremse ist. Man müsse quasi abwägen, was wichtiger zu sein hat. Hierzu malen sie Angstszenarien von einem Land, in dem die Bereitschaftsverweigerung zu öden Verhältnissen führe, zu Wettbewerbsunfähigkeit und nationalem Niedergang. Die Motive der Gegner spielen darin keine Rolle - spielen sie nicht, obwohl Stuttgart 21 sensibilisiert haben müsste, obwohl eigentlich klar ist, dass die Situation am Frankfurter Flughafen so nicht erhalten bleiben kann. Die Entscheidung der Münchner ist gleichfalls für die Kritiker des vermeintlichen Demokratiesuffizits unverständlich.

Großprojekte scheitern zukünftig vielleicht tatsächlich vermehrt, sollte man den Schneid haben, den Souverän an Entwicklungen zu beteiligen. Das liegt aber nicht an der Fortschrittsfeindlichkeit derjenigen Bürger, die sich erdreisten, ihren Versammlungs-, Demonstrations- oder Wahlrechten nachzugehen, sondern an der Unvereinbarkeit von Projekten mit der Lebensqualität der Menschen. Lärmhöllen wie in Frankfurt mögen Arbeitsplätze erzeugen, wobei auch das strittig ist - aber die gesundheitlichen Auswüchse und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen relativieren vieles. Was sind Arbeitsplätze wert, wenn dabei Herz- und Kreislauferkrankungen zulegen? Sind Menschen in Arbeit wichtiger als Menschen in nervösen Dauerzuständen? Das sind Fragen, die sich mit dem herrschenden Ökonomieverständnis gar nicht beantworten lassen, weil dieses nur die Habenseite kennt, das Soll aber sozialisiert - weil es Verantwortung nur für Gewinne übernimmt, nicht aber für Folgeschäden.

Es ratterte und krachte und lärmte vielleicht tatsächlich bald weniger, wenn man die Bürger an solchen Entscheidungen beteiligte und wenn man deren Entscheidung als bindend akzeptierte. Für manche ist das Fortschrittsverweigerung - eigentlich ist es allerdings nicht weniger als die Hege und Pflege der Demokratie. Und das ist auch eine Art Fortschritt. Kein materieller freilich, was den Apologeten des niedergehenden Landes aufgrund Demokratieüberschusses, natürlich wenig behagt. Demokratische Standards sind für sie nur fortschrittlich, wenn sie ihre profitorientierten Absichten absegnen und somit durch Mehrheitsentscheid legitimieren. Ansonsten fühlen sie sich der Tyrannei der Masse ausgesetzt, der Willkür böser Bürger, nicht zu bändigender Wutbürger.

Weniger Demokratie wagen, dann bleiben wir wettbewerbsfähig, modern, auf der Höhe der Zeit - anders gesagt: Unsere Zeit ist nicht demokratisch eingestellt, sie giert nach Diktat. Nur das Diktat kann den Aufgaben, die sich in der modernen Welt stellen, gerecht werden, könnte man schlussfolgern und schlussfolgern insgeheim diese mahnenden Stimmen ja durchaus. Es sind übrigens jene Wirtschaft und Politik, die nun von dieser Demokratie verdrossen sind, die sonst dem Volk Demokratieverdrossenheit vorwerfen, weil das nicht an Wahlurnen stürmt wie an Freibiertheken, um eine (Wirtschafts-)Politik abzusegnen, bei der es meist nur Verlierer ist.



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Sit venia verbo

Dienstag, 19. Juni 2012

"Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, die vielleicht noch uns selbst, im Blute lag."

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Terror durch Müßiggang?

Montag, 18. Juni 2012

Innenminister Friedrich sprach sich kürzlich dafür aus, so genannten Salafisten das Arbeitslosengeld zu streichen. Belege dafür, dass sich der deutsche Salafismus ausschließlich aus der Arbeitslosigkeit rekrutierte, gibt es allerdings keine. In der arabischen Welt mag er dies tun - was auch nicht verwundert, denn dort ist die Arbeitslosenrate ohnehin stattlicher, womit sich jede politische Strömung zwangsläufig übermäßiger aus der Arbeitslosigkeit mobilisiert. Für Deutschland läßt sich diese Behauptung hingegen nicht verifizieren - es fehlt an eindeutigen Erhebungen hierzu. Es ist nicht mehr als eine populistische Vermutung.

Narrativ der Christsozialen

Es ist mittlerweile Jahre her, dass Christine Haderthauer, damals Generalsekretärin der Christsozialen, forderte, man sollte nicht integrationswilligen Muslimen das Arbeitslosengeld II kürzen. So sprach sie seinerzeit unwidersprochen. Ob denn diese hinlänglich als integrationsunwillig bezeichneten Muslime überhaupt arbeitslos seien: diese Frage stellte sich öffentlich gar nicht erst. Man nahm es an, ließ das Bauchgefühl walten und es blieb als Aussage mit Wahrheitsgehalt stehen. Friedrich greift nun dieses Bauchgefühl neuerlich auf und adelt es zur ministeriellen Aussage mit Kopf und Verstand. Sein sozialdemokratischer Kollege, der Integrationsmuffel als Abschaffung Deutschlands publizierte, nahm ja immerhin noch an, dass Muslime auch in Dönerbuden und Gemüseläden integrationsunlustig seien.

Lassen wir hierbei mal außer Acht, dass der Umstand, jemanden die Bezüge von Sozialleistungen aufgrund weltanschaulicher oder religiöser Diskrepanzen zu verweigern, nicht verfassungskonform sind - wir haben uns daran gewöhnt, dass aus Innenministerien zuweilen wenig Verfassungskompatibles kommt. Es soll allerdings darum gehen, dieses einfache Weltbild zu hinterfragen.

Treibgut des Terrorismus

Für Friedrich und Haderthauer sind Salafisten beziehungsweise Integrationsunwillige ja zweifelsohne mehr. Es sind Gruppen, die den deutschen Kitt unterwandern, den es zwar nicht gibt, den es aber in deren Gedankenwelten geben sollte. Sie sind Gefährder, wie Terroristen auch - und unter ihnen findet sich gar die terroristische Vorstufe und terroristisches Fußvolk. Sie seien das Treibgut im Kielwasser des Terrorismus, der den Islam nutzt, um sich zu erklären. Sie seien der Bodensatz terroristischer Gemüter, die Basis und Sympathisanten. Dabei verkennen Friedrich und Geisteskollegen hierbei allerdings, dass sich, terrorgeschichtlich gesehen, dieses Milieu mitnichten rein aus der Arbeitslosigkeit und ihrer sozialen und ökonomischen Folgen rekrutiert. Die Sympathisanten der RAF waren nicht durchweg arbeitslos, sie kamen sogar vermehrt aus einer gesellschaftlichen Schicht, die dem Bildungsgedanken nahestand. Dasselbe gilt für die Köpfe und die Freunde der ETA - selbst die Terroristen selbst, die die Blutarbeit von eigener Hand leisteten, waren keine desillusionierten Müßiggänger, die zu viel Zeit gehabt hätten, um sich zu radikalisieren. Sie entstammten der Mittelschicht, gingen Berufen nach und waren in ihrer Freizeit Bombenbastler und Genickschußexperten. Bei der IRA war es nicht viel anders.

Die Geschichte des Terrorismus ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Sie wird als eine Geschichte von "zu viel Zeit" gelesen, als eine Geschichte von "Müßiggang ist aller Terror Anfang" - nie allerdings als eine Geschichte sozialer Ausgrenzung, ökonomischen Drangsals, altruistischen Einsatzes für unterdrückte Schichten. Wobei letzteres natürlich nicht verklärend zu verstehen ist, sondern aus der jeweiligen Motivation verstanden werden muß. Der allgemeine Erklärungsansatz des amtierenden Salafismus ist die Arbeitslosigkeit, das "Zu viel Zeit"-Haben zur Radikalisierung. Die Geschichte des Terrorismus ist eben keine Geschichte arbeitsloser Typen, die zu viel Zeit dazu hätten, sich ideologisch verbohrter Konstellationen zu widmen, um dabei völlig zu verblöden - dies widerspräche ja auch der herrschenden Ansicht, wonach Arbeitslose nichts täten außer schlafen, fressen, fernsehen. Terroristen und deren Sympathisanten und Steigbügelhalter waren nicht selten im Alltag unscheinbare Mitglieder der Gesellschaft - die Unscheinbarkeit ist zugegeben bei den salafistischen Stereotypen im Westen nicht denkbar. Sie fallen ja auf. Aber nicht alle laufen rum wie Pierre Vogel - sie sind vielleicht bärtig, tragen aber Jeans und Hemd und gehen somit unter in der Masse.

Enttäuschung und Arbeitslosigkeit als einfach vermittelbare Erklärungsansätze

Natürlich ist es ein Erklärungsversuch nach herrschenden Kritierien, der hier unreflektiert verbreitet wird: Der Salafist ist radikal und terrorbereit (ist er das überhaupt?), weil seine persönliche Situation ihn frustet. Wenn Friedrich und Haderhauer das so sehen, dann ist das auch Teil einer ideologischen Weltbetrachtung, die da lautet: Wenn es dem Subjekt schlecht geht, dann stellt es sich gegen die Gesellschaft, dann wird es radikal und brutal. Da schimmert die neoliberale Agenda hervor, wonach alles was man tut und denkt, sich am Eigennutzen schleift. Was schließt denn aus, dass sich Radikalisierung und Abwendung von der Gesellschaft auch ergeben können, wenn man nicht selbst in die Enge getrieben wird, sondern dabei zusehen muß, wie es anderen so ergeht? Terror als altruistisches Affekt - ein falscher Ansatz freilich, aber eine Reaktion. Natürlich ist das eigene Schicksal auch Motivator - aber doch nicht ausschließlich. Die Milieus vergangener Terrorbrigaden waren ja auch nicht alle notleidend - aber sie gaben oftmals vor, für solche zu kämpfen. Das Opium für das Volk ist nicht nur Opium für Notleidende, sondern viel zu oft auch Rauschmittel für saturierte Gestalten, die ihr vages Bauchgefühl, etwas gegen das Unrecht tun zu wollen, in der Religion oder Ideologie legitimiert, bestätigt und bekräftigt sehen.

Dass auch der Salafismus nicht unbedingt ausschließlich aus Hartz IV-Empfängern bestehen muß, ist ja eigentlich eine Binsenweisheit. Eine jedoch, die keinerlei Raum einnimmt im öffentlichen Raum der Monologe. Die absolute Neuheit, die man dem Salafismus nun unterstellt, ist nichts weiter als Dramaturgie aus Ministerien - Entwicklungen ähneln sich viel zu oft, absolut neu ist nie etwas; wer das behauptet, der will sich und seine Aufgabe mit roter Wichtigkeitsfarbe unterstreichen. Natürlich soll mit der Entkräftung friderizianischer Einfältigkeit nicht bestätigt werden, dass wir eine Gesellschaft voller Schläfer seien. Nicht jeder Sympathisant vermeintlich terroristischer Weltbilder und nicht jeder Koranverteiler ist ja auch selbst gewaltbereit. Er zeigt zwar vielleicht Verständnis für terroristische Gewalt, lobt, findet es berechtigt, ist selbst aber relativ zurückhaltend. Das mag man moralisch verurteilen, justiziabel ist dergleichen aber richtigerweise nicht. Grundsätzlich ist die Arbeitslosigkeit als Prämisse einfach, weil sie unkompliziert eine Sachlage erklärt. Ohne diese Arbeitslosigkeit jedoch offenbarte sich, dass der westliche Salafistmus ein Produkt der Weltpolitik ist - und das zu erläutern ist kompliziert und bedarf einiger Selbsterkenntnisse, die man von der derzeitigen Politik nicht zu erwarten hat.



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Gott als Kampfwille und Gefechtsstellung

Samstag, 16. Juni 2012

Militärbischof Overbeck meinte kürzlich, dass "ohne Religion und ohne gelebte Praxis von Religion [...] kein Menschsein" möglich sei. Soldaten setzten "Gewalt [...] im äußersten Notfall und vor allem verantwortungsvoll" nur dann ein, wenn sie "mit einem festen Glauben [...] solche Entscheidungen" treffen. Religiosität sei quasi Gewissensstütze für Soldaten. Eigentlich belanglos, was da jemand, der bischöflich Nächstenliebe christianisiert und sich mit einem Militär- verziert, absondert - qua Position disqualifiziert er sich ja selbst. Doch zwischen den Zeilen postuliert dieser Mann etwas, was man als den gerechten Krieger bezeichnen könnte - Morden ist möglich, es hat bloß religiös zu geschehen. Geschieht es ohne Gott, ist es eine gottlose Tat - ansonsten: Deus lo vult! Dann ist es mit Gott abgeklärt und nicht mehr sündig. Man merkt, mancher Kirchenmann speist geistig noch an der Tafel von Urban II. - allen Mitgliedern der katholischen Kirche sollte man das jedoch nicht unterstellen.

Die Vereinigten Staaten riefen erst kürzlich noch zum gerechten Krieg - Militärgeistliche wie jener skizzieren das Werkzeug hierzu: den gerechten Krieger. Er muss gläubig sein, sogar fest gläubig, wie Overbeck meint. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass man in einem Gefecht, in dem man eiskalt vorgehen muss, einfach nur auf atheistische Soldaten zurückgreifen kann. Die wüten dann wie beim Sacco di Roma: brandschatzen, morden, verstümmeln und vergewaltigen. Denen macht das Blut, die herauslappenden Organe, der Gestank, das Wehgeschrei, die Tränen von Frauen und Kindern und was da sonst noch so alles anfällt, nichts aus. Kurz gesagt, sie kennen keine menschliche Regung. Sie mögen zwar Menschen sein, aber dessen, was den Mensch als einzige Kreatur befähigt, Empathie zu zeigen, sind sie qua ihrer Gottlosigkeit verlustig gegangen - menschliche Hüllen nur, Randexistenzen an der Schwelle zum wirklichen Menschen.

Man kann Overbeck natürlich auch beipflichten. Es gab durchaus gottlose Brigaden, die gewütet haben wie Bestien. Die Rote Armee und die Wehrmacht, die zwar eine irdische Religion pflegten, gelten als Inbegriff eines gottlosen Zeitalters. Wären sie anders aufgetreten, wenn sie einen Gott an ihrer Spitze gehabt hätten? Einen, der himmlischer gewesen wäre, als ihre profanen Schnauzbartgötter in Kreml oder Bunker? Mit overbeckscher Logik müsste die Antwort lauten: Ja, sie wären dann gerechte Krieger gewesen, die ihr Gewaltpotenzial abgewogen hätten. Ein Problem ergibt sich allerdings. Wer sagt denn, dass die Soldaten der Roten Armee ohne Gott kämpften? Und gab es nicht genug Wehrmachtsoldaten, die protestantisch dachten, katholisch fühlten, obgleich sie für dieses Regime in den Krieg zogen? Baten nicht die meisten Soldaten auf beiden Seiten Gott um unversehrte Rückkehr in die Heimat? Nur weil deren Diktaturen wenig Bezug zur Religion hatten, nur weil im Sowjetreich Religion kriminalisiert wurde, müssen doch die Soldaten dieser Diktaturen nicht bindend auch ohne Gott gewesen sein. Es gab genug stille Gottgläubige hüben wie drüben - und es gab dennoch Gräueltaten beidseits.

Es braucht doch keine atheistischen Soldaten, um Blutmeere zu füllen - das schaffen auch gläubige Soldaten ganz von alleine. Es gäbe hierzu ja auch abgedroschene Beispiel. Kreuzzüge beispielsweise. Oder den Dreißigjährigen Krieg. Oder die Eroberung Amerikas - all das wurde viel zu oft von Seiten atheistischer Verfechter angeführt, um zu beweisen, dass eigentlich Religion zu verantwortungslosem Handeln im Kriege führt. Für unsere Epoche treffender ist da der Rückgriff auf das Zwanzigste Jahrhundert, denn darin spiegeln sich die Konfusion und die Überlagerungen unserer Tage wider. In jenem Jahrhundert war es möglich, religiös für atheistische Systeme zu kämpfen - und es war denkbar, atheistisch für Armeen aufzulaufen, die "in god we trust" postulierten. Auf die Kreuzzüge oder den Dreißigjährigen Krieg zu verweisen, erlaubt keine Vergleichsmöglichkeiten in der jeweiligen Zeit - das Zwanzigste Jahrhundert, für viele das gottlose Zeitalter, gibt Vergleiche frei. Und unterstreicht, dass eine gerade Linie nicht gezeichnet ist. Da gab es religiöse und atheistische SS-Mörder - und es gab SS-Leute wie Wilm Hosenfeld, die den Ideen der Nationalsozialisten zugewandt, dennoch religiös motiviert genug waren, um nicht direkt am Wahn teilzunehmen; und es gab Alliierte, deren einzig religiöse Kulthandlung es bislang war, den New York Yankees einen Titel zu wünschen, die aber dennoch empathisch mit den Opfern des Krieges umgingen. Und wie katholisch und ethisch rein waren eigentlich die Brigaden des katholischen Herrn Franco?

Explizit atheistisch gaben sich die totalitären Bewegungen damals durchaus - sie waren es aber nur an der Oberfläche, denn deren kleine Rädchen, die für sie den Krieg ausbadeten, waren religiös ebenso wie atheistisch. Wohin sollte das Russisch-Orthodoxe oder Protestantische oder Katholische auch verschwunden sein in so kurzer Zeit? Und gleich welcher ideologischen Herkunft: es gab Verbrecher und Mitläufer, Helden und Schweine, Opfer und Täter. Manche wirkten bei Kriegsverbrechen mit, weil ihr Glaube ihnen verinnerlichte, dass man als Mensch an seinen Platz gesetzt würde - andere opponierten dagegen, weil derselbe Glaube für sie hieß: Liebe deinen Nächsten, töte ihn nicht! Man liest oft, es gäbe keine deutschen oder tschechischen oder russischen Menschen, es gäbe nur gute oder schlechte - man ersetze Nationalitäten durch Gottglauben und Atheismus und man kommt auf denselben Nenner.

Es geht mitnichten darum, Gottgläubigkeit als wirklich mörderischer als den Atheismus zu deklarieren - das tun die Hinweise auf Kreuzzüge und dergleichen aber durchaus. Sie sind verkürzte Darstellungen, denn Gewalt war das Mittel jener vergangener Zeiten. Die Religion war ein Ventil, nicht unbedingt Ursache - Gewalt hätte es auch ohne Gott gegeben, sie war das Stilmittel einer Epoche, in der Knappheit und Krankheit das Überleben täglich gefährdete. Der Verweis auf das letzte Jahrhundert kennzeichnet hingegen, dass es keine besseren oder schlechteren Menschen anhand "weltanschaulicher Konstitution" gibt. Es ist atheistische Überheblichkeit, den schlechten Religiösen anhand von antiquierten Beispielen zu untermauern - auch ein atheistischer Ritter hätte vielleicht Moslems erschlagen, um sich an den Reichtümern der Levante zu bereichern. Es sind die Bedingungen, die Gewalt beschwören, nicht die Religion oder die fehlende Religion. Wer so argumentiert, der verdreht Overbecks Quatsch ins Atheistische. Wahr ist vielmehr, dass es ethische Prinzipien mit oder ohne Gott geben kann - man kann morden in seinem Namen, aber auch, weil man auf ihn pfeift. Es gibt Ausbeutung, weil die Gottesdeuter erklären, Gott habe jedem seinen Platz gegeben, den man nun einnehmen müsse - und es gibt Ausbeutung, weil man glaubt, keinerlei Rechenschaft mehr ablegen zu müssen vor einer überirdischen Instanz.

Gott ist die Erweiterung des Gewissens ins Transzendente. Die Erweiterung des menschlichen Bedürfnisses, irgendwo Rechenschaft ablegen zu müssen. Manche Menschen benötigen das - das ist zu tolerieren. Manche nicht - auch das ist zu tolerieren. Dass aber religiöse Menschen gerechtere Krieger seien, das ist nicht tolerabel - die gerechtesten Krieger sind immer noch jene, die nicht in den Krieg ziehen. Aber dann wäre Overbeck seine Stellung los - und kandidierte vielleicht, weil Theologen in Bellevue derzeit in Mode sind, als Bundespräsident; denn der amtierende pflasterte dem gerechten Krieger neulich erst den Weg und nannte dessen Kritiker glückssüchtig. In manchen Dingen stehen sich katholische und protestantische Theologie ziemlich nah - Krieg und Gott, Morden und Moral deckungsgleich zu machen: das können sie beide ganz ausgezeichnet.



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Zuversicht an Sterbebetten

Freitag, 15. Juni 2012

Wie wäre das eigentlich, wenn ich heute herausfände, dass man aus der toten Materie eines menschlichen Organismus', einen sehr günstigen Kraftstoff mit hohen Energie- und niedrigen Verbrauchswerten destillieren könnte? Hypothetisch! Man stelle sich nur mal vor, im menschlichen Leichnam läge der Schlüssel zu einer umweltfreundlichen Lösung der Mobilitätsfrage. Vielleicht ergäbe sich gar ein Treibstoff, der keinerlei Verbrennung benötigte. Wie das genau funktionieren soll, wie ich an diese obskure Substanz gelangte, kann ich nicht beantworten. Jedoch könnte ich literarische Stilmittel anwenden, die meine Ahnungslosigkeit übertünchten. Ich könnte von Destillation, sich wandelnde Aggregatszuständen, wechselseitigem Verdampfen, Sieden und Köcheln berichten, von Konzentrationen und Kondensationen, wahlweise auf Verdunstung und Sublimation hinweisen und das alles mit fachmännischen Adjektiven zieren. Letztlich gelänge es mir, den Leser von meinem profunden Wissen zu überzeugen. Doch einerlei, darum geht es jetzt nicht. Ich hätte es also entwickelt - irgendwie, mit Phantasies Hilfe. Was geschähe dann? Wielange würden uns moralische Bedenken behindern; wann würden erste Stimmen, erst zögerlich im fortschrittlichen Feuilleton, später als Parole für die Masse, die Nutzung dieser Energiequelle fordern?

Ich stelle mir vor, dass es nicht besonders lange dauern würde, bis man kreuzritterlich ins Gefecht zöge. Die Kostenersparnis wäre Argument. Doppelte Kostenersparnis, denn wir könnten weiterhin kostengünstig individualverkehren und sparten uns auch noch Friedhofskosten. Statt Tiger im Tank, Opa im Tank! Eine Win-win-Situation, wie man das so bestechend im Wirtschaftssprech bezeichnet. Umweltschonend wäre es ohnehin - und man könnte aufhören, die Erdölreserven zu plündern. Rechte sagten, man könnte sich endlich aus der Abhängigkeit von arabischen und afrikanischen Ländern lösen - Linke führten visionär an, es sei endlich ein Weg offen, arabische und afrikanische Tagelöhner nicht mehr auszubeuten. Immerhin würde man nur organische Restmasse, die sonst verbuddelt würde, nutzvoll einsetzen - darüber wäre man sich rechts wie links einig. Es sei ökonomisch sinnvoll - und moralisch auch, denn gute Ökonomie, das wisse schließlich jeder, der über einige Gramm Hirn verfüge, sei auch gute Moral.

Die Kirchen sähen das anders. Jedenfalls die katholische - phasenweise, bis auch sie sich am Zeitgeist schliffe. Die evangelischen Kirchen in Deutschland mahnten zwar, deuteten aber auch von Anbeginn der Debatte auf die Chancen hin. Gott habe dem Menschen Möglichkeiten gegeben, weswegen man nicht einfach schroff Nein sagen dürfe. Verantwortungsvoll damit umgehen sei Ziel, dann könne man solcherlei Energiegewinnung auch theologisch rechtfertigen. Fundamentalkritiker aus dem linken Lager würden verspottet, weil sie katholischer als die katholische Kirche und evangelischer als der EKD seien - ewiggestriges Moralisieren sei das; die moderne Welt sei so komplex, dass man sich mit derart antiquierten Hemmschwellen, die über Jahrhunderte und Jahrtausende von Philosophie und Theologie eingeimpft wurden, der Sache nicht mehr angemessen nähern könne. Dem Fortschritt im Wege stehen: das sei verantwortungslos!

In Talkshows säßen Akteure von Lobbygruppen - keine, die grundsätzlich dagegen wäre. Radikale gegen Semiradikale - und letztere hörten sich an wie Stimmen der Vernunft. Die Semiradikalen hätten Verständnis für die Empörung; sie würden aber auch davon sprechen, dass zugunsten von Wettbewerbsvorteilen ein Rückgriff auf ein solches Mittel durchaus notwendig ist. Was, wenn die Chinesen, die kein bürokratisch angeordnetes Moralisieren kennen, von der Idee Gebrauch machten und damit Deutschland, ja die gesamte EU, wirtschaftlich erdrückten? Dann gingen Arbeitsplätze verloren - wer auf seiner ethischen Scholle festsitzt, würde der lobbyistische Semiradikalo brüten, den bestraft die Weltwirtschaft. Wir müssten uns entscheiden: traditionelle Pietät oder Fortschritt, althergebrachte Scheu vor quasi sakralen Tabus oder Arbeitsplätze und wirtschaftlicher Erfolg. Man müsse aber, so würde er seinen Vortrag beschließen, durchaus auf die Ehrfurcht der Menschen vor den sterblichen Überresten ihrer Lieben nehmen. Vielleicht könne man sich ja mit dem Gedanken anfreunden, nur solche Leichen der Energiegewinnung zu überführen, die keine Nachkommen in direkter Linie aufweisen können; eremitenhaft lebende Rentner vielleicht oder vereinsamte Frühverstorbene oder Obdachlose, die somit eine soziale Aufwertung erhielten. Eine Prämie für Familien, die ihren verstorbenen Großvater freiwillig der mobilitätswilligen Allgemeinheit überstellen, könne durchaus auch Anreize schaffen. Auch Steuervorteile für Menschen, die schon zu Lebzeiten garantierten, ihren Körper nach Ableben zu spenden, wären denkbar.

Ich stelle mir vor, dass die Politik zunächst sehr zurückhaltend agierte. Sie würde sicherlich mit Moral argumentieren, mit dem Beschmutzen des Andenkens Verstorbener, würde die abendländische Bestattungskultur aufführen. Eine Weile jedenfalls. Lobbygruppen würden feilen, schleifen, sägen. Aus den Parteien heraus fänden sich auch dann moderne Stimmen, die eine Öffnung für die neue Energiegewinnung, eine Deregulierung kleinkariert theologischer Moral fordern würden. Angestammte Zeitungen polarisierten ihr Publikum, stachelten zum Fortschritt auf, entmoralisierten in Kommentaren die körperlichen Überreste des Menschen, nennten ihn "rein organischen Abfall" - Stimme aus dem Feuilleton: "Unsere Bestattungspraxis ist veraltet und kostet die Kommunen Unsummen. Wenigstens gestorbene Bedürftige, auf deren Bestattungskosten die Allgemeinheit ansonsten sitzen bleibt, könnten doch zu Energie gemacht werden. Das gebietet nicht nur die ökonomische, das gebietet auch die moralische Vernunft!" Die Bestatter empörten sich laut, formulierten einen Aufruf zur Erhaltung der Bestattungskultur, sprächen davon, dass ein Plätzchen für einen verstorbenen Angehörigen eine Form von Menschenwürde und Menschenrecht sei - mancher Politiker garantierte den Bestattern, dass durchaus die Verpflichtung der Hinterbliebenen aufrechterhalten werden könne, Verstorbenen weiterhin eine Zeremonie zu bereiten, auch wenn kein Körper oder keine Asche begraben wird. Die Bestatter gäben sich damit zufrieden und schwiegen fortan.

Abseits der Öffentlichkeit meldeten Stimmen aus Weblogs, dass eine bekannte deutsche Zeitung vor vielen Jahren meldete, dass ein Mann aus Ostdeutschland aus Katzen Diesel filtern könne. Eine dicke Zeitungsente, die keinerlei Realitätsbezug hatte. Interessant sei an dieser Randnotiz aber, dass damals ein Aufschrei durch die Leserschaft ging - dergleichen sei unmoralisch und dürfe nicht erlaubt sein, schimpfte es damals. Heute aber ginge die Öffentlichkeit mit dieser perversen Debatte relativ unaufgeregt um. Kommentatorische Trolle meinten darauf zynisch, dass das Äpfel seien, die man mit Birnen vergleicht. Die Zeitung suggerierte damals, dass Katzen zu Tode kämen, um zu Diesel werden zu können - heute verfeuere man bereits tote Masse, schlachte nicht extra. Warum eigentlich nicht?, fragte ein Zyniker in einem Weblog. Es gibt doch ausreichend Menschen, die keiner mehr braucht, die sich aber nützlich machen würden, landeten sie im Tank. Erster Abgeordneter fordert Energie aus Arbeitslosen!, meldete eine Tageszeitung großlettrig. Ist das moralisch zu vertreten?, fragte sie darunter kleinlettrig. Die Antwort bliebe sie schuldig, die solle sich der Leser bitte selbst geben.

Einstweilen diskutierte man in intellektuellen Zirkeln darüber, was Moral an sich sei. Weshalb schenkt der Mensch dem Verbleib einer Körperhülle, die einem geliebten Menschen gehörte, so viel Beachtung? Evolutionäre Erklärungsansätze folgten, kulturelle Aspekte würden eingestreut - ein zottelbärtiger Philosoph nähme provokativ eine ganz besonders progressive Stellung ein. Beerdigungrituale seien Relikt aus Zeiten, da der Mensch in einer Gesellschaft mit Gottesbezug lebte. Damals hatte man keine Verwendung für tote Körper, man vergrub sie nicht nur aus sakralen Gründen, sondern auch, um nicht an Seuchen zu verenden. All diese Gründe und Barrieren seien nun nicht mehr gegeben. Der antiquierte Mensch, egal ob religiös oder nicht, sah den Tod als Teil des Lebens - jetzt ist mit der Energieerzielung tatsächlich dieser lebensbejahende Tod möglich; jetzt könne man als Toter das Leben florieren lassen, man könne die Mobilität stützen und damit dem Planeten zu regem Leben verhelfen. Das sei die Erfüllung der tröstenden Aussage, der Tod sei ein Aspekt des Lebens. Der Tod löse sich überdies von der Trauerkultur, weil er eine Dimension annimmt, die ihm bislang nicht zuteil wurde. Sicherlich schmerzt der Verlust eines Menschen, würde der kluge Mann sagen, jedoch würde mit der Überführung des toten Körpers in die Dienste der mobilen Allgemeinheit, auch die Chance gegeben, dass fortan nicht nur Tränen rollten, wenn jemand stirbt, sondern gleichfalls eine Art Gedenken an den sozialen Umfang des Ablebens. So wie die Seuchengefahr dem Vergraben von Leichen und deren rituelle Auswüchsen Vorschub leistete, so könnte die Erzielung von Energie durch Leichname dazu führen, dass der Tod von Angehörigen und Freunden eine rituelles Zeremoniell hervorbringe, das Freude darüber verströme, dass der Mensch selbst im Tode noch ein ökonomischer Faktor, ein nutzvolles Mitglied der Gesellschaft sein könne. Es sei nicht ausgeschlossen, dass wir bald lachend und voller Dankbarkeit ans Sterbebett des Vaters träten - diese spezielle Energiefrage löse den Menschen nämlich von der Trauer, spende ihm Trost und Zuversicht und nähme ihm als Hinterbliebenen die Bürde der Erstarrung und Desillusionierung. Eine neue evolutionäre Sprosse würde bestiegen - die Vorzüge des Lebens würden um die Vorzüge der Sterbens ergänzt. Endlich wäre der Tod somit gleichberechtigter Teil des Daseins - und endlich gäbe es Zuversicht an Sterbebetten; etwas, dass selbst der Kirche niemals komplett gelungen ist. Einwände erhielte der Zottelbart von einem Humanisten, der vom Bedürfnis des Menschen nach besuchbarer Ruhestätte für seine Liebsten spräche - Friedhöfe seien auch für die Psyche des Menschen da, sie gäben ihm Halt. Der Zottelbart konterte, dies sei psychologische Gefühlsmeierei, die in die Zeit vor der neuen Energieepoche gehörten, die aber bald schon gänzlich verschwunden sein werden - und auch müssen, will man als Menschheit eine Chance haben.

Natürlich wäre der Vorschlag, noch vom Tode entfernte Menschen der Energieerzielung zuzuführen, bald wieder vom Tisch. Wir sind ja doch eine menschliche Gesellschaft, in der zwar solche Vorschläge gemacht werden dürfen, für die man auch belohnt wird, weil wir Mut für etwas halten, das anerkannt werden sollte. Aber letztendlich zählt doch, dass Menschenleben unantastbar sind. Die Würde des Menschen, würde ein aufgebrachter Feuilletonist schreiben, sei immerhin unantastbar - dergleichen schon zu denken sei kriminell. Ein Verfassungsrichter darauf in einem Interview: "Ich kann die Aufgebrachtheit verstehen, aber halten Sie etwa ein Leben auf Sozialhilfeniveau für Würde?" Würde ist unantastbar stehe im Grundgesetz, folgerte er. Aber was, wenn ein Mensch gar keine hat? Nicht dass er Freund von Energieverwurstung durch menschliche Leiber wäre, aber er wolle nur Denkimpulse setzen. So viel Mut...

Wann käme die gesetzliche Verfügung, dass Verstorbene künftig nicht mehr auf Friedhöfen, sondern in Destillen landen sollten? Stimmte die Opposition dem Vorhaben der Regierung zu, nachdem sie bitterböse durch die Medien fluchte, als sie merkte, dass die Regierung mittlerweile Richtung Energiegewinnung durch Leichname tendiert? Ein Deal wäre die Lösung - die Regierung erhöht die Zuverdienstgrenzen für Hartz IV-Empfänger um zwanzig Euro im Monat, dafür stimmt man dem Gesetzesentwurf zu, Leichname fortan verpflichtend der Allgemeinheit übergeben zu müssen. Für die Überführung in Destillen kommt die öffentliche Hand auf - Bestattungen sind aber weiterhin, auch ohne körperliche Resthülle, verpflichtend. Kritiker wären empört, weil sich das Argument, die Leichenenergie würde der Gesellschaft auch billiger kommen, weil Bestattungs- und Grabkosten wegfielen, als Köder offenbarte.

Dafür aber wären wir mobil für alle Zeiten. Fossile Brennstoffe neigen sich dem Ende zu - aber tote menschliche Kadaver gibt es immer. Solange es Menschen gibt - und wenn es sie nicht mehr gibt, brauchen wir ja auch keine Mobilität mehr. Kriegsgebiete wären prosperierende Landstriche, denn sie erzeugten Rohstoff am laufenden Band - zwar verbiete es das hiesige Gesetz, Menschen zu töten, um Energierohstoff freizusetzen, kündete der Entwicklungsminister, aber es wäre fahrlässig, Ressourcen ungenutzt zu vergraben. Es seien ja auch nicht wir, die töteten, es seien die Kriegsteilnehmer, womit kein Konflikt mit dem geltenden Recht entstehen würde. Die Waffenindustrie erhielte nochmal Anschub, denn sie würde indirekt Energie erzeugen - und dafür, dass sie erneuerbare Energie förderte, erhielte sie Subventionen. Die jedoch nur unter der Auflage, keine Waffen zu produzieren, die Menschen zerstückelt oder zerreißt, um intakte Energieträger zu erzeugen. Alles ökologisch, alles ökonomisch - die Verfeuerung menschlicher Körper nach dem Tode machte alles besser. Und nur böse Zungen behaupteten, mit diesem Schritt sei der Weg zur Verheizung der aussortierten Gesellschaftsschichten beschritten...



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Ridendo dicere verum

Donnerstag, 14. Juni 2012

"Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verräth in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz seyn könnte, indem er sonst nicht zu Dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen theilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn."
- Arthur Schopenhauer, "Parerga und Paralipomena" -

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... und sind so klug als wie zuvor

Mittwoch, 13. Juni 2012

Wie mittelalterlich geprägte Unfreie in der sich formierenden Frührenaissance benehmen wir uns. Lauschen den Berichten, die uns Abenteurer aus der Neuen Welt vermitteln und staunen bass darüber. Kopfschüttelnd meist, manchmal ratlos. Denn es sind Meldungen über Wilde, über Gesellschaften, die wir als primitiv erachten. Wie einst unsere Ahnen sitzen wir in der Stube, horchen dem, was uns jemand erzählt, was der erzählt bekam von einem, der es erzählt bekam von jemanden, der einem echten Seefahrer begegnet war. Heute übernehmen diese vermittelnde Funktion meist Journalisten.

Damals horchten sie den Geschichten von dunklen, gegerbten Männern, die in ihrer Wildheit jede Kulturleistung versagten - sie spitzten tollkühnen Märchen von Gemeinwesen, die keine Struktur, keine Organisation kannten, in denen die ungezügelte Sittenlosigkeit täglich vorstellig wurde - sie vernahmen Erzählungen von brachialen Riten und brutalen Traditionen. Es waren Reiseberichte über Menschen - dessen war man sich bewusst. Schon 1537 wurden sie in einer Bulle Papst Pauls III. als veros homines bezeichnet. Sie wurden als Menschen erkannt. Und exakt dieser Umstand machte die Geschichten ja so spannend, so bestürzend und zu einem fast schon boulevardesken Ringelreigen. Wie konnte man als Mensch nur so leben?

Es waren Geschichten aus einer fernen Welt. Einer Welt, die der Europäer nicht kannte, die man ihm als Erzählung darbrachte. Mit dem Kommunikationsmittel jener Zeit - und das war nun mal hauptsächlich die mündlich überlieferte Erzählung. Aus fernen Welten bekommen wir noch heute Geschichten von Wilden ohne Kultur, ohne sittliches Gemeinwesen vorgesetzt. Damals kamen sie aus der Neuen Welt - heute kommen sie aus dem Mittleren Osten. Früher Indianer - heute Muslime. Einst vermengte man Kariben mit Azteken mit Algonkin - heute sind Sunniten und Ismailiten und Wahhabiten derselbe Brei. Es gibt keine Unterscheidung, nur die eine Gemeinsamkeit: als Schauermärchen fungieren zu dürfen.

"Seit drei oder vier Jahrhunderten haben die Einwohner von Europa alle übrigen Teile der Welt zu überschwemmen angefangen und immer neue Sammlungen von Reisebeschreibungen und Reisegeschichten herausgegeben. Dennoch, glaube ich, sind uns keine anderen Menschen bekannt als die Europäer. Ja, die lächerlichen Vorurteile, die sogar bei gelehrten Leuten nicht selten gefunden werden, daß fast jeder mit der Prahlerei, den Menschen zu studieren, nichts mehr als seine Landsleute studiert", schreibt Rousseau in seiner Preisschrift "Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen". Es ist die zungenfertige Erklärung für das, was wir heute Eurozentrismus nennen.

Schauermärchen erzeugen gegenteilige Radikalismen. Rousseau hat einen solche fabriziert. Die Legende des bon sauvage, des edlen Wilden, an der heute noch mancher Naturalist und Wurzelsepp ideologisch festpappt. Doch das ist ein Irrtum, wie auch die Gegenseite an Irrtümlichkeit litt. Bessere Gesellschaft, schlechtere Gesellschaft - Ethnologie ist keine Morallehre. Und Moral ist stets die Essenz sozio-ökonomischer Gegebenheiten; Moral und/oder Religion ist der geistige Überbau hierzu. Gleichwohl hat das Entgegensetzen gegen den schadhaften Radikalismus des Schaudernmachens, indem man ein allgemeines Lob entwirft, durchaus seine Berechtigung. Tacitus hat schon den Römern ein verklärtes Germanenbild geschenkt.

Die Grundlage der Unterjochung der "Wilden" war der Schauder. Für kategorische Imperative war da kein Platz mehr. Wer gegen die rohe Wildheit, gegen Gesellschaften ohne sittliche Grundtendenzen und archaische Ritenpflege zu Felde zieht, benötigte vermutlich keinen humanistischen Ansatz. Nur aus der Ferne wurden die Konquistatoren kritisiert - Leute wie Martyr, Las Casas oder Oviedo äußerten sich kritisch gegen die Machenschaften der Eroberer. Was unter letzteren natürlich nicht wohl gelitten war. Schreibtischgelehrte können leicht kritisch sein, schimpften sie beim Konquistatoren-Treff in Hispaniola, die Klugscheißer wüssten nicht, wie es in der Neuen Welt wirklich sei, wieviel Angst man erleiden müsse, dieser teuflischen Fremdheit so nahe zu sein. Wie ähnlich sie uns waren - damals in der Neuen Welt; heute sind sie in Afghanistan, im Irak.

Damals kramten die Konquistatoren beim Erstkontakt ein Schriftstück hervor. Requerimiento, Mahnung also, nannte sich das. Man verlas es ohne Dolmetsch. Die "Mitteilung" an die Indianer war, dass sie nun Untertanen der spanischen Krone und des Papstes seien - Unbotmäßigkeit würde grausam bestraft. Der Kolonialhistoriker Friederici zum requerimiento: "Auf das Seltsam-Lächerliche und Erstaunlich-Törichte dieses Manifestes Leuten gegenüber, die man zum ersten Male sah, mit denen man sich gegenseitig in keiner Weise verständigen konnte und die keinerlei Gefühl oder Ahnung von des andern Weltanschauung und Gedankengang hatten, braucht nur hingewiesen werden." Wie ähnlich wir uns waren - auch wir haben unsere requerimientos. Auch wir verlesen Schriftstücke ohne auch nur zu ahnen, wie "des andern Weltanschauung und Gedankengang" gestrickt ist, woher er geistesgeschichtlich kommt, welche Prämissen die dortige Zivilisation aufweist. Ein Stück westliche Welt für alle Weltregionen - wie damals, als ein Stück Spanien und Katholizismus, später dann auch ein Stück England oder Holland und Protestantismus für die Welt geplant war.

Fortschritte haben wir zweifelsohne gemacht. Briefe benötigen keine Wochen mehr in die "Zivilisation" - wir haben sogar Bilder, die direkt aus den Landen der Fremdheit zu uns kommen - und wir hören deren Stimmen, wenn wir sie mal zur Sprache kommen lassen. Technische Fortschritt - intellektuelle wenige. Wir sitzen wie mittelalterliche Gestalten vor unserer Technik, lauschen und spähen - und orakeln. Wir sind so klug als wie zuvor - und das technisch besser ausgestattet. Fortschritt ist vermutlich nur, die ständig gärende intellektuelle Rückständigkeit technologisch zu modernisieren...



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Verfüg-, verschiebbares Humankapital

Dienstag, 12. Juni 2012

Menschen die in Arbeitslosigkeit geraten, werden von Wirtschaft und Politik als herumschiebbare Substanz für den Arbeitsmarkt betrachtet. Diese Aussage ist nicht besonders neu. Mit welcher Chuzpe und welchem eiligem Elan aber neuerdings die Arbeitsministerin arbeitslos werdende Personen verschiebt und herumstößt, das ist man so (noch) nicht gewohnt.

Die Deutschland-PSA

Die erklärt nämlich lapidar, dass man aus den ehemaligen Beschäftigten von Schlecker Erzieherinnen machen werde. Punkt. So einfach geht das heute - freie Entscheidung, freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl, eine Form von Qualitätsauswahl und -sichtung potenzieller Kandidaten: Fehlanzeige! Kaum arbeitslos, schon die Verfügungsmasse einer Politik, die sich als pragmatisch und anpackend auszeichnen will - kaum arbeitslos, schon herumgeschubst von einer Politikerin, die sich mittels schneller Vorschläge eine Kontur als Anpackerin verschaffen möchte. Ganz nach dem Gusto neoliberaler Statiker, versteht sich.

Wer medial fachgerecht seine Arbeit verliert, der ist doppeltes Opfer. Erst ein Opfer der Pleite, dann ein Opfer des Aktionismus, mit dem Ministerien im Massenmedienzeitalter stets arbeiten. Dieses unreflektierte, fast ziellose Handeln in ideologischer Konzeptlosigkeit kennt wenige Prinzipien - und wenn, dann sind sie nur ökonomischer Natur. Fällt Humankapital bei A aus, so soll es bei B einsatzbereit gemacht werden. Der angeblich so freie Arbeitsmarkt als überdimensionale Arbeitnehmerüberlassung, verschiebbar nach Auftragslage und Lust und Laune des Leiharbeitgebers. Personal-Service-Agentur Deutschland! Für den freien Willen, für die Vorlieben und Neigungen von Erwerbslosen ist da kaum noch Platz - so wenig Platz, dass der in Erwerbslosigkeit Geratene nicht mal mehr eine Übergangszeit bekommen soll; Orientieren, Durchatmen, Sondieren - dafür bleibt keine Zeit für die Verfüngungsmasse des Arbeitsministeriums. Jeder Mensch hat Abneigungen und Vorlieben - für die Gestalter des aktionistischen Arbeitsmarktes ist das allerdings irrelevant; alles ist erlernbar, auch Kinderfreundlichkeit womöglich.

Eingeständnis gescheiterter Arbeitsmarktreformen

Seit Jahren lesen wir, dass die Reformen gefruchtet hätten. Die Hartz-Konzeption habe sich bewährt, Arbeitslosigkeit sei geschrumpft und Arbeitsplätze seien ausreichend vorhanden und würden stetig mehr. Kurz gesagt: das Sozialgesetzbuch hat alles im Griff. Es sichert Teilhabe und Integration in den Arbeitsmarkt. Dennoch greift nun das Arbeitsministerium ein. Hat es wenig Vertrauen in jene Gesetze, die es sonst reichlich lobt? Warum nicht das SGB einen guten Arbeitsmarkt regeln lassen? Wieso aktionistisch eingreifen, wo Hartz-Reformen souverän wirken?

Vielleicht verzichtet die Ministerin auf die ruhige Hand, weil sie weiß, dass der normale Lauf der Dinge die Ex-Schleckeretten in Langzeitarbeitslosigkeit brächte - wie es das Hartz-Konzept und allerlei Arbeitsmarktreformen gewollt haben. Und ob ihr Aktionismus die ehemaligen Angestellten von Schlecker in Arbeit bringt, steht ohnehin auf einem anderen Blatt. Vielleicht bekommen die ja durchaus einen Arbeitsplatz, sind dann billige, durch Crashkurs lohngedumpte Erzieher, die fachlich gebildete Erzieher aus ihren Stellen drängen - dann steht ein Heer von pädagogischen Fachkräften auf der Straße, die von der Ministerin gesagt bekommen, was sie bald werden dürfen. Verkäuferinnen womöglich...



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