Die Faulheit hat keinen guten Stand in der bürgerlichen Gesellschaft - sie ist eher des Bürgers Abscheu. Mit ihr impliziert er Unkosten, Unordnung und Abstumpfung. Die Faulheit ist für ihn eine die Gesellschaft zersetzende Fäulnis. Er läßt sich daher auf sie nicht affirmativ ein, erkennt in ihr nichts Positives, vermag nicht deren Chancen und Möglichkeiten, deren fortschrittliche Kraft und soziales Potenzial zu entlarven. Und weil dies alles unerkannt bleibt, konnte einst ein ehemaliger Kanzler damit protzen, dass es kein Recht auf Faulheit in dieser Gesellschaft gäbe - Applaus und öffentliche Anerkennung folgten dem stante pede.
Die Faulheit als soziale Gerechtigkeit
In seiner 1880 erschienenen Schrift
Le droit à la paresse, postuliert Paul Lafargue, der mit Laura Marx verheiratet war, ein
Recht auf Faulheit - so lautet auch die deutsche Übersetzung der Schrift. Dabei ist allerdings der Faulheitsbegriff Lafargues nicht mit jener Faulheit gleichzusetzen, die der bürgerliche Furor ist, die dem Bürgertum vor seinem geistigen Auge aufersteht. Faulheit ist für ihn eher etwas wie Besonnenheit, Zurückhaltung und Betulichkeit, Maßhaltung und Befriedung eines wilden Erwerbsalltags durch weniger Arbeit, ein Abgleiten von sklavischer Arbeitsmoral, unterwürfigem und strapaziösem Arbeitseifer. Arbeit sollte Notwendigkeit sein, nicht Lebensinhalt - Lafargue schwebt dabei die Arbeitsmoral vor, die vor der Industrialisierung vorzufinden war und die Gerhard Schildt in seinem Buch
"Aufbruch aus der Behaglichkeit" nachzeichnete: viele Feiertage, viele Ruheperioden, dafür aber auch Phasen voll Mehrarbeit, die aber immer mit Plausch und sozialem Austausch verbunden waren - eine Arbeitswelt letztendlich, die sich zwangsläufig nach der Natur richten musste (von der wir heute freilich relativ losgelöst sind), die aber keine tägliche oder gar stündliche Beweisbereitschaft der eigenen Produktivität abverlangte. Das was die bürgerliche Mitte heute mit Faulheit meint, die frappierenden, oft ekelhaften Bilder, die Fernsehsender wie RTL oder Sat. 1 aus den Wohnzimmern der Unterschicht über den Äther flimmern lassen, meinte Lafargue ganz sicher nicht - und das nicht nur, weil er damals noch keinen Fernseher besaß.
In meinem Buch "Auf die faule Haut" lege ich dar, dass Lafargue das Recht auf Faulheit auch deshalb kundtat, weil er darin den eigentlichen Schlüssel zum sozialen Frieden erkannte. "Auf die faule Haut" ist damit nicht nur Titel, sondern gleichwohl Imperativ. Seid im lafargueschen Sinne faul! Denn die Arbeitswut, so schreibt er, würde den Klassenkampf verstetigen: "Die Proletarier haben sich in den Kopf gesetzt, die Kapitalisten zu zehn Stunden Gruben- und Fabrikarbeit anhalten zu wollen - das ist der große Fehler, die Ursache der sozialen Gegensätze und der Bürgerkriege", notiert er, dabei die hündische Dummheit unterstreichend, die die müßiggängerischen Phantasien jedes Schuftenden aushöhlen und als Unding, als undenkbare Alternative verunglimpfen. Statt die Faulheit der elitären Faulpelze auch für sich zu beanspruchen, vernünfteln sich die Werktätigen jene Arbeitsmoral zurecht, unter der sie leiden. Diese sei ja schließlich und endlich notwendig, unabwendbar, alternativlos, betäuben sie sich selbst. Man müsse eben mehr, schneller, länger arbeiten - und der Faulpelz von oben, er soll es auch müssen. Mehr Arbeit für alle, statt weniger Mehrarbeit!
Die Diskrepanz zwischen denen, die faul arbeiten lassen und denen, die fleißig arbeiten sollen, sie ist für Lafargue die Wurzel des Klassenkampfes. Diese Zwietracht nicht auflösen zu wollen, sondern zu kultivieren, indem die Fleißigen die gutsituierten Faulen zum selben arbeitswütigen Lebensentwurf drangsalieren würden, wenn sie es könnten: das verewigt das klassengesellschaftliche Dilemma. Lafargue hätte vermutlich im Grabe rotiert, wenn er gesehen hätte, wie die Enkel im Geiste seines Schwiegervaters Gesellschaften auferstehen ließen, in denen es Helden der Arbeit gab, in denen die Arbeit eine Art ideologischen Adel darstellte - wahrscheinlich hätte er auch gar nicht rotiert, denn er ahnte ja, was Marxens unkritisches Verhalten gegenüber dem "Recht auf Arbeit" auslösen würde. Lafargue kritisierte ja bereits seine sozialistischen Zeitgenossen dafür. Die hatten doch mit ihrem leicht- und marxgläubigen Nachgequassel vom Recht auf Arbeit (das für Lafargue nur das "Recht auf Elend" war) den Klassenkampf gar nicht überwinden wollen; die hatten offenbar großes Interesse daran gehabt, ihn weiter zu verstetigen, denn das sicherte ihnen ihre gesellschaftliche Position.
Die Faulheit als Pate unterdrückter Potenziale
Sie gilt klassenübergreifend als verwerflich - Konservative und Progressive halten nichts von ihr. Kapitalisten und Kommunisten wollten sie mit Stumpf und Stiel ausrotten - der Fleiß sollte der Faulheit den Garaus machen: daher vereinten Arbeitslager die als unüberbrückbar geltenden Ideologien. Hie war "Vernichtung durch Arbeit", dort galt "Umerziehung durch Arbeit" - letzteres als progressive, als humanitäre und optimistische Auslegung ein und derselben Idee. Die Faulheit untergrabe schließlich das Fundament jeder gesunden Gesellschaft. Daher ist es gefährlich, wenn ich hier von der Faulheit schreibe, denn mit ihr konnotiert man Bettlerei, Alkoholismus, dreckige Wohnungen und Totalverweigerung - wer davon schreibt ohne zu schelten ist verdächtig. Lafargues Faulheit ist jedoch eine Faulheit der Maßhaltung; er fordert nicht, nichts mehr zu tun - er fordert aber dazu auf, weniger zu tun, bedächtiger zu arbeiten. Der Arbeiter soll "seine Ruhe entsprechend mehren" und nicht mit den "Maschinen wetteifern" - Rationalisierung und Automatisierung sind für Lafargue kein Grund zur Traurigkeit, denn sie könnten den Menschen mehr Zeit zuteilen.
Der bürgerliche Ekel vor der Faulheit lehrt, dass wesentlich kürzere Arbeitszeiten einen Sittenverfall mit sich bringen. Müßiggang ist ja bekanntlich aller Laster Anfang. Lafargue glaubte aber, dass die Faulheit durch Arbeitszeitverkürzungen zu einer musischeren Gesellschaft führen würde. Wenn der Schuftende plötzlich mehr freie Zeit hat, dann kann er sie nach seinen Interessen und Neigungen aufbrauchen. Wer weiß, vielleicht hätten wir den Krebs schon besiegt, würden wir nicht so lange arbeiten - vielleicht ist der Mensch, der uns vom Krebs erlöst hätte, aber hinter einem Schreibtisch versauerte oder an einer Drehbank vermoderte, abends zu ermattet gewesen, um seinem privaten Pläsier, der Medizin nämlich, ausgiebiger zu frönen. Michael Bakunin äußerte sich da ähnlich wie Lafargue: eine anarchistische Gesellschaft würde Muße zulassen und damit würde eine Gesellschaft auferblühen, die es bislang noch nicht gegeben hat - kein Wunder demnach, dass Bakunin Marx und seinen Wadenbeißern ganz ähnliche Vorwürfe machte wie Lafargue, denn auch für Bakunin waren Marx und seine Marxisten nur eine Spielart prüden Bürgertums.
Natürlich ist anzumerken, dass Lafargue und Bakunin noch nichts vom Einsatz moderner Unterhaltungsmedien wussten, mit denen wir heute konfrontiert sind und die die Freizeit (diese in Zeiten postulierter Mehrarbeit kostbar werdende Substanz) mittels abstumpfender Berieselung zersetzen und versinnlosen. Deshalb Freizeit verknappen? Weil sie den Menschen nicht mündiger und freier machte, sondern ihn letzlich an den Tropf der Unterhaltungsmedien stöpselte? Zurück zur menschlichen Arbeitskraft, Abschied von der sukzessiven Verlagerung der Arbeit auf Maschinen und Rechner? Das wäre nicht nur irrsinnig und unökonomisch, es entspräche dem menschlichen Charakter überhaupt nicht.
Die Faulheit als Fortschritt
Als die Industrialisierung einsetzte, entfremdete sich der Arbeitende von seiner Arbeit. Soweit Marx - soweit aber auch Lafargue. Automatisierungen traten ins Leben. Das tun sie bis heute. Wir staunen darüber, dass heute Maschinen erledigen, was bis vor einigen Jahren noch Menschenhände schufen. Wir staunen, aber wir betrauern auch, denn uns wird schnell gewahr, dass nun viele Menschenhände überflüssig geworden sind. Für einige Zeitgenossen wäre es ein Fortschritt, wenn wir von Maschinen abkommen würden, um wieder menschlichen Händen Arbeit in die Hände drücken zu können. Aber das ist nicht Fortschritt, das ist ein reaktionärer und, meines Erachtens, auch dem Menschsein diametral entgegengesetzter Ansatz.
Der Mensch erfindet Maschinen. Er erfand immer Maschinen und Vorrichtungen, die ihm das tägliche Leben erleichtern, die ihm Blut und Schweiß einsparen sollten. Heutige Vollautomaten zu ächten, weil sie Arbeitsplätze kosten: das ist kontraproduktiv, das entspricht nicht dem menschlichen Handeln. Der Mensch ist Erfinder - und er ist Maschinenbediener. Nicht erst seit der Industrialisierung, er war es gewissermaßen schon immer, nur waren Maschinen vormals eben viel primitiver. Maschinen sollen Arbeit erleichtern und Zeit einsparen - Maschinen sind damit eine Ausgeburt der Faulheit. Nur weil der Mensch an sich ein Wesen ist, dass sich Faulheit vorstellen kann, nur weil er sich imagnieren kann, was er mit eingesparter, frei gewordener Zeit anstellt, kam die Idee der Maschine in die Welt. Fortschritt ist somit nicht die Arbeitswut, nicht der Fanatismus (fanaticus, lat.; göttlich inspiriert) der Arbeit - die Faulheit innerhalb des Menschen, die zum Erfinden von zeit- und kraftsparenden Maschinen ermutigt, sie ist das wirkliche fortschrittliche Attribut der Menschheit. Einen stupide und apathisch vor sich hinwerkelnden Hominiden, dem die Fähigkeit abgegangen wäre, sich faule Stunden vorstellen zu können, den hätte die Evolution schon lange von seinem trostlosen, arbeitsamen Elend erlöst - oder er hockte noch an einem Wasserloch und würde sich kühles Nass in Dutzende Behältnisse schöpfen, statt stolz auf ein Rohrsystem zu blicken, dass ihm das Wasser in seine Hütte leitet.
Die Faulheit als Renaissance der sozialen Demokratie?
Eine Gesellschaft, in der sich offen und ohne Scheinheiligkeiten ein Recht auf Faulheit zugestanden wird, könnte die soziale Demokratie, die im Sterben liegt, nochmals reanimieren. Laut Robert B. Reich hat die soziale Demokratie, die er in seinen Büchern "demokratischen Kapitalismus" nennt, so massiv an Boden verloren und einem Superkapitalismus Platz geschaffen, weil die Technologien der letzten Jahrzehnte dazu führten, dass der Verbraucher und Anleger in eine stärkere Rolle gedrängt wurde, während der Bürger und Arbeitnehmer ins Hintertreffen geriet. Die Jahre, in denen selbst in den Vereinigten Staaten eine Form von staatlich gelenkter Wirtschaftspolitik existierte, die den Unternehmen staatliche Aufträge zuerteilte, waren deshalb unwiederbringlich verloren, weil neue Technologien beschleunigte wirtschaftliche Prozesse zeitigten und billigere Produktionsmöglichkeiten eröffneten und die Abhängigkeiten zwischen Staat, Unternehmen, Arbeitnehmer, Verbraucher und Anleger etappenweise auflöste. Der Superkapitalismus wuchs lediglich deshalb heran, erklärt Reich, weil durch flexiblere Technologien und Wirtschaftsprozesse einerseits Kunden durch niedrigere Preise profitierten und, andererseits, Anleger dazu ermutigt wurden, dort zu investieren, wo höhere Rendite abgeworfen würde.
Nun wäre eine Neuausrichtung nach lafargueschem Faulheitsverständnis nicht als Rückschritt von der Segnungen neuer Technologien zu begreifen. Natürlich sollen Bankautomaten und Internet nicht verworfen werden - man darf den Fehler einiger rückständiger Geister nicht machen, die entweder (wenn sie nach links hin denken) eine Art Steinzeit-Sozialismus fordern oder (wenn sie konservativ sind) einen Steinzeit-Kapitalismus bevorzugen, in dem Arbeit von Menschenhand mehr gefördert wird als maschinelle Arbeit. Weniger Arbeit, eine ruhigere, befriedete Arbeitswelt: das alles ja - aber nicht für den Preis technologischen Rückschritts. Beides muß vereinbar sein und ist es auch. Beibehalten, was moderne Technologien bieten, nur ruhiger und besonnener einsetzen - sie dürfen nicht dazu führen, den gesamten Apparat so anzukurbeln, dass man ihn nicht mehr zu bändigen vermag, dass er unbeherrschbar wird.
Und genau hier kommt das Primat der Politik ins Spiel, denn ein Gemeinwesen, dass sich gegen solche selbstläuferischen und automatisierten Abläufe zur Wehr setzen möchte, kann dies politisch auch tun. Wie wäre es beispielsweise mit einer Besteuerung nicht nur menschlicher Arbeitskraft, sondern auch maschineller? Lohnsteuer und Maschinensteuer und damit ein finanziell üppiger ausgestatteteres Gemeinwesen zur gesellschaftlichen Teilhabe aller? Wenn Maschinen besteuert würden, könnte auch weniger menschlicher Schweiß fließen. Weniger Arbeit, mehr Faulheit für jeden: das bedeutete hiermit dem Automatismus aus Rendite und noch mehr Rendite zu entfliehen und der sozialen Demokratie neuen Antrieb zu verleihen.
Die Faulheit als Friedenstaube?
Wir leben in einer Welt der Überproduktion und des steten Wachstums - dafür sind wir auch bereit Kriege in Kauf zu nehmen. Die Erdölsauferei unserer industriellen Wirtschaftssysteme ist das Resultat einer überproduzierenden und immer wachsenden, noch weiter wachsenden Wirtschaft. Und dahinter lauert wiederum der entfesselte Arbeitseifer - wir arbeiten und produzieren, wir überarbeiten und überproduzieren! Wenn wir dahin kommen, in Arbeit ein notwendiges Übel zu erahnen, welches man möglichst kurz und schmerzlos halten soll, dann wäre viel gewonnen. Laut Lafargue: das Ende des Klassenkampfes, den wir auch heute noch haben, wenngleich man das beständig verleugnet und als Anachronismus abtut.
Und wenn das Prinzip Faulheit, ein menschliches Bekenntnis zum Recht auf Faulheit im Sinne Paul Lafargues, als globaler Gedanke erfasst wird, dann ist vielleicht sogar mehr als das Ende des Klassenkampfes denkbar. Dann könnten geostrategische Motive überflüssig werden - koppelt man das Recht an Faulheit dann auch noch an eine Politik der erneuerbaren Energien, so könnte eine wirkliche Friedenspolitik durch die Sonne entstehen, um mit Franz Alt zu sprechen. Ein Ende kriegerischer Auseinandersetzungen? Möglich wäre es. Daher sollte es heißen: versuchen wir das Unmögliche und legen uns auf die faule Haut!
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