De omnibus dubitandum

Dienstag, 31. Mai 2011

Bei der Bürgerschaftswahl in Bremen entfielen...

  • ... 44,1 Prozent aller möglichen Stimmen auf niemanden.
  • ... 20,4 Prozent aller möglichen Stimmen auf die SPD.
  • ... 11,9 Prozent aller möglichen Stimmen auf die Grünen.
  • ... 10,8 Prozent aller möglichen Stimmen auf die CDU.
  • ... 3,0 Prozent aller möglichen Stimmen auf die LINKE.
  • ... 2,0 Prozent aller möglichen Stimmen auf die Bürger in Wut.
  • ... 1,3 Prozent aller möglichen Stimmen auf die FDP.
Die rot-grüne Koalition, die ihre Politik fortsetzen kann, vereint 32,3 Prozent aller möglichen Stimmen auf sich. Das heißt, nicht mal ein Drittel der Stimmen "bestätigten" ihre Arbeit. Die im Senat vertretene Opposition setzt sich aus 15,8 Prozent aller möglichen Stimmen zusammen - mehr als eine Minderheitenopposition.

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Linksliberaler Terror

Montag, 30. Mai 2011

Dass Hans-Peter Friedrich ein harter Hund mit weichem Kern ist, war bereits bekannt, als er noch relativ unbekannt war - ein Proporzminister, der in seiner Zeit als Hinterbänkler nur durch opportunes Abnicken auf sich aufmerksam machte, kann niemanden überraschen. Weicher Kern bedeutet hierbei: mit weichem Inhalt, mit magarineweicher, ja fast flüssiger, verflüssigter Treue zu Werten einer liberalen und aufgeklärten Gesellschaft, die sich Rechtsstaat schimpft - und es bedeutet, nach dem, was man so liest (nicht über ihn, sondern von ihm), ganz besonders: die weiche Birne eines Hardliners...

Dieser Mensch, der Minister ist, weil es unbedingt ein Minister aus Reihen der Christsozialen sein musste, auch wenn sich dort keiner tummelte, der dazu befähigt gewesen wäre... dieser Mensch nutzt Deutschlands beliebteste Tageszeitung, um seine rechtslastige Auffassung von Sicherheit und inneren Frieden unters Volk zu kotzen. Schlimm genug, dass es in diesem Lande Usus geworden ist, Zeitungen, die auf dem freien Markt (das, was man dafür ausgibt!) agieren, für derartige Ministerialerklärungen zu gebrauchen - das wirft ein Bild auf Regierung, Minister, Zeitungen und dem Verständnis von Demokratie, das man hierzulande zu Tode hegt und pflegt. Wie gesagt, schlimm genug - arger ist aber, was dieser friderizianische Kraftmeier an verschiedenen Aspekten vermengt und verwebt, um seine Vorstellungen eines präventiven Staatswesens so auszuschmücken, dass sie vernünftig und klug klingen.

Da leitet er seinen kurzen Text damit ein, dass man islamistische Terroristen vor einigen Wochen dingfest machen konnte - er konkretisiert und belegt nichts, daher: so weit, so schlecht. Aber es kommt noch mieser, denn von islamistischen Terroristen landet er bei denen, die den Präventivstaat mit seinen obskuren Bewachungsphantasien und seinem Feindstrafrecht auf alle Fälle verhindern wollen. "Linksliberale Fundamentalisten" nennt er die - und die sind für ihn auf einer Stufe mit Bombenlegern aus dem Orient. Friedrich verquickt, was in seinem Weltbild zusammengehört - die Vermengung von verschiedenen Gruppierungen, die nichts oder gar nichts miteinander zu tun haben, das ist ein gebräuchlicher Kniff in diesem Lande: Juden und Bolschewiki waren damals eins; später Studenten oder Gammler und Kommunisten - jetzt sind es eben Linksliberale oder ganz einfach Personen, die was von Datenschutz und Intimsphäre halten, und religiöse Eiferer.

So beseitigt man Probleme. Man macht aus Kritikern Feinde, man kriminalisiert sie. Friedrich bedient sich dieser uralten Masche. Jeder Kritiker an seinen Plänen, den Kamera- und Überwachungsstaat auszubauen, ist damit kein Kritiker mehr, sondern Helfershelfer islamistischer Terroristen und damit letztlich selber Terrorist. Wer nicht am Fundament des Rechtsstaates mitruckeln will, der ist - wie paradox das doch ist! - ein Fundamentalist. Entweder ein islamistischer oder ein linksliberaler, je nach dem. Der wirkliche Fundamentalist, der das Fundament dieses Staates, die amtierende Verfassung demnach, aushöhlen oder sogar aufheben möchte, ist aber als solcher nicht zu nennen. Ihn ruft man Vernunft oder Verständigkeit. Derjenige, der Datenschutz und Privatsphäre als hohes Gut postuliert, der ist ein Sicherheitsrisiko - gleichwohl diejenigen, die die Rechtssicherheit auflösen wollen, niemals mit einem solchen Wort belegt würden, denn das von ihnen betriebene Sicherheitsrisiko geschieht (erneut ein Paradoxon!) nur zur Sicherheit aller. Friedrich ist mit seiner brachialen Vermischung von Terroristen und Datenschützer so paradox, wie die gesamten Beteuerungen und Ausflüchte der Sicherheitspolitik generell. Nur zweiundzwanzig Zeilen und lediglich vierzehn Sätze benötigt er dazu, sein gesamtes widersprüchliches Weltbild zu malen - und das, obwohl das gesamte Thema angeblich hochsensibel und komplex ist!

Und noch etwas macht stutzig: Friedrich beschwichtigt ja, dass der "unbescholtene Bürger" sich nicht fürchten muß. Das Gesetz schütze ihn, denn dieses ist ja ausschließlich für Terroristen (oder "Terrorverdächtige", wie man das mit einem Wortkonstrukt des Neusprech definiert) gemacht. Er schweigt sich aber darüber aus, dass Anti-Terror-Gesetzgebung bereits in vielen anderen Bereichen Anwendung fand - nicht zuletzt in Jobcentern. Und obwohl es dem Gesetz und angeblich auch ihm nur um Terroristen geht, überschreibt er sein Machwerk mit "Linksliberale Fundamentalisten" - und wer aufmerksam den Wust liest, den er da aus seinem Füllfederhalter goss, dem entgeht nicht: am Ende sind für ihn Datenschützer und Menschen mit Privatheitsanspruch die wirklichen Gefährder, die eigentlichen Feinde. Das ist so paradox und widersprüchlich, wie man es von Sicherheitsfanatikern bereits ausführlich kennt.

Dieser Minister unterstreicht mit seinem kurzen Elaborat jedoch nur die Befürchtungen, die Datenschützer und "linksliberale Fundamentalisten" immer schon hatten. Friedrich zeigt mit seinen vierzehn Sätzen nämlich auf, wie schnell das eigentliche Objekt der Zielsetzung aus den Augen geraten kann. Sechs seiner vierzehn Sätze befassen sich mit dem Terror, die restlichen aber mit Linksliberalen, die zur Gefahr "für Leib und Leben Unschuldiger in Deutschland" werden. Wenn schon nach vierzehn Sätzen ein Minister selbst vom Zielpunkt abkommt, um irgendwo am Wegesrand zu grasen, dann bestätigt sich die Angst der Datenschützer: der Präventivstaat, der nicht mehr mit rechtsverbindlichen Normen hantiert, der wird maßlos. Und: wer rechtsstaatliche Grenzen von Fall zu Fall variiert, der entkräftet sie - Friedrich beweist das mit seinem Generalangriff auf "terroristische Datenschützer".



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Die Welt schmerzt

Samstag, 28. Mai 2011

Schwarzseher! nannte man mich schon oft. Manchmal gelte ich aber auch als berüchtigter Optimist. Dann unterstellt man mir, ich würde ein zu positives Menschenbild haben oder - wie kürzlich erst an dieser Stelle -, an irgendwelche Kräfte, beispielsweise an die Kraft des realen Sozialismus glauben. Aber das ist Unsinn! Ich bin nicht inbrünstig pessimistisch und schon überhaupt nicht optimistisch. Der abgedroschene Spruch, den man jetzt normalerweise anbringen müsste: ich bin nichts von beidem, ich bin schlicht Realist - aber dass meine Gedanken oft schwermütig klingen, sodass sie mit einem kultivierten Pessimismus verwechselt werden könnten, kann ich dabei gar nicht leugnen. Ich lese mich manchmal so - ja, das ist wahr. Aber das ist nicht Ausdruck davon, dass ich besonders negativ wäre, schwarzseherisch oder so - es ist der Realismus, wie er sich zeigt, wenn man ihn gewissenhaft als Schule verfolgt und wenn er einem ein Leben lang gnadenlos ins Gesicht schlug.

Es ist die Einsicht, dass sich Sehnsüchte als Unerfüllbarkeiten outen, dass sie vergängliches Wunschdenken sind. Auch und vorallem dann, wenn sich aus der Sehnsucht ein greifbares Szenario entwickeln könnte oder sogar schon entwickelt hat. Strebt der Mensch eine neue, bessere Gesellschaft an, so endet das fast schon statistisch bewiesen dennoch dort, wo es anfing. Der menschliche Makel läßt sich nicht wegerziehen - die Menschheit ist ein Fiasko, daran läßt sich nicht rütteln. Die Unzulänglichkeit des Menschen kennt keinen Halt und wartet nicht "vor den Toren der besseren Gesellschaft" unter Berücksichtigung von Schildchen, auf denen steht "Ich muß draußen bleiben!" Oder wie ist es, wenn man sich als Einzelperson ein anderes Leben wünscht, in dem es anders, vielleicht ruhiger, vielleicht erfolgreicher zugehen soll? Wie oft wird aus Aufbruch Enttäuschung? Nicht nur Gesellschaften gelangen vom Regen in die Traufe...

Das klingt nach Defätismus, ich gebe es ja zu. Man kann das auch gerne so nennen, so wie man jedes Gefühl, jede Regung mit vielerlei Namen taufen kann, wenn man nur genug Namen dafür eingelagert hat. Ich nenne es einerseits Realismus, andererseits Weltschmerz - was letztlich vielleicht auf dasselbe hinauskommt. Natürlich hege ich Sehnsüchte, aber gleichwohl weiß ich auch, dass diese Sehnsüchte - wie alle Sehnsüchte auf dieser Welt, ganz egal, wie privat, wie nichtig oder trivial sie sind - an Unerfüllbarkeit leiden. Auf der einen Seite lehne ich aus tiefsten Herzen das ab, was man die Wirklichkeit nennt. Und auf der anderen Seite weiß ich jedoch auch - und ich wüsste es lieber nicht -, dass es aus dieser Wirklichkeit kein Entrinnen gibt. Sehnsucht hie, Weltschmerz da. Die Unvereinbarkeit der Sehnsucht mit der Welt, sie erzeugt etwas wie Wehmut in mir, sanfte Melancholie, Vergänglichkeitsbewusstsein. Diese Einsicht, dass man letztlich unerfüllbare Vorstellungen mit sich trägt, sie liest sich durchaus pessimistisch in meinen Texten - aber das bin ich nicht; ich bin eher wehmütig. Ja vielleicht habe ich auch ein klein wenig resigniert - schon gut, schon gut, ich geb' es ja zu!

Das heißt nicht, dass man keine Sehnsüchte haben darf. Was man im amerkanischen Raum den "Blues" nennt, wird in Portugal als "Saudade" bezeichnet. Der Fado atmet diese Saudade. Er kündet von Weltschmerz und Enttäuschung - aber auch vom Aufstehen, neu Anpacken, vom Aufbrechen neuer Sehnsüchte. Im Grunde inszeniert Camus für uns einen Fado, wenn er seinen Sisyphos dessen Steinbrocken wieder und wieder hinaufwalzen läßt. Fado ist Wehmut und Traurigkeit, die Erkenntnis, dass die Vergänglichkeit das Wesen der Welt ausmacht; er ist leichte Resignation, die aber stets von Neuem zum Antrieb wird. Zwar verstehe ich etwas Portugiesisch, einen Fado aber natürlich nicht, dazu bin ich zu ungeübt, habe ich zu wenig Kenntnisse. Aber die Musik, der Ton, das melancholische Kolorit, das man zynisch gesagt, als jämmerliches Geheule abtun könnte, das verstehe ich auch "sprachlos", denn all das zeichnet mein eigenes Weltbild nach. Saudade ist kein Pessimismus, dazu ist er zu kultiviert. Der Pessimist hakt alles mit "Alles Scheiße!" oder "Leckt mich doch alle!" ab - er ist nicht mal mehr zynisch in seiner Ablehnung.

Der an Weltschmerz Infizierte ist jedoch zynischer. Das rührt daher, weil er mit der Realität abwägend verfährt, er will nicht einfach hinter alles "Alles Scheiße!" notieren. Er erkennt in seiner Tristesse sehr genau, dass jede Sehnsucht Enttäuschung birgt. Das liegt in der Natur des sehnsüchtigen Schmachtens. Dafür gibt es große Beispiele. Nehmen wir nur die Oktoberrevolution, die in einem Terrorstaat mündete; oder die Französische Revolution, die mehr rollende Köpfe fabrizierte als das Ancien Régime in all seinen Jahren, und die überdies zum ersten zentralisierten Gesinnungsstaatswesen großer Schule mutierte. Kleine Beispiele kennt jeder selbst aus seiner Vita. Aber es gibt auch genug, die das nicht bedenken - und erfüllt sich dann irgendwann deren Sehnsucht, so ist der Jammer manchmal groß. Und dann ist der Schritt zur Verzweiflung nicht mehr weit. Wer Saudade lebt, der verzweifelt nicht plötzlich, denn der trägt die Verzweiflung schon immer subkutan bei sich, der hat das Destillat des Verzweifelns unter die Haut gepflanzt. Als kleine Dosis. So wie eine kleine Gabe von Morphium lindert, während eine Überdosis tötet, so verabreicht sich der Wehmütige beständig kleine lindernde Stöße von Verzweiflung. Diese beständig dezent anhaltende Verzweiflung schützt und erlaubt einem nicht, übermütig zu frohlocken, wo andere sich einer haltlosen Freude an den Hals werfen.

Die Welt jubilierte, als ein Schwarzer US-Präsident wurde - nun staunt Deutschland über den ersten grünen Ministerpräsidenten. Beides Hoffnungsträger, beide als Wegweiser zu besseren Zeiten! Und dann kommt die Enttäuschung, eine Sinnkrise, weil man verzweifelt feststellt: "Oh je, nichts ist so gekommen, wie wir es uns erhofft haben! Wenig oder nichts hat sich verändert!" Wo Saudade herrscht, da gibt es kein "Oh je!" mehr, oder anders: da ist das "Oh je!" schon in den Anfang hineinprogrammiert - Enttäuschung ist ihr fremd. Der süße Weltschmerz à la Saudade birgt eine Portion Skepsis. Sie ist die bittere Erfahrung des an der Welt leidenden Menschen. Sei skeptisch, weil die Welt, so wie sie ist, immer enttäuschen kann - sie muß es nicht immer, aber sie tut es dennoch oft genug. Das ist nicht Pessimismus, das ist Erfahrung. Sei wachsam, sei unterkühlt, habe deine Hoffnungen im Griff - hoffe, aber hoffe nicht blindlings; Hoffnungen sind lebenswichtig, aber wenn die maßlos sind, dann morden sie langsam und heimtückisch, denn die zur Enttäuschung gewordene Hoffnung bohrt zu viele Löcher in die Befindlichkeit, als dass man darüber hinwegfühlen könnte. Das klingt wie eine einfach gestrickte Form der Bauernschläue? Kann sogar sein, ich will es gar nicht abwiegeln.

Dieser Weltschmerz ist allerdings mehr, aber natürlich auch Selbstschutz, das gebe ich ja unumwunden zu. Doch dies mindert ja nicht ihren Wert. Als Überlebensstrategie hat sich Saudade bewährt. Für mich jedenfalls! Sprechen wir von mir! Für jedermann mag dieser Weltschmerz nichts Verlockendes an sich haben - und das ist auch vernünftig, dass Lebensphilosophien nicht für jeden Menschen kompatibel sind. Das naive "Laßt uns Revolutionen machen!" gibt mir wenig Halt - auch in der Revolution liegt die Enttäuschung begraben, das sehen viele Westentaschen-Revoluzzer nicht. Sie eifern, sie schüren, sie hören "Revolution!" und sind Feuer und Flamme und legen sich dabei unwissentlich und unbemerkt eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten um den Oberarm. Natürlich heißt das nicht, Demonstrationen per se zu unterlassen, weil die sinnlos wären - das Gegenteil ist der Fall, sie sind nötiger denn je. Aber wir sollten uns nicht zu viel davon versprechen. Seien wir ruhig mal ganz realistisch und fordern einfach das Unmögliche! Che Guevara machte diesen famosen Ausspruch - aber der steht gemeinhin für den optimistischen, anpackenden Revolutionär, der ein, zwei, viele Vietnams schaffen wollte. Dieses Zitat macht mich aber stutzig. Das Unmögliche anpacken? Das kann heißen, nur in der Revolution gründet der Umsturz und die Umwertung aller Werte - oder es kann bedeuten: seien wir revolutionär, aber bitte laßt uns nicht vergessen, eigentlich ist es unmöglich, was wir da wollen. Guevaras Schriften strotzen nicht nur vor lebensbejahendem Selbstbewusstsein - ihn schmerzte die Welt, er war kein Pessimist, aber realistisch genug, süße Melancholie in seine olivgrüne Uniform zu wickeln.

Ist das nicht das Leitmotiv revolutionären Denkens? Wo die Anpacker und Hemdsärmelaufstülper an die Revolution gehen, da ist es mit dem Grundkonsens einer gesellschaftlichen Veränderung nicht weit her. Siehe 1918. Siehe 1789. Deren erhoffte bessere Gesellschaft wurde zu einer "Gesellschaft wie gehabt" - ein wenig modifiziert, ein wenig frisch organisiert, aber endlich doch so, wie der Vorgänger. Aus Ochrana wurde Tscheka; aus Gottesgnadentum die Allherrlichkeit des Wohlfahrtsausschuss! Der Melancholiker weiß das, er ahnt es zumindest; er kennt die Gefahren, die der Mensch und die menschliche Gesellschaft in sich trägt. Die besten Absichten sind Gülle, wenn man mit dem Schwert der Unfehlbarkeit ans Werk geht, wenn man die eigenen Sehnsüchte zu einem Ziel erklärt, zu dem man auch mit Repression oder Gewalt gelangen darf. Die Aufgabe des "Saudadista" ist weniger, sich zum Anführer oder maximo líder einer Bewegung zu machen. Seine Skepsis, seine weltschmerzliche Erfahrung, die er in den Diskurs wirft, das ist sein Metier. Damit tut er seinen Dienst. Che Guevara war vielmehr das, als alles andere. Er war Revoluzzer, aber er hat Bedenken gehabt, er war der Melancholiker, der ahnte, dass die neue, die bessere Gesellschaft auch Makel haben kann - und haben wird.

Spanische Wurzeln sind die meinen. Teilweise jedenfalls. In diesen Tagen toman los españoles la calle, ergreifen die Spanier die Straße. Wie soll ich mich dazu äußern? Das frage ich mich seither. Was kann ich sagen? Der Optimismus, der nun auf diesen Kundgebungen ruht, er beschämt mich. Gleich vorweg, ich finde es richtig, notwendig - aber dieser schnöde Optimismus! Gleichwohl der Pessimismus anderer Leute, das alles würde eh nichts bringen. Weiß man das vorher? Und wenn ja, wofür in dieser Welt immer einiges spricht, soll man dann stillhalten? Eine Ökonomie der Sehnsüchte einführen? Sehnsucht nur dann, wenn sie sich rentiert? Mich erfüllen die spanischen Verhältnisse dennoch mit Melancholie, denn die Hoffnungen zerschlagen sich vermutlich - vermutlich sogar besonders schnell. Gewehrläufe sind immer in Diensten der Herren, nie den Demonstranten unterstellt - das darf man nie vergessen. Die Empirie der Menschheit zeigt, am Ende sind Sündenböcke notwendig. Ach, Migranten in Spanien, nehmt euch in Acht! Euch kann man gerade so leiden, wenn ihr für Wasser und Brot in der flirrenden Hitze Südspaniens malocht - aber Rechte? Bessere Behandlung? Geht doch heim!, rufen sie dann - schreien das auch Familienmitglieder von mir? Familienmitglieder, deren Onkel oder Bruder oder Cousin, mein Vater also, selbst mit solchen verbalen Frechheiten übergossen wurde, als er in einem fernen Lande gastarbeitete?

Der Saudadista mag das Bukett des Umsturzes herrlich finden - ich tue es jedenfalls, ich halte es für notwendig. Aber der Stein, der da sisyphosgleich hinaufgewälzt wird, er muß erstmal vom Zurückrollen bewahrt, er muß gesichert werden. Ich bin kein Pessimist, wenn ich erkläre, dass ich genau daran zweifle - Felsbrocken lassen sich manchmal nur sehr schwer sichern. Der Schmerz, den diese Welt uns antut, die Diskrepanz zwischen Sehnsucht und der Wirklichkeit, auch der Wirklichkeit nach Erfüllung der Sehnsucht, die oftmals unzureichend ist, wie die Zeit davor - dieser Schmerz, er macht mich zum Realisten...



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Immer gefährlicher, immer rentabler

Freitag, 27. Mai 2011

Die Debatte ob Atomkraft oder nicht, sie war schon vor Jahren eine rein ideologische, die wirtschaftliche Gesichtspunkte völlig ausklammerte. Das lag daran, dass die Atomkraft mausetot war und noch immer ist - lediglich die dahinterstehende Lobby und deren Lohnschreiber suggerierten, dass in der Atomenergie eine Zukunft liegen könnte. Das taten sie, während alle messenswerten Indikatoren präzisierten, dass dem nicht so ist, dass das Gegenteil wahr ist.

Die öffentlichen Debatten waren ein Scheingefecht - neue Atommeiler, als Zukunftsmodell, waren bestenfalls der feuchte Traum der Atom-Lobby, reines Wunschdenken. Man debattierte ausschließlich, um die bereits am Netz angestöpselten Reaktoren zu verlängern. Mit Reaktoren, die bereits im Betrieb sind, die bereits zwanzig oder mehr Jahre Strom erzeugen, verdient die Branche ihr Geld. Solche Reaktoren sind es freilich auch, die besonders störanfällig sind. Neue Projekte kosten Unsummen. Der Bau von Atommeilern ist zeitintensiv und wird von den Behörden, die von der öffentlichen Meinung unter strenger Beobachtung stehen, immer wieder gebremst. Das investierte Kapital ruht in dieser Zeit. Manche Baustelle tritt deshalb bereits ins dritte Jahrzehnt. Gerd Rosenkranz schreibt in seinem Buch "Mythen der Atomkraft" (fast schon ein Standardwerk, wenn auch im Hosentaschenformat!), dass man "in anderen Zusammenhängen [...] solche Baustellen: Bauruinen" nennt. So läppern sich unvorstellbare Investitionskosten an, die entweder niemals Gewinn abwerfen oder, falls der Reaktor nach vielen Jahren doch in Betrieb gehen sollte, die eine halbe Ewigkeit benötigen, um sich zu amortisieren. Außerdem müssen dann Rücklagen gebildet werden, um die Folgekosten zur Lagerung von radioaktiven Material oder der Stilllegung stemmen zu können. Letztere gäbe es ja quasi nie, wenn es nach den Atombetreibern ginge, denn nur alte Meiler sind rentable Meiler - und gefährlicher als jüngere Modelle, was man allerdings nicht so gerne laut sagt.

Als man vor einigen Jahren von einer Renaissance der Atomkraft sprach, da war die Zahl der Atommeiler weltweit rückläufig - und das, obwohl im asiatischen Raum Neubauten geplant und bereits begonnen wurden. In Europa existieren nur zwei Baustellen - beide jahrelange Friedhöfe für Milliarden. Die Bush-Regierung hat wie keine US-Regierung zuvor (und vermutlich wie keine danach) um Investoren für neue Meiler gebuhlt. Man versprach horrende Subventionen, entband etwaige Betreiber von der Verantwortung (gab diese dem Steuerzahler in die Hand), sollte es doch zu einem Zwischenfall kommen, wollte gar dafür sorgen, dass der Atomstrom künstlich, durch steuerpolitische Maßnahmen, konkurrenzfähig würde - allerdings wurde dennoch kein Investor gefunden.

Die Atomkraft ist nicht erst seit Fukushima tot. Sie ist eine greise, sterbenskranke Technologie. Jegliche Debatte will nicht "neues Leben" schaffen, sie will das Siechtum nur verlängern - Laufzeitverlängerung nennt sich das dann. Die Gefahr ist nicht, dass eine grundsätzliche Zukunftsausrichtung auf Atomkraft stattfinden könnte, denn neue Anlagen wird es nicht geben. Als die Bundesregierung ankündigte, sie würde alte AKWs vom Netz nehmen, jedenfalls so lange, bis sie nachgerüstet und auf den neuesten Stand gebracht würden, da haben einige Energie-Multis gleich davon gesprochen, solche AKWs nicht mehr eröffnen zu wollen - zu teuer, zu vage wäre eine solche Investition. Es geht nur noch um die Anlagen, die bereits existieren - und darum, ob die Diskussion über Jahre am Leben gehalten wird, damit heute nicht der endgültige Atomausstieg beschlossen wird, um übermorgen nochmals über Laufzeitverlängerungen zu entscheiden. Die amtierenden Meiler werden nämlich nicht nur immer störanfälliger und damit gefährlicher, sie werden auch immer rentabler - und wer gibt schon gerne eine Goldgrube auf?



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Facie prima

Donnerstag, 26. Mai 2011

Heute: Der Verurteilte, Dominique Strauss-Kahn

Er steht im Verdacht, eine Frau zum Sex gezwungen zu haben. Er wird verdächtigt, seine Stellung schamlos ausgenutzt zu haben. Ihm wird aufgrund des Verdachts der Vergewaltigung, sexueller Belästigung und der Freiheitsberaubung der Prozess gemacht. Doch der Verdachtsmoment ist dahin - so wie Strauss-Kahn in den Zeitungen abgelichtet wird, wird der Verdacht für den Leser zur reinen Makulatur, zu etwas, was man bereits überspringen kann, weil es bereits erledigt scheint. Der Abgeführte ist nicht über jeden Verdacht erhaben, er ist über jeden Verdacht hinaus - er ist post-verdächtig, bereits im Stand der Schuld angelangt. Ein in Handschellen abgeführter Mann sieht nicht nach Verdacht aus, er verbreitet die Aura der Schuld - wird optisch schuldig gesprochen. Natürlich könnte sich der Verdacht erhärten und später auch bestätigen. Aber die Verurteilung hat vor Gericht zu geschehen, unabhängig, überparteilich und nicht a priori durch die geschickte Setzung von Fotos manipuliert. Können Richter, die ja auch nur Menschen sind, daher irren und sich manipulieren lassen können, noch objektiv (ver-)urteilen, wenn der Angeklagte schon vorher medienwirksam als Schuldiger abgelichtet wurde?

Was spräche eigentlich dagegen, in einem so heiklen Verfahren ein neutrales Foto Strauss-Kahns zu verwenden? Eines aus seiner Vita, seinem Pressebüro, eines, das von seiner Partei oder seiner Behörde für Medienzwecke zur Verfügung gestellt wurde? Sicherlich sind solche Fotos Idealbilder, sollen den Abgelichteten ins rechte Licht schönen. Aber ist ein so problematischer Fall nicht eine Ausnahme? Kann man da nicht ausnahmsweise auf ein neutrales Pressefoto zurückgreifen? Aus rechtsstaatlichen Bedenken heraus? Bei anderen Schlagzeilen, bei denen Politiker oder Wirtschaftskapitäne schlecht abschneiden, greift man doch auch auf neutrale Lichtbilder zurück - mit zuvorkommender Rücksichtnahme, um die Würde der Person zu gewährleisten. Sah man Peter Hartz bei seiner Abführung? Von Strauss-Kahn ist persönlich und politisch zu halten was man will, aber noch ist er unschuldig, bis seine Schuld vor Gericht bewiesen werden kann. Daran halten sich diejenigen, die die grafische Aufbereitung von Artikeln betreuen, jedoch kaum.

"Sperma von Strauss-Kahn!" lautete die Schlagzeile, die dieses Bild zierte. Es wirkt so, als würde dieser Mann flehen. Als würde er als Überführter um Gnade winseln - oder Einsicht zeigen - oder beten. Das Bild ist ein optisches Schuldeingeständnis. Möglicherweise ist das Sperma von ihm - das kann es allerdings auch dann sein, wenn beide einvernehmlich miteinander kopulierten. Genau dies hat ein Gericht festzustellen. Obwohl die Texte neben solchen Bildern durchaus kritisch und objektiv sein können (nicht alle sind es!), unterstreicht eine solche Fotoauswahl die Schuldigkeit. Noch bevor der Artikel gelesen wurde, nährt man das Unterbewusstsein des Lesers. Der weiß schon vorher, oder besser gesagt, er meint zu wissen, dass Strauss-Kahn ein Vergewaltiger ist. Möglicherweise liest er den Artikel deshalb auch gar nicht mehr. Solche Fotos sind ein Affront gegen die Unschuldsvermutung und untergraben den fairen Verlauf des Rechtsstaates. Selbst wenn eine mögliche Unschuld am Ende herauskäme, die Bilder brennen sich ein. Irgendwas bleibt zwar immer hängen - aber solche Fotos machen dieses Immer noch immerwährender.


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1986 und heute

Mittwoch, 25. Mai 2011

Letzten Sonntag vor fünfundzwanzig Jahren, da lief der Scheibenwischer nicht über die Mattscheibe des Bayerischen Rundfunks. Tschernobyl war noch keine vier Wochen her und das politische Kabarett der ARD-Anstalten RBB und BR, wollte sein Programm nuklear auffüllen. "Der verstrahlte Großvater" sollte das Stück heißen, an dem der BR Anstoß nehmen würde. Dem Fernsehdirektor des BR war das ganze Konzept der geplanten Sendung suspekt, Tschernobyl war schließlich nicht die Sorge der westlichen Hemisphäre und deutsche Atomkraftwerke waren schon damals die sichersten der Welt - jedenfalls dann, wenn man in Deutschland lebte, denn in Frankreich waren von jeher französische AKWs die sichersten und in Japan waren es japanische... aber sprechen wir nicht von Japan.

Den "verstrahlten Großvater" bekamen bayerische Fernsehzuschauer nicht zu Gesicht. Der Bayerische Rundfunk blendete sich aus und der Scheibenwischer galt ein Weilchen als Unterschlupf subversiver Elemente. 1986 war das - seither hat sich nicht viel geändert. Gut, es ist schon wahr, heute haben wir den Satire Gipfel und der ist ungefähr so subversiv wie der Verfassungsschutz - wobei der wiederum witzigere Sketche liefert. Der Satire Gipfel läuft nicht Gefahr, ausgeblendet zu werden. Dies wäre ohnehin vergebliche Arbeit, denn die drei Hansel, die den noch verfolgen, stellen keine Gefahr mehr dar. Inhaltlich bewegt man sich sowieso zwischen Zahn- und Harmlosigkeit. Den Biss, den der Scheibenwischer in seinen letzten Jahren schon - gedankt sei Bruno Jonas! - verloren hatte, den hat der Satire Gipfel nie aufgewiesen.

Viel geändert - viel gleich geblieben. Verstrahlte Großväter sieht man auch heute nicht. Als Japan zu strahlen begann, da trieb es die Medien reihum zu diesem Thema. Verständlicherweise! Nun schweigen sie dazu, manchmal eine Fußnote oder Randnotiz. Mehr schon nicht. Japan wird medial nicht mehr ausgestrahlt, obwohl es sich dort noch lange nicht ausgestrahlt hat. Berichte über verstrahlte Großväter und Großmütter, Eltern, Enkel und Enkelinnen? Keine! Zwar dominiert der Atomausstieg seither das agenda setting, aber mit schonungsloser Offenheit geht man an das Thema nicht heran. Man wagt es nicht, Bilder aus dem Kriegsgebiet in deutsche Wohnzimmer zu liefern - aus einem Kriegs-, nicht Krisengebiet, denn die Atommafia hat die dortige Menschheit nicht in die Krise gestürzt, sie führt täglich einen Krieg gegen die gesamte Menschheit.

Im Ergebnis gleichen sich 1986 und heute. Die Verfahrensweise ist aber tatsächlich eine andere. Damals blendete sich eine Sendeanstalt aus, machte das Kabarett mundtot. Heute muß nicht mehr gedroht werden, man tötet das zu lose Mundwerk schon ganz von alleine ab. Damals konnte man noch von Zensur sprechen, heute kommt es dazu gar nicht mehr. Über die Risiken und Nebenwirkungen der Atomkraft, und das in aller Ausführlichkeit, spricht man in der heutigen Öffentlichkeit auch nicht. Ersatzweise ideologisches "Raus aus der Atomenergie!"-Parolieren oder "Atomenergie ist lebenswichtig!"-Skandieren - keine Grundlagen, kein Basiswissen, das man den Menschen vermittelt. Wie funktioniert ein Reaktor? Wie baut man Uran ab... gibt es überhaupt noch ausreichend Uran? Wiederaufbereitungsanlagen - was sind die Gefahren? Können regenerative Energien den Strombedarf abdecken? Wenn ja, wie? Wenn nein, warum? Weshalb ist der deklarierte Energie-Mix eine Bremse für erneuerbare Energien? Und aus gegebenen Anlass: Welche Folgen hat ein GAU? Wie sieht es in einer Gegend aus, die unter Strahlung steht? Wie sehen dort Meere aus? Menschen? Menschlicher Nachwuchs? Tiere? Nichts! Das Atom-Pack verhindert und grenzt ein, schmiert und untergräbt...

Funkstille. Keine Bilderflut in einer ansonsten so bilderreichen Gesellschaft. Programmdirektoren müssen hierzu keine Leitung mehr kappen lassen. Es reicht ein absolutistisches Wort - wenn überhaupt, wenn nicht die kleinen Informationsangestellten aus den Medienbetrieben von selbst schweigen, weil es bequemer ist und den Arbeitsplatz nicht antastet. Zwar kann man heute im Kabarett gegen Atomenergie aufbegehren und aufklären - unter Arschloch!-Rufen zwar, wie es neulich Georg Schramm widerfuhr -, aber das liegt auch daran, dass politisches Kabarett als Stiefkind im späten Abendprogramm angesetzt ist. Und mehr als die Hälfte des Kabaretts ist, man denke nochmals an den Gipfel der Impertinenz, der auch Satire Gipfel heißt, überhaupt nicht zur Aufklärung gedacht. Und was dann von Neues aus der Anstalt beim Betrachter haften bleibt, wird später beim abendlichen oder nächtlichen Politgequassel wieder vergessen gemacht - bis nichts mehr im Kopf zurückbleibt.

Damals schützten Programmaussetzer den Betrachter vor Aufklärung - heute können sie ohne Programmunterbrechung geschützt werden. Das nennt sich fortschrittlich! Aber geändert hat sich relativ wenig...



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Zweiundachtzig Millionen

Dienstag, 24. Mai 2011

Wir sind 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Man muß uns filmen, observieren und durchleuchten. Wir sind suspekt; wir sind möglich gefährlich. Was schreiben wir uns per e-Mail? Was in Briefen? Wohin fließt unser Geld? Warum überweist Hinz monatlich Geld an eine Sex-Hotline? Was hat Kunz mit der Gewerkschaft zu schaffen? Wir müssen überwacht werden - auf öffentlichen Plätzen und auf intimen Computern. Man kann uns nicht aus den Augen lassen, denn wir ticken als Zeitbombe. Für uns gilt nicht die Unschuldsvermutung, denn wir sind grundsätzlich...

... 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Präventiv sind wir als Verbrecher wahrzunehmen. Bis wir unsere Unschuld bewiesen haben. Geraten wir in soziale Englage, so sind wir präventiv Sozialbetrüger. Bis wir die Behörde davon überzeugt haben, dass wir es ernst meinen mit unserer Bedürftigkeit. Man meint es nicht böse, man will uns nichts unterstellen - aber die Situation erfordert es leider, dass man uns präventiv und prophylatisch verdächtigt. Um der Gesellschaft ihre Freiheit zu garantieren, muß sie sich die Freiheit nehmen, den Bürger zu verdächtigen. Wobei gilt, dass wir dann keine Bürger mehr sind, wir sind dann nur noch...

... 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Und für die gibt es kein Bürgerstrafrecht mehr - für die gilt ein Feindstrafrecht. Feinde sind keine Bürger, sie haben keinen Anspruch auf Bürgerrechte, in denen es noch nach In dubio pro reo riecht. Als Feind ist man zunächst schuldig, bevor man seine Unschuld vielleicht doch noch beweisen kann. Beweislastumkehr auch bei Hartz IV - als Maxime eines neues Rechtsbewusstseins. Nicht abwarten, bis Verbrechen geschehen - präventiv in die Enge treiben, verurteilen, einbuchten! Der präventive Rechtsstaat ist ein Staat der Gesinnungsschnüffelei und des Vorurteils. Entstanden ist diese Abkehr vom aufgeklärten Rechtsstaat mit seinem positiven Menschenbild nicht deshalb, um Terroristen zu zähmen - das wurde nur als Feigenblatt erklärt; entstanden ist diese Entsagung von rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeiten für uns, für...

... 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Ein a priori verurteilter Personenkreis benötigt keine Menschen- und Bürgerrechte. Benötigt keinen Anspruch darauf, erst dann als schuldig zu gelten, wenn man ihm eine Schuld nachgewiesen hat. Benötigt keine Gleichheitsprämissen. Benötigt keine weltanschaulichen Freiheiten. Da die gesellschaftliche Freiheit in Gefahr ist, so erklärt man es, benötigt man die Einschränkung einzelner Freiheiten. Wobei das alles dramatisiert ist, denn man sollte auch die gute Seite sehen: Huber ist verdächtig, weil er arbeitslos ist; Müller ist verdächtig, weil er Steuern hinterziehen könnte, vielleicht ungestraft mit dem Auto rast oder Mitglied bei einer linken Vereinigung ist; Schmitz ist es, weil er Kontakte zur örtlichen Moschee unterhält; Said ist verdächtig, weil er so heißt, so aussieht, so gewandet ist. Der Präventivstaat mit seiner Haltung, jeden zunächst zu verdächtigen, hat es geschafft, was lange versprochen, nie aber gänzlich umgesetzt wurde: er hat die Gleichheit gebracht - jeder ist gleich; auf einem niedrigen Level fürwahr, aber doch gleich. Wir sind alle gleich, alle...

... 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Mit uns kann man nicht unvoreingenommen umgehen - der Staat kann nicht vorurteilsfrei gegenüber seinen Bürgern auftreten. Das wäre fatal! Was, wenn man unvoreingenommen auf einen Bürger eingeht und der ist letztlich ein Krimineller? Alle vorverurteilen - das ist gerechter und sicherer! Man verdächtigt uns doch nur aus Gründen der Sicherheit. Der Staat verdächtigt uns nur deswegen generell, weil er es gut mit uns meint. Meinte er es schlecht, würde er uns vorurteilsfrei händeln - aber weil er es gerade gut meint, behandelt er uns wie mögliche Verbrecher. Denn das erspart uns allen böse Überraschungen und Enttäuschungen. Wenn ein Staat seinen Staatsbürgern zutraut, dass diese alle mit krimineller Energie ausgestattet sind, dann ist er nicht misstrauisch - dann kommt er lediglich seiner Fürsorgepflicht nach. Er glaubt sich vorausschauend, wenn er sagt, wir seien allesamt...

... 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Das ist nur katholische Moral, aus der wir uns nicht herauswinden können. Katholische Moral, die uns lehrt, dass wir alle Sünder sind. Sicher, man sagt uns, dass die Kameras durch die hindurchfilmen, die nichts zu verbergen haben - Kontodaten von unbescholtenen Bürgern würde der begutachtende Beamte sofort aus seinem Gedächtnis sortieren - geöffnete Briefe aus unschuldiger Feder würden die Brieföffner zusammenhanglos lesen, um nicht den Sinngehalt des Schreibens zu entschlüsseln und Persönlichkeitsrechte nicht unnötig zu verletzen. Nur ein Problem ergibt sich: auch wenn keine Terroristen unter denen sind
, die säuberlich überwacht werden, Sünder sind immer darunter. Wir sind doch alle Sünder! Nicht Terroristen zwar, aber doch Diebe, Betrüger, Lügner oder moralisch Abartige. Da darf der Staat nicht einfach schweigen, keine Komplizenschaft annehmen von seinen...

... 82 Millionen potenziellen Kriminellen!
Und in einem solchen Lande, in dem Millionen kriminell veranlagt sind, wo jeder ein großer oder kleiner Sünder ist, da kann man rigoros durchgreifen. Da kann man Verdächtige auch mal längerfristig präventiv-inhaftieren oder entführte Flugzeuge vom Himmel knallen. Man trifft ja keinen Falschen, trifft im Zweifelsfall immer jemanden, der gesündigt hat und tötet keine Bürger, sondern befreit dieses Land von einigen hundert potenziellen Kriminellen...



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Der Linksruck in Deutschland

Montag, 23. Mai 2011

Man kann sich schon vorstellen, was bald in den Spalten, die die Welt nicht braucht, im Feuilleton großer Tagesgazetten, gepinselt wird. Die Republik stehe nun vor einem Linksruck, wird man da lesen müssen. Rote und Grüne eroberten Baden-Württemberg, Grüne drängten sich nach Rheinland-Pfalz und beide im Verbund hielten die Bremer Bastion mit Nachdrücklichkeit. Die Libertinage der Liberalen findet unterdessen überhaupt kein Landesparlament mehr und die Christdemokraten verlieren Prozentpunkte und Nerven, beides im zweistelligen Bereich.

Linksruck! wird es bald durch die Redaktionsräume schallen. Der gute alte Konservatismus findet keine Mehrheiten mehr - wobei die, die mit dem Aufkleber "Konservatismus" am Revers herumliefen, gar nie konservativ waren, sondern wechselweise reaktionär oder neoliberal - je nach Wetterlage und Erfordernis. Konservativ wäre ja eigentlich vielmehr Kretschmann, den man aber unter dem Schlagwort "Linksruck" verortet. Nach links driftet dieses Land bereits dann ab, wenn Parteien in Ämter rutschen, die als erste militärische Auslandseinsätze der Bundeswehr oder die einschneidendste Sozialreform zulasten der Ärmsten der Gesellschaft verabschiedeten. Ist das der linke Abweg in diesem Lande? Wenn ja, wie sieht dann der rechte Pfad aus? Betreibt der rechte Konservatismus Mordbrennerei unter den Armen, sodass die "Segnungen des SGB II" sich noch als linke Gutmenschelei herausnehmen können?

Was die Linksruck-Parolen ausmacht, kann nicht erklärt werden - es gibt hierfür keine sinnvollen Erklärungen. Diejenigen, die sich demnächst um die nach links schlitternde Republik sorgen werden, sind antiquierte Lagerdenker, vergessene kalte Krieger aus Zeiten, da es tatsächlich noch unterschiedliche Nuancen zwischen Christ- und Sozialdemokraten gab - und zwischen Liberalen und Grünen sowieso. Was sie heute unterscheidet ist die raue Schale, denn ihr Kern ist bei allen genauso weich. Matschig im Inneren, nur das Äußere unterscheidet sich. Das heißt, eigentlich ist es die raue Schale, die manche haben und manche nicht. Denen von der Sozialdemokratie und den Grünen fehlt die raue Pigmentierung weitestgehend. Sie wirken etwas lockerer, etwas galanter, sehen freundlicher drein, tragen weniger schlechte Anzüge auf ihren weniger fetten Ranzen - es sind Neoliberale und Reaktionäre, die nicht neoliberal und reaktionär aussehen; Spießer, die die Spießigkeit, vermittels besserer PR, nicht mehr unmittelbar auf der Haut tragen. Möglich, dass ihnen die vielen Jahre der Korruption und des Nepotismus abgehen, die den anderen inzestuös potenziert auf den Leib geworfen wurde.

Linksruck in der Bundesrepublik bedeutet, dass Menschen und Parteien in Ämter gehoben werden, die nicht allzu linkisch aussehen. Freundlichere Gesichtszüge, die denselben Mist herunterbeten und praktizieren, wie ihre Kollegen, die unbeholfen und taperig ihrem big business in schwarz oder gelb nachlaufen. Linksruck ist, wenn derselbe reaktionäre Brei und dieselbe neoliberale Herrenmenschelei und derselbe wirtschaftliche Schmierfilm angekurbelt wird wie einst - nur mit etwas ansehnlicheren Gesichtern, etwas menschlicheren Menschen. Das unkende Feuilleton hätte damit recht: der Linksruck ist brandgefährlich für dieses Land! Denn wenn höflichere Gestalten dieselbe Unhöflichkeit umsetzen, wie vormals die hölzernen und ungelenken Mappusse dieses filzigen Landes, dann wird der Skandal herrschender (Klientel-)Politik mittels grünsozialdemokratischer Charmeoffensive eingelullt.

Linksruck heißt hier und heute, neoliberale und marktorientierte Politik mit Charme und ein wenig Liebreiz vermittelt zu bekommen. Den Geiferern des Feuilletons scheint dies zu stinken. Sie mögen keine falschen Freundlichkeiten, die von der Unfreundlichkeit ihrer bevorzugten Politik ablenken könnte, die vielleicht falsche Hoffnungen anfacht und die Wähler träumen läßt, es möge doch nicht alles so schlecht sein, wie es gemeinhin heißt. Inhaltlich kann den bewährten Feuilletonisten der Linksruck nichts ausmachen - denn der ist derselbe. Er ist dasselbe Nichts, dasselbe Arrangement aus Entsolidarisierung und fast schon spastisch egoistischen Affekten. Nein, es ist das Wie der Vermittlung. Der Linksruck stülpt der Wirtschaft und der Politik (und der Wirtschaftspolitik!) eine tarnende Maske über. Er lenkt ab, er kaschiert, macht die Entsolidarisierung innerhalb der Gesellschaft unsichtbar. Freundlichere Charaktermasken aus den Schmieden der Sozialdemokratie und der Grünen vermitteln die ganze Härte nicht mit der nötigen harten Nachdrücklichkeit, sie wirken immer noch ein wenig milde, ein bisschen einsichtig und mitleidend, schaffen es dauerhaft, dass man ihnen abnimmt, sie würden die Schwere ihrer Entscheidung quälend in sich hineinfressen und daran menschlich und überdies mitmenschlich zerbrechen. "Mit Bauchschmerzen" verkünden sie einschneidende Reformen - ihre Kollegen in schwarz und gelb haben Bauchschmerzen höchstens, wenn sie sich überfressen haben.

Linksruck! empören sie sich nur, die Herren und Damen Feuilletonisten und Feulletonistinnen, weil sie ehrliche Häute und Häutinnen sind. Sie meinen es nur gut, daher ihr alsbaldiger Aufschrei in den Spalten rechts oben oder links unten. Sie stehen auf Ehrlichkeit und schätzen die Tölpelhaftigkeit derer, die sich erst gar keine Mühe machen, ihren Quark mit freundlicher Miene an den Mann und die Frau mit Wahlbenachrichtigungskarte zu bringen. Denn wer unfreundlich und aufgeblasen Unfreundlichkeit und Aufgeblasenheit ans Volk bringt, der bringt der gebotenen Ernst mit, der macht den Menschen kein X für ein U vor, keine falsche Menschlichkeit für richtige Unmenschlichkeit...



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Nomen non est omen

Freitag, 20. Mai 2011

Heute: "Verschwörungstheorie"
"Verschwörungstheorien sind abstrus, sie vermischen Fakten mit erfundenen Behauptungen, und was allen gemeinsam ist: sie bauen auf stereotypen Feindbildern auf."
- planet-wissen.de -
Der Begriff Verschwörungstheorie ist meist negativ konnotiert und soll Ansätze und Erklärungsversuche zu bestimmten Sachverhalten diskreditieren oder sogar lächerlich machen. Die Behauptung ist, dass jemand mit seiner Erklärung, eine "Verschwörung" zu sehen scheint und damit nicht ernst genommen werden müsse. Ob der Erklärungsansatz der Wahrheit entspricht oder nicht, spielt hierbei primär keine Rolle, es geht um die Verunglimpfung eines Erklärungsversuchs. Außerdem soll dem vermeintlichen "Verschwörungstheoretiker" einen mangelnden Realitätsbezug, Paranoia und Unsachlichkeit vorgeworfen werden. Dabei funktioniert das Schlagwort auf mehreren Ebenen.

Zunächst bin ich der Überzeugung, dass Wissen und Glauben eben nicht konträr zueinander stehen. Auch Fakten, Beweise und Tatsachen werden erst dann als solche anerkannt, wenn an sie geglaubt wird. Endgültige objektive Fakten kann es in einer arbeitsteiligen Gesellschaft gar nicht geben. Insofern ist das oft reproduzierte Denken, dass Wissen objektiv sei und den Tatsachen entspreche und das Glaube nur subjektive Spinnerei sei, naiv und leichtgläubig. Wissen und Glauben sind zwei Seiten einer Medaille, prägen, bestimmen und beeinflussen sich gegenseitig. Wir glauben das, was uns in den bürgerlichen Medien, in der Schule, in Büchern usw. erzählt wird und halten es für Tatsachen. Letztlich ist alles Glaube und kein Wissen. Wir selbst entscheiden nur, was wir bereit sind zu glauben und was nicht. Insofern ist der Vorwurf der "Verschwörungstheorie" ein Zeichen dafür, dass wir an einen bestimmten Erklärungsansatz nicht bereit sind zu glauben. Was aber wenig damit zu tun hat, ob es nun wahr ist oder nicht.

Darüber hinaus würden kritische Zeitgenossen zustimmen, dass die Welt selten so ist, wie sie scheint. Selten so ist, wie sie uns in Medien, Büchern, Schulen usw. erklärt wird. Geschichte wird von den Siegern geschrieben, Medien lügen, verzerren und ignorieren gezielt Sachverhalte, Eltern erzählen uns – meist aus Rücksicht – oft nur die halbe Wahrheit, Unternehmen verdrehen Sachverhalte wie es ihnen am meisten Profit bringt usw. Es sei mal dahingestellt, ob es eine objektive letztgültige Wahrheit hinter den Dingen überhaupt gibt und geben kann, sicher ist aber, dass wir tagtäglich belogen und betrogen werden.

Das kritische Hinterfragen von vermeintlichen Offensichtlichkeiten gehört demnach zum aufgeklärten und kritischen Geist. Das nun viele das Diktat der Wahrheit für sich in Anspruch nehmen möchten, ist dabei wenig verwunderlich. Wer jedoch anderen eine Verschwörungstheorie vorwirft, unterstellt zugleich, dass es keine Verschwörungen gibt. Im Zeitalter des Internets kommt aber so einiges ans Tageslicht, was bis vor einigen Jahren, viele als Spinnerei und Verschwörungstheorie abgetan hätten. Ich denke hierbei an Wikileaks, aber auch an Vroniplag. Nicht zu vergessen sind auch die weltweiten jahrzehntelangen CIA-Machenschaften rund um den Globus.

Das vermeintliche Gegenteil einer Verschwörungstheorie wären demnach Fakten, Tatsachen und Beweise. Nun liegt es aber in der Natur der Sache, dass es nicht für jeden Sachverhalt stichhaltige Beweise oder Fakten geben kann und meist auch nicht geben soll. Geheimnisse sollen geheim bleiben. Verschwörungstheorien funktionieren aber auch als Ablenkung, Verwirrung und Desinformation. Um die vermeintliche Wahrheit hinter den Dingen zu verschleiern und zu verbergen, werden gezielt Erklärungsversuche gestreut, die als schwer nachvollziehbar gelten. Manchmal wird auch der Wahrheit nicht getraut — und so wird die Wahrheit selbst zur besten Tarnung.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Deutsche Verhältnisse, europäische Verhältnisse

Donnerstag, 19. Mai 2011

Die Zentralisierung Europas sollte vorangetrieben werden. Das meint jedenfalls Kanzlerin Merkel. Diesmal plädiert sie für eine Gleichschaltung und Vereinheitlichung des Renteneintrittsalters. Auf welchem Niveau es in etwa liegen sollte, verrät sie indes nicht. Dass sie aber "griechische Verhältnisse" abschaffen möchte, betont sie ausdrücklich - womit auch eine Antwort gegeben werden kann: nicht griechische, aber deutsche Verhältnisse sind europäisch erwünscht. Nicht von den Europäern vielleicht, aber dafür von der deutschen Regierung.

Ob nun Merkel selbst oder nur Der Tagesspiegel davon spricht, dass in Griechenland mit spätestens "Ende 50 in den Ruhestand" gegangen wird, bleibt vage - die Zahlen dürften jedoch vermutlich aus einer dunklen Schublade des beBILDderten Boulevardjournalismus stammen. Die EU-Kommission kam kürzlich noch zu anderen Zahlen. Und nach denen unterscheidet sich das effektive Renteneintrittsalter zwischen Griechenland und Deutschland nur unwesentlich. Aber Zahlen tun dem Eifer der Kanzlerin freilich keinen Abbruch und so fordert sie ungehindert die europäische Einheit auch in Rentenfragen.

Nicht was die Rentenhöhe betrifft, versteht sich. Und auch nicht in der Metafrage schlechthin, der Grundlage jedes Renteneintrittsalters: der Lebenserwartung! Eine europäisch zentralisierte Lebenserwartung gibt es nämlich nicht - die wurde bisher noch nicht verabschiedet und sie scheint auch nicht auf der Agenda der EU-Politik zu stehen, sondern als eigene Angelegenheit der jeweiligen Nationen verstanden zu werden. Deutsche Verhältnisse zum Renteneintritt würde litauischen Männern letzte geruhsame Jahre rauben, denn die werden durchschnittlich nicht mal 65 Lenze alt. Lettische Männer hätten mehr Glück, denn sie würden bis zum Inkrafttreten der "Rente mit 67" noch zwei Jahre den Herbst ihres Lebens genießen können. Nach dieser Reform würden Esten noch ein halbes Jahre darben dürfen - Ungarn, Rumänen und Bulgaren gerieten in den großherzigen Luxus, noch ganze zwei Jahre Rentner sein zu dürfen. Hoffentlich sind sie dann nicht schon zu siech, um dieses Gnadengeschenk genießen zu können.

Nun kann man natürlich gepflegt darüber streiten, ob es nicht gnädiger wäre, baltische Greise oder solche aus dem "Ostblock", lange arbeiten zu lassen. Womöglich kämen sie dann besser über die Runden als als Rentner. Mit welcher Arroganz die deutsche Politik in Europa auftritt, ist mit Merkels verbaler Kraftmeierei aber dennoch unterstrichen. Deutsche Verhältnisse für alle!, das ist die Parole der deutschen Politik. Bravourstück ist freilich Deutschlands Asylpolitik, die man heute in ganz Europa praktiziert und die einen letzten Rest an Menschlichkeit ausgeweidet hat - jetzt ist eben die Rentenpolitik dran, nachdem Jahre der Exportweltmeisterschaft schon die Arbeitslosigkeit ins europäische Ausland exportierte. Deutsche Verhältnisse für alle! Was kümmert es da noch, dass litauische Arbeiter gar nicht alt genug werden, um jemals ein Renteneintrittsalter zu erreichen? Weil frühe Rentner Europa Geld kosten, muß gespart werden - auch wenn Osteuropäer dafür buchstäblich bis zum Umfallen schuften müssen. Wenn Osteuropäer ihre Rente nicht mehr erleben, dann rentiert sich das Rentensystem ja erst so richtig...

Europa als wirtschaftliche Einheit! Einig nun auch als Sozialsystem? Ein vereinendes Arbeits- und Sozialrecht will man hingegen nicht. Und eine zentralisierte Lebenserwartung kümmert ohnehin niemanden. Es schert doch den EU-Bürokraten nicht, dass ein Leben in Spanien nicht mit dem Leben in der Slowakei, das Dasein in Griechenland nicht mit dem Dasein in Nordnorwegen zu vergleichen ist. Und für die deutsche Kanzlerin gibt es lediglich, weil es ja nur Deutschland und Ausland gibt, "ein Leben im Ausland" - Ausland ist überall wo nicht Deutschland ist. Die Ausländer aus Europa sollten deutsche Maßstäbe anlegen, denn am deutschen Wesen soll... ach, dieses famose Sprüchlein erlebt auch heute noch Inflation...



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Ein kostbarer Rohstoff

Mittwoch, 18. Mai 2011

Wir erzittern, wenn vom Terrorismus gesprochen wird; wir fürchten uns, wenn wir herrenlose Taschen oder Koffer erspähen; Angst erfüllt uns, wenn höchste Alarmbereitschaft aufgrund eines möglichen Anschlags ansteht. Wir haben Angst vor Bomben und Bombenattrappen, vor Terroristen und solchen, die wie Terroristen aussehen könnten, wenn man wüsste, wie Terroristen denn so aussehen - wir verfallen in Angststarre, bemerken wir bärtige Männer im Kaftan oder gut verhüllte Frauenkörper. In deren Handgepäck vermuten wir Sprengstoff, was uns abermals in Furcht versetzt - und wer als unscheinbarer Zeitgenosse mit solchen anrüchigen Zeitgenossen schwatzt, der ist verdächtig, der macht uns ängstlicher als Angst.

Angst vor Sprengstoff und Autobomben. Angst vor Schläfern und Terroristengönnern. Angst vor Atomsprengköpfen und Giftattentaten. Angst vor dem Islam und dem Islamismus und, wahlweise, vor der Islamisierung. Angst vor fremd aussehenden, befremdlichen Menschen und unorthodoxer Kleidung. Angst vor verwaisten Koffern und Tüten. Angst vor in terroristischen Laboren gezüchteten Krankheitserregern und heimtückischen Viren zur Lähmung der virtuellen Welt. Angst davor, dass der islamische Terrorist offenbar keine Angst hat. Angst davor, dass die rechtsstaatliche Gesetzgebung offenbar, nach allem, was man so hört und liest, viel zu viel Angst kennt, um auch mal hart durchzugreifen.

Zu diesen Ängsten gesellen sich noch andere, auch herkömmliche, als normal geltende. Vor Kriminalität - vor gewalttätigen Horden von Jugendlichen - vor dem sozialen Abstieg - der Bildungsmisere - der demographischen Entwicklung - vor Prüfungen und Versagen - davor, seinen Arbeitsplatz zu verlieren oder aber, was vielleicht schlimmer ist, ihn unter prekären Umständen behalten zu müssen - vor Überfremdung - vor frei herumlaufenden Sexualstraftätern, die man immer zu gnädig bestraft - vor der Steuerfahndung und deren Gerichtsbarkeit, die immer zu streng bestraft. Krebs-Angst! AIDS-Angst! Alzheimer-Angst! Angst betrogen, beschissen zu werden - Angst zu schlecht zu sein - Angst, keine oder keinen abzubekommen - Angst, nicht so hübsch wie ein Idealtyp aus der Werbung zu sein - Angst, Schwächen zugeben zu müssen. Angst vor BSE! Angst vor Gammelfleisch! Angst vor Dioxin-Eiern! Die Angst der Kinder vor anspruchsvollen Eltern - die Angst der Eltern, ihren Kindern nicht gerecht zu werden - die Angst, die die Gesellschaft in Kindern und Eltern schürt, weil sie denen idealisierte Vorstellungen auferlegt - die Angst von Senioren, nicht mehr braucht zu werden - die Angst vor Alten, die Jungen eingeimpft wird - die Angst von Dicken und die Angst vor Dicken - die Angst von Kranken und die Angst vor Kranken. Flugangst, Platzangst, Höhenangst - die Angst, sich denen auszuliefern, die die Angst medizinisch und psychologisch in den Griff bekommen wollen - die Angst vor der Angst...

Die geschürte Angst erlaubt es den Machthabenden, strenge Gesetze und rückwärtsgewandte, der Aufklärung entfremdete Rechtspraxen anzuwenden. Sie ist der Rohstoff, aus dem Rigorosität und Strenge hergestellt werden kann. Wo Menschen Angst haben, da dulden sie es, dass zur Beseitigung ihrer Angst auch Sicherheits- oder Anti-Terror-Pakete geschnürt werden, die die Freiheit jedes einzelnen Bürgers beschneiden. Aufgeklärte Menschen, denen man den Schrecken aus den Gliedern nähme, würden Freiheit und Sicherheit abwägen und womöglich die Freiheit wählen - verängstigte Menschen wägen nichts mehr ab, sie wollen nur Sicherheit.

Daher ist es für die Sicherheitspolitiker und deren Klientel notwendig, die Bürger unter Angst zu halten, zu den herkömmlichen Angstfeldern, noch überpersönliche hinzuzufügen - nur so setzen sie ihre Sicherheitspolitik durch, nur so können sie Maßnahmen durchpeitschen, die präventiv schützen sollen, die dabei aber Bürger- und manchmal sogar Menschenrechte verletzen. Ein Gemeinwesen in Angst muckt nicht auf, wenn das Strafrecht verschärft wird - im Gegenteil, er fordert sogar Haft ohne Gerichtsverfahren und duldet drakonische Strafen ohne Verhandlung. Sich fürchtende Menschen legen keinen Wert auf Gerichte, sie wollen Sicherheit auch ohne Prozess - sie wollen, dass gar keiner oder aber kurzer Prozess mit Gefährdern gemacht wird. Wenn Bürger unter Angst leiden, leidet auch der Rechtsstaat darunter.

Die Angst ist ein kostbarer Rohstoff. Sie macht Massen gefügig, hält sie klein und mundtot. Wer aus seiner Angst aufmuckt und kritisch wird, der könnte selbst ein Grund für die Angst anderer werden. Daher ist jeder Kritiker an Anti-Terror-Gesetzen mit einem Terroristen gleichzusetzen. Man wirft ihm dann vor: Jetzt muß das Volk sich nicht nur vor Terroristen fürchten - jetzt muß es auch Angst vor dir haben; vor dir, der Terrorschutz für unwesentlich hält! Heinrich Böll und Peter Brückner erging es so, sie galten als "intellektuelle Helfershelfer des Terrorismus", nur weil sie sich kontrovers mit dem Terrorismus auseinandersetzten - ihr Fehler war, dass sie keine Angst hatten, dass sie die Angst nicht in Ehrfurcht erstarren ließ. Damit solche Bürger aber auch Angst bekommen und einigermaßen führbar werden, muß man ihr solche einjagen. Das geschieht durch Kriminalisierung, durch Diabolisierung, dadurch, dass man sagt: Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns!

Angst ist Bürgerpflicht in diesen Zeiten. Seine Angst in den Griff zu bekommen wird als teuflisch erachtet, als asozial und gefährlich - man soll ja gerade Angst haben, wenn man einen öffentlichen Ort, einen Bahnhof oder Flughafen betritt; man soll erbeben, wenn man einen abgestellten Koffer erblickt; man muß geradezu in Furcht verfallen, wenn fremdländisch aussehende Männer und Frauen miteinander schwatzen und Handgepäck bei sich führen. Denn wenn sich die Angst unkontrolliert in solchen Augenblicken einen Weg bahnt, dann sind sicherheitspolitische Gesetze ein Selbstläufer - auch dann, wenn sie Bürgerrechte verletzen und Freiheitsrechte auf dem Altar der Sicherheit opfern. Die Angst muß ins Gehirn gestanzt sein, herrenlose Koffer oder Schleier müssen Synonym für Bombe sein; das Betreten eines öffentlichen Gebäudes muß als Fanal für große Gefahr begriffen werden - wenn dem so ist, dann kann sich der Sicherheitsgesetzgeber die Hände reiben. Wenn dem so ist, dann hat der Bürger seine erwartete Bürgerpflicht geleistet.

Die Angst vor Terror macht Staatsterror möglich; die Angst vor Kriminalität macht Staatskriminalität machbar. Was der Staat tut, so denkt sich der fürchtende Bürger, muß von gleicher Härte und gleicher angsteinflößender Qualität und Güte sein, wie das, was der Terrorist oder Kriminelle tut. Nur wenn Funk, Fernsehen und Presse repetieren, dass man beständig ängstlich sein müsse, dann kann der Staat jene Angstmotive zu seiner Maxime machen, vor denen sich der Bürger ansonsten fürchtet, wenn sie aus nichtstaatlichen Gewehrläufen kommt.

Bomben von Terroristen erzeugen Heidenangst - Bomben, abgeworfen von Militärmaschinen, sie schaffen Zuversicht; Verbrecher, die keine Rücksicht auf private Kontodaten nehmen, um Konten zu plündern, die machen uns bange - wenn die Regierung aber bestimmt, dass private Kontodaten nicht mehr heilig sein dürfen, um solchen Kontoplünderern habhaft zu werden, dann atmen wir beruhigt auf; Mörder fällen ihr Urteil über Leben und Tod ohne Gerichtsbarkeit, was uns logischerweise in Schrecken versetzt - wenn man aber demagogisch erklärt, dass solche Subjekte gar keinen Prozess verdient hätten, um einer Strafe überstellt werden zu können, erntet man erleichterten Applaus. Der Rechtsstaat pervertiert, wenn er unter Angst arbeiten soll; dann wird er zu einem Begriff für das Museum.

Angst makes the state go around, the state go around, the state go around! Kapitalisten hatten Angst vor Kommunisten - Kommunisten vor Kapitalisten und Trotzkisten. Nazis fürchteten Juden und Bolschewiki, was sie zu einem Brei vermengten. Die Monarchien erzitterten vor den Massen, die hinter den Sozialisten standen - vorher fürchteten sie sich vor Demokraten und Republikanern - davor gab es eine Zeit, in der sie den kirchlichen Einfluss auf die weltliche Macht öffentlichkeitswirksam verteufelten - aus Angst, versteht sich. Und die katholische Kirche fürchtete Ketzer, Hexen und Teufel. Daher erfand sie die Inquisition, denn diese sollte die Ängste bändigen - und zwar dadurch, selbst Angst zu verbreiten. Angst gegen Angst! Viel hilft viel! Der Katholizismus hatte Inquisitoren - Monarchen hatten Angestellte bei der Ochrana - Kommunisten schufen sich Tschekisten - Nazis hatten lederbemäntelte Beamte bei der GeStaPo - Kapitalisten dankten dem Komitee für unamerikanische Umtriebe - und wir, wir haben brave Anti-Terror-Büttel. Und immer ist das Prinzip dasselbe: man nehme rumorende Angst und setze zu deren Beseitigung freiheitsberaubende Angstmacherei entgegen - das schafft keine Befreiung von der Angst, aber doch wenigstens die Möglichkeit, etwaige Rechte, die einem lästig wurden, außer Kraft zu setzen.

Das Wachstum muß stimmen, erklären uns kapitalistische Ökonomen. Als wäre die Welt unendlich aufblasbar, grenzenlos erweiterbar - Expansion als Sache des Willens, nicht der gegebenen Realitäten! Die Angst fällt unter dasselbe Leitmotiv: ihr Wachstum muß stimmen. Beständig müssen die Märkte der Angst erweitert werden - um mehr Potenzial dafür zu haben, eine lückenlosere und technologisch noch ausgereiftere Überwachung durchzusetzen. Und um Angstfelder, die aufgrund Ausverkauf aufgegeben werden müssen, wie beispielsweise die Angst vor den Kommunisten, adäquat ersetzen zu können. Die Ängstlichkeit des Menschen ist schließlich unantastbar - jeder Bürger hat Anrecht auf sein Stückchen Angst. Und er soll es gefälligst auch gebrauchen, denn ohne Angst wird er unkontrollierbar...



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Sit venia verbo

Dienstag, 17. Mai 2011

"Je größer die Gefahr ist oder je größer sie erscheint, umso einschneidender werden die Maßnahmen, die (auch gegen völlig Unverdächtige) ergriffen werden, um so, angeblich, die Gefahr zu bannen oder zu minimieren; das führt etwa zur staatlich angeordneten Speicherung aller Telekommunikationsdaten auf Vorrat, das führt zu immer umfassenderer Überwachung und Kontrolle. In den längsten Phasen der Menschheitsgeschichte sind Täter, die tatsächlich oder vermeintlich die staatliche Rechtsordnung oder ihre Repräsentanten angegriffen haben, als Feinde und damit als rechtlos behandelt worden. Womöglich geht nun die kurze Geschichte zu Ende, in denen Staaten auch ihre Feinde dem Recht entsprechend behandelten, und sich, auch deswegen, Rechtsstaaten nannten. Innere Sicherheit wächst damit nicht. Die Garantien des Strafrechts sind keine Garantien mehr, wenn sie gerade dann nicht mehr gelten sollen, wenn es darauf ankommt."
- Heribert Prantl, "Der Terrorist als Gesetzgeber" -

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Die Arbeitswut soll faulen

Montag, 16. Mai 2011

Die Faulheit hat keinen guten Stand in der bürgerlichen Gesellschaft - sie ist eher des Bürgers Abscheu. Mit ihr impliziert er Unkosten, Unordnung und Abstumpfung. Die Faulheit ist für ihn eine die Gesellschaft zersetzende Fäulnis. Er läßt sich daher auf sie nicht affirmativ ein, erkennt in ihr nichts Positives, vermag nicht deren Chancen und Möglichkeiten, deren fortschrittliche Kraft und soziales Potenzial zu entlarven. Und weil dies alles unerkannt bleibt, konnte einst ein ehemaliger Kanzler damit protzen, dass es kein Recht auf Faulheit in dieser Gesellschaft gäbe - Applaus und öffentliche Anerkennung folgten dem stante pede.

Die Faulheit als soziale Gerechtigkeit

In seiner 1880 erschienenen Schrift Le droit à la paresse, postuliert Paul Lafargue, der mit Laura Marx verheiratet war, ein Recht auf Faulheit - so lautet auch die deutsche Übersetzung der Schrift. Dabei ist allerdings der Faulheitsbegriff Lafargues nicht mit jener Faulheit gleichzusetzen, die der bürgerliche Furor ist, die dem Bürgertum vor seinem geistigen Auge aufersteht. Faulheit ist für ihn eher etwas wie Besonnenheit, Zurückhaltung und Betulichkeit, Maßhaltung und Befriedung eines wilden Erwerbsalltags durch weniger Arbeit, ein Abgleiten von sklavischer Arbeitsmoral, unterwürfigem und strapaziösem Arbeitseifer. Arbeit sollte Notwendigkeit sein, nicht Lebensinhalt - Lafargue schwebt dabei die Arbeitsmoral vor, die vor der Industrialisierung vorzufinden war und die Gerhard Schildt in seinem Buch "Aufbruch aus der Behaglichkeit" nachzeichnete: viele Feiertage, viele Ruheperioden, dafür aber auch Phasen voll Mehrarbeit, die aber immer mit Plausch und sozialem Austausch verbunden waren - eine Arbeitswelt letztendlich, die sich zwangsläufig nach der Natur richten musste (von der wir heute freilich relativ losgelöst sind), die aber keine tägliche oder gar stündliche Beweisbereitschaft der eigenen Produktivität abverlangte. Das was die bürgerliche Mitte heute mit Faulheit meint, die frappierenden, oft ekelhaften Bilder, die Fernsehsender wie RTL oder Sat. 1 aus den Wohnzimmern der Unterschicht über den Äther flimmern lassen, meinte Lafargue ganz sicher nicht - und das nicht nur, weil er damals noch keinen Fernseher besaß.

In meinem Buch "Auf die faule Haut" lege ich dar, dass Lafargue das Recht auf Faulheit auch deshalb kundtat, weil er darin den eigentlichen Schlüssel zum sozialen Frieden erkannte. "Auf die faule Haut" ist damit nicht nur Titel, sondern gleichwohl Imperativ. Seid im lafargueschen Sinne faul! Denn die Arbeitswut, so schreibt er, würde den Klassenkampf verstetigen: "Die Proletarier haben sich in den Kopf gesetzt, die Kapitalisten zu zehn Stunden Gruben- und Fabrikarbeit anhalten zu wollen - das ist der große Fehler, die Ursache der sozialen Gegensätze und der Bürgerkriege", notiert er, dabei die hündische Dummheit unterstreichend, die die müßiggängerischen Phantasien jedes Schuftenden aushöhlen und als Unding, als undenkbare Alternative verunglimpfen. Statt die Faulheit der elitären Faulpelze auch für sich zu beanspruchen, vernünfteln sich die Werktätigen jene Arbeitsmoral zurecht, unter der sie leiden. Diese sei ja schließlich und endlich notwendig, unabwendbar, alternativlos, betäuben sie sich selbst. Man müsse eben mehr, schneller, länger arbeiten - und der Faulpelz von oben, er soll es auch müssen. Mehr Arbeit für alle, statt weniger Mehrarbeit!

Die Diskrepanz zwischen denen, die faul arbeiten lassen und denen, die fleißig arbeiten sollen, sie ist für Lafargue die Wurzel des Klassenkampfes. Diese Zwietracht nicht auflösen zu wollen, sondern zu kultivieren, indem die Fleißigen die gutsituierten Faulen zum selben arbeitswütigen Lebensentwurf drangsalieren würden, wenn sie es könnten: das verewigt das klassengesellschaftliche Dilemma. Lafargue hätte vermutlich im Grabe rotiert, wenn er gesehen hätte, wie die Enkel im Geiste seines Schwiegervaters Gesellschaften auferstehen ließen, in denen es Helden der Arbeit gab, in denen die Arbeit eine Art ideologischen Adel darstellte - wahrscheinlich hätte er auch gar nicht rotiert, denn er ahnte ja, was Marxens unkritisches Verhalten gegenüber dem "Recht auf Arbeit" auslösen würde. Lafargue kritisierte ja bereits seine sozialistischen Zeitgenossen dafür. Die hatten doch mit ihrem leicht- und marxgläubigen Nachgequassel vom Recht auf Arbeit (das für Lafargue nur das "Recht auf Elend" war) den Klassenkampf gar nicht überwinden wollen; die hatten offenbar großes Interesse daran gehabt, ihn weiter zu verstetigen, denn das sicherte ihnen ihre gesellschaftliche Position.

Die Faulheit als Pate unterdrückter Potenziale

Sie gilt klassenübergreifend als verwerflich - Konservative und Progressive halten nichts von ihr. Kapitalisten und Kommunisten wollten sie mit Stumpf und Stiel ausrotten - der Fleiß sollte der Faulheit den Garaus machen: daher vereinten Arbeitslager die als unüberbrückbar geltenden Ideologien. Hie war "Vernichtung durch Arbeit", dort galt "Umerziehung durch Arbeit" - letzteres als progressive, als humanitäre und optimistische Auslegung ein und derselben Idee. Die Faulheit untergrabe schließlich das Fundament jeder gesunden Gesellschaft. Daher ist es gefährlich, wenn ich hier von der Faulheit schreibe, denn mit ihr konnotiert man Bettlerei, Alkoholismus, dreckige Wohnungen und Totalverweigerung - wer davon schreibt ohne zu schelten ist verdächtig. Lafargues Faulheit ist jedoch eine Faulheit der Maßhaltung; er fordert nicht, nichts mehr zu tun - er fordert aber dazu auf, weniger zu tun, bedächtiger zu arbeiten. Der Arbeiter soll "seine Ruhe entsprechend mehren" und nicht mit den "Maschinen wetteifern" - Rationalisierung und Automatisierung sind für Lafargue kein Grund zur Traurigkeit, denn sie könnten den Menschen mehr Zeit zuteilen.

Der bürgerliche Ekel vor der Faulheit lehrt, dass wesentlich kürzere Arbeitszeiten einen Sittenverfall mit sich bringen. Müßiggang ist ja bekanntlich aller Laster Anfang. Lafargue glaubte aber, dass die Faulheit durch Arbeitszeitverkürzungen zu einer musischeren Gesellschaft führen würde. Wenn der Schuftende plötzlich mehr freie Zeit hat, dann kann er sie nach seinen Interessen und Neigungen aufbrauchen. Wer weiß, vielleicht hätten wir den Krebs schon besiegt, würden wir nicht so lange arbeiten - vielleicht ist der Mensch, der uns vom Krebs erlöst hätte, aber hinter einem Schreibtisch versauerte oder an einer Drehbank vermoderte, abends zu ermattet gewesen, um seinem privaten Pläsier, der Medizin nämlich, ausgiebiger zu frönen. Michael Bakunin äußerte sich da ähnlich wie Lafargue: eine anarchistische Gesellschaft würde Muße zulassen und damit würde eine Gesellschaft auferblühen, die es bislang noch nicht gegeben hat - kein Wunder demnach, dass Bakunin Marx und seinen Wadenbeißern ganz ähnliche Vorwürfe machte wie Lafargue, denn auch für Bakunin waren Marx und seine Marxisten nur eine Spielart prüden Bürgertums.

Natürlich ist anzumerken, dass Lafargue und Bakunin noch nichts vom Einsatz moderner Unterhaltungsmedien wussten, mit denen wir heute konfrontiert sind und die die Freizeit (diese in Zeiten postulierter Mehrarbeit kostbar werdende Substanz) mittels abstumpfender Berieselung zersetzen und versinnlosen. Deshalb Freizeit verknappen? Weil sie den Menschen nicht mündiger und freier machte, sondern ihn letzlich an den Tropf der Unterhaltungsmedien stöpselte? Zurück zur menschlichen Arbeitskraft, Abschied von der sukzessiven Verlagerung der Arbeit auf Maschinen und Rechner? Das wäre nicht nur irrsinnig und unökonomisch, es entspräche dem menschlichen Charakter überhaupt nicht.

Die Faulheit als Fortschritt

Als die Industrialisierung einsetzte, entfremdete sich der Arbeitende von seiner Arbeit. Soweit Marx - soweit aber auch Lafargue. Automatisierungen traten ins Leben. Das tun sie bis heute. Wir staunen darüber, dass heute Maschinen erledigen, was bis vor einigen Jahren noch Menschenhände schufen. Wir staunen, aber wir betrauern auch, denn uns wird schnell gewahr, dass nun viele Menschenhände überflüssig geworden sind. Für einige Zeitgenossen wäre es ein Fortschritt, wenn wir von Maschinen abkommen würden, um wieder menschlichen Händen Arbeit in die Hände drücken zu können. Aber das ist nicht Fortschritt, das ist ein reaktionärer und, meines Erachtens, auch dem Menschsein diametral entgegengesetzter Ansatz.

Der Mensch erfindet Maschinen. Er erfand immer Maschinen und Vorrichtungen, die ihm das tägliche Leben erleichtern, die ihm Blut und Schweiß einsparen sollten. Heutige Vollautomaten zu ächten, weil sie Arbeitsplätze kosten: das ist kontraproduktiv, das entspricht nicht dem menschlichen Handeln. Der Mensch ist Erfinder - und er ist Maschinenbediener. Nicht erst seit der Industrialisierung, er war es gewissermaßen schon immer, nur waren Maschinen vormals eben viel primitiver. Maschinen sollen Arbeit erleichtern und Zeit einsparen - Maschinen sind damit eine Ausgeburt der Faulheit. Nur weil der Mensch an sich ein Wesen ist, dass sich Faulheit vorstellen kann, nur weil er sich imagnieren kann, was er mit eingesparter, frei gewordener Zeit anstellt, kam die Idee der Maschine in die Welt. Fortschritt ist somit nicht die Arbeitswut, nicht der Fanatismus (fanaticus, lat.; göttlich inspiriert) der Arbeit - die Faulheit innerhalb des Menschen, die zum Erfinden von zeit- und kraftsparenden Maschinen ermutigt, sie ist das wirkliche fortschrittliche Attribut der Menschheit. Einen stupide und apathisch vor sich hinwerkelnden Hominiden, dem die Fähigkeit abgegangen wäre, sich faule Stunden vorstellen zu können, den hätte die Evolution schon lange von seinem trostlosen, arbeitsamen Elend erlöst - oder er hockte noch an einem Wasserloch und würde sich kühles Nass in Dutzende Behältnisse schöpfen, statt stolz auf ein Rohrsystem zu blicken, dass ihm das Wasser in seine Hütte leitet.

Die Faulheit als Renaissance der sozialen Demokratie?

Eine Gesellschaft, in der sich offen und ohne Scheinheiligkeiten ein Recht auf Faulheit zugestanden wird, könnte die soziale Demokratie, die im Sterben liegt, nochmals reanimieren. Laut Robert B. Reich hat die soziale Demokratie, die er in seinen Büchern "demokratischen Kapitalismus" nennt, so massiv an Boden verloren und einem Superkapitalismus Platz geschaffen, weil die Technologien der letzten Jahrzehnte dazu führten, dass der Verbraucher und Anleger in eine stärkere Rolle gedrängt wurde, während der Bürger und Arbeitnehmer ins Hintertreffen geriet. Die Jahre, in denen selbst in den Vereinigten Staaten eine Form von staatlich gelenkter Wirtschaftspolitik existierte, die den Unternehmen staatliche Aufträge zuerteilte, waren deshalb unwiederbringlich verloren, weil neue Technologien beschleunigte wirtschaftliche Prozesse zeitigten und billigere Produktionsmöglichkeiten eröffneten und die Abhängigkeiten zwischen Staat, Unternehmen, Arbeitnehmer, Verbraucher und Anleger etappenweise auflöste. Der Superkapitalismus wuchs lediglich deshalb heran, erklärt Reich, weil durch flexiblere Technologien und Wirtschaftsprozesse einerseits Kunden durch niedrigere Preise profitierten und, andererseits, Anleger dazu ermutigt wurden, dort zu investieren, wo höhere Rendite abgeworfen würde.

Nun wäre eine Neuausrichtung nach lafargueschem Faulheitsverständnis nicht als Rückschritt von der Segnungen neuer Technologien zu begreifen. Natürlich sollen Bankautomaten und Internet nicht verworfen werden - man darf den Fehler einiger rückständiger Geister nicht machen, die entweder (wenn sie nach links hin denken) eine Art Steinzeit-Sozialismus fordern oder (wenn sie konservativ sind) einen Steinzeit-Kapitalismus bevorzugen, in dem Arbeit von Menschenhand mehr gefördert wird als maschinelle Arbeit. Weniger Arbeit, eine ruhigere, befriedete Arbeitswelt: das alles ja - aber nicht für den Preis technologischen Rückschritts. Beides muß vereinbar sein und ist es auch. Beibehalten, was moderne Technologien bieten, nur ruhiger und besonnener einsetzen - sie dürfen nicht dazu führen, den gesamten Apparat so anzukurbeln, dass man ihn nicht mehr zu bändigen vermag, dass er unbeherrschbar wird.

Und genau hier kommt das Primat der Politik ins Spiel, denn ein Gemeinwesen, dass sich gegen solche selbstläuferischen und automatisierten Abläufe zur Wehr setzen möchte, kann dies politisch auch tun. Wie wäre es beispielsweise mit einer Besteuerung nicht nur menschlicher Arbeitskraft, sondern auch maschineller? Lohnsteuer und Maschinensteuer und damit ein finanziell üppiger ausgestatteteres Gemeinwesen zur gesellschaftlichen Teilhabe aller? Wenn Maschinen besteuert würden, könnte auch weniger menschlicher Schweiß fließen. Weniger Arbeit, mehr Faulheit für jeden: das bedeutete hiermit dem Automatismus aus Rendite und noch mehr Rendite zu entfliehen und der sozialen Demokratie neuen Antrieb zu verleihen.

Die Faulheit als Friedenstaube?

Wir leben in einer Welt der Überproduktion und des steten Wachstums - dafür sind wir auch bereit Kriege in Kauf zu nehmen. Die Erdölsauferei unserer industriellen Wirtschaftssysteme ist das Resultat einer überproduzierenden und immer wachsenden, noch weiter wachsenden Wirtschaft. Und dahinter lauert wiederum der entfesselte Arbeitseifer - wir arbeiten und produzieren, wir überarbeiten und überproduzieren! Wenn wir dahin kommen, in Arbeit ein notwendiges Übel zu erahnen, welches man möglichst kurz und schmerzlos halten soll, dann wäre viel gewonnen. Laut Lafargue: das Ende des Klassenkampfes, den wir auch heute noch haben, wenngleich man das beständig verleugnet und als Anachronismus abtut.

Und wenn das Prinzip Faulheit, ein menschliches Bekenntnis zum Recht auf Faulheit im Sinne Paul Lafargues, als globaler Gedanke erfasst wird, dann ist vielleicht sogar mehr als das Ende des Klassenkampfes denkbar. Dann könnten geostrategische Motive überflüssig werden - koppelt man das Recht an Faulheit dann auch noch an eine Politik der erneuerbaren Energien, so könnte eine wirkliche Friedenspolitik durch die Sonne entstehen, um mit Franz Alt zu sprechen. Ein Ende kriegerischer Auseinandersetzungen? Möglich wäre es. Daher sollte es heißen: versuchen wir das Unmögliche und legen uns auf die faule Haut!



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Sie können doch nicht wider (ihrer) Natur handeln...

Samstag, 14. Mai 2011

Köpfe wechseln sie aus - das ist ihre Parteireform. Inhaltlich überarbeiten sie nichts, die Liberalen. Wen wunderts! Welche Inhalte sollten sie denn überarbeiten wollen? Sie haben ja nur einen und den können sie, mit Bedacht auf ihre Klientel, auch nicht einfach mal so abändern und umkehren. Den Sozialdarwinismus kann man nur schlecht reformieren - er kennt ja keine Reform, er kennt nur... nein, nicht Revolution: Evolution! Oder das, was die Jünger dieser Lehre dafür halten. Reichtum ist nach deren Weltempfinden ein evolutionäres Prinzip - Armut freilich auch. Das ist Naturgesetz und wer da rumfummelt, wer dem Naturgesetz ein Schnippchen schlagen will und so was Unnatürliches wie Sozialgesetzgebung zur gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Partizipation vorschlägt, der versündigt sich an der der Umwelt, am Naturreich, an der Natürlichkeit des Menschen.

Daher Parolen wie "Steuern runter!" oder "Mehr Netto vom Brutto!" - das sind für Liberale aus dem Thomas-Dehler-Haus keine plumpen politischen Losungen: es sind Rufe aus der Natur. So wie Vögleingezwitscher oder Wildschweingrunzer Geräusche aus der Natur sind, so sind Appelle wie "Steuern runter!" und "Sozialstaat abbauen!" für Liberale Naturklänge - denn der Mensch ist eben reich oder arm, weil es ihm natürlicherweise in die Wiege gelegt oder in die Gene kopuliert wurde. "Leistung muß sich wieder lohnen!" ist ja nicht für Krankenschwester oder Müllmann gedacht, schon gar nicht irgendwelche Erwerbslose: das wäre ja naturwidrig! Damit sind diejenigen gemeint, denen die Natur ein dickes Konto eingerichtet hat. Mehr oder weniger zu haben liegt eben in der Natur des Menschen - so war es immer, so wird es immer sein; Naturgesetze sind ja unumkehrbar und ewig.

Ja, wenn sie nur so bedingungslos naturlieb wären, diese Feiglinge. Sind sie aber nicht! Da tanzen sie um ihr goldenes Kalb, das sie Leistungsträger und Minderleister nennen, das aber eigentlich das Recht des Stärkeren getauft werden müsste - und rufen laut Polizei! Polizei!, wenn sich Schwache zusammenrotten, um in der Villa des Starken "einkaufen" zu gehen. Nichts mehr von "So gehts halt zu in der Natur!" Wenn sie nur konsequent wären, die Damen und Herren der darwinistischen Vorschule; wenn sie nur lobende Worte für die Überlebensstrategien dieser (Sozial-)Evolution fänden - dann könnte man ja noch so was wie Verständnis für sie aufbringen. Aber nein, sie rufen Polizei! Polizei! und tricksen plötzlich die wundersamen Strategien des Überlebenskampfes in der Natur aus, wie er sich mannigfaltig zeigt. Denn Evolution, die Grundlage auch des Sozialdarwinismus, ist ja nicht das Überleben des Stärksten, es ist das Überleben der Gruppe oder Gattung, die am besten angepasst ist. Die Strategien dorthin sind allerdings viel vielfältiger als diese stupide Gerede von "Die besten Gene setzen sich durch!" Tun sie eben nicht; oder doch eher selten. Strategie ist auch, dass sich Gruppen zusammenschließen und gemeinsam ihr Überleben sichern - das ist die soziale Komponente der Gattung Mensch; daher rührt, so sagen Linguisten, die menschliche Entwicklung der Sprache. Die Gruppenmitglieder müssen dabei eben nicht allesamt beste Läufer, beste Springer, beste Jäger sei - die Gruppendynamik hebt den "Zwang zum Besten" auf; der Durchschnitt kann überleben - eigentlich entwickelt sich in der Evolution vorallem der Durchschnitt weiter...

Angewandt auf die zusammengerotteten Habenichtse bedeutet das, dass die als Gruppe ein vollkommen normales und über Hunderttausende von Jahren adäquates Prinzip der Evolution aufgreifen. Als Anhängerschaft evolutionärer Ideen, die die Liberalen gemeinhin ja sind, müssten sie eigentlich entzückt sein, dass da jemand Überlebenskniffe leibt und lebt. Das ist doch genau deren Metier; das ist doch die vielgelobte Natur, die Reiche reich und Arme arm sein läßt - da erlaubt es der survival of the fittest, dass man andere Strategien ergreift, tut sich zusammen, schlägt das Gartentor ein, schiebt den Mercedes zur Seite, kracht durch die Haustüre, leert den Kühlschrank und kackt auf einem vergoldeten Abort - ergaunert sich kurzzeitig den Reichtum, den andere von Natur aus haben. Wobei diejenigen, die sich den Reichtum so ungehobelt aneignen, ihn auch natürlich erworben haben: als Gruppe, die ihr Überleben in die Hand nahm. Bis die Polizei kommt, die die Eindringlinge in Handschellen legt und abführt - die Polizei, dein Freund und Helfer; die Polizei, der Evolutionsschreck, der das Gleichgewicht der Natur stört. Und wer hat sie gerufen? Natürlich, der liberale Naturbursche! Vorher noch erläutern, dass die Natur eben nicht schlecht oder gut ist, sie ist halt einfach so wie sie ist - daher ist Reichtum nichts Böses oder Gutes und Armut gleichfalls nicht: es ist etwas Hinnehmbares, mit dem man sich bitteschön abfinden sollte. Keine Neiddebatte bitte, denn das ist unnatürlich!

Nun ist das Szenario eindringender Rotten nicht alltagstauglich. Es geschieht selten, dass die Armut sich marodierend zusammenrauft - Liberale, die den Sozialstaat auf ein Blatt Papier zeichnen sollen, würde diese Bild aber wahrscheinlich wählen. Sozialstaat ist, wenn abgerissene Gestalten in mein Chalet eindringen, würden sie drunterschreiben. Das ist es, was man den Naturalisten aus dem Thomas-Dehler-Haus vorwerfen muß. Nicht, dass sie keine Sozialpolitik machten: das kennen wir ja und das zeichnet sie ja in ihrer Rolle als Klassisten und Sozialdarwinisten aus - Sozialpolitik ist unnatürlich, ist damit also ein Frevel an der Ausgeglichenheit und Ausgewogenheit der Natur. Diese mag zwar manchmal auf das menschliche Gemüt hart und unerbitterlich wirken, bekennen auch diese in sentimentalen Augenblicken, aber Moralhubern bringt uns da ja nicht weiter. Warum also jetzt nachlegen und so tun, als habe doch ein bisschen Sozialstaat Berechtigung in einem gelben Parteibüchlein? Nein, man muß ihnen vorwerfen, dass sie Naturburschen sind, die aber immer dann nach Eingriffen in die natürlichen Prozesse des Darwinismus rufen, wenn sie als Verlierer den Überlebenskampf verlassen könnten. Solange sie als Reiche Arme ausplündern, soll es kein Kontrollorgan geben - Kontrollorgane hat die Natur nicht vorgesehen. Wenn aber die Armen plündern wollen, dann Polizei! Polizei! Denn das ist ja unzivilisiert, Plünderei ist nicht zivil - da braucht es schnell Uniformierte zum Schutz der Zivilisation. Ansonsten sind sie aber selber keine Freunde der civitas, sondern fabulieren ja stets vom Menschen in der Natur - oder dem, was sie dafür halten.

Und nun stemmen sie sich gegen ihren parteilich organisierten Untergang, diese Egomanen und Gelblinge! Dabei ist es nur natürlich, dass Organismen sterben, wenn sie sich als nicht überlebensfähig erwiesen haben. Warum aufbegehren gegen den natürlichen Gang der Dinge? Warum nicht liegenbleiben oder verenden, wie es die Natur so schön vorgesehen hat? Was tun sie stattdessen? Köpfe wechseln sie aus - das ist das Röcheln, das ist Todeszucken, der letzte hilflose Versuch, doch noch weiterzuleben...



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Ihre Meinung zu BILD...

Donnerstag, 12. Mai 2011

Das Konzept ist ungemein durchtrieben. Um Eigenwerbung zu betreiben, wirbt die BILD-Zeitung prominente Zeitgenossen an, die frei von der Seele weg etwas zu eben dieser BILD-Zeitung sagen dürfen - gerne auch etwas Negatives. Kritischere Promis lassen sich deshalb auch darauf ein. Denn immerhin erhalten sie damit die Möglichkeit, öffentlich und medienwirksam gegen den Axel Springer Verlag zu schießen - und dabei wie kritische und unbequeme Persönlichkeiten zu wirken. Leider reagieren nicht alle BILD-Gegner wie Judith Holofernes. Im Gegenteil, sie wähnen sich besonders ausgekocht, weil sie glauben, der BILD ein Ei ins Nest zu legen, wenn sie etwas Kritisches absondern - "ist die BILD doch tatsächlich so blöde und erlaubt mir, auf ihren eigenen Seiten gegen sie zu schießen", freuen sie sich dann. In Wirklichkeit geben sie aber der BILD-Zeitung einen selbstkritischen und offenen Anstrich - plötzlich sieht es so aus, als würde man im Hause Springer auf Objektivität achten und auch BILD-Kritiker ernstnehmen und zu Wort kommen lassen.

Könnte man diesen scheinbar faustischen Pakt, der keineswegs dazu führt, dass der werbende Prominente dem Blatt Schaden zufügt, der eher dazu führt, dass er vorgeführt und lächerlich gemacht wird, weil er durch seine kritischen Worte die BILD objektiviert... könnte man diesen Pakt denn wirklich so ausnutzen, dass die Werbekampagne zum Nachteil gereicht? Judith Holofernes' mutige Zeilen waren rigoros - aber selbst die zog die BILD-Redaktion heran, um sie als Werbung zu mißbrauchen. Wie aber sonst vorgehen? Ist es ganz und gar ausgeschlossen, eine solche Anfrage des Axel Springer Verlages so zu verwenden, dass am Ende nicht Objektivität, sondern eine öffentliche Anklage steht?

Wer benötigt würde, wäre ein halbwegs annehmbarer Prominenter, der nicht allzu verdorben wäre vom herrschenden Medienzirkus und seinem Hang dazu, auch eigentlich unpolitische Künstler in Talkrunden zu laden, in denen sie Farbe bekennen sollen. Und es müsste ein halbwegs begehrlicher Mensch sein, der für die BILD-Zeitung einen werbenden Leckerbissen darstellt. Diese Person müsste sich vertraglich versichern lassen, dass seine Äußerung auch wirklich erscheint - er würde sich nicht die Mühe machen, sich etwas zur BILD einfallen zu lassen, nur damit es hernach in der Schublade der PR-Agentur landet, via der BILD an ihre Werbefiguren herantritt. Dann nur ein kurzer Satz vielleicht, der Werbung ist und zugleich Anklage: "Die BILD hat bei der Tötung Rudi Dutschkes mitgewirkt. Sie schrieb damals: 'Man darf über das, was zur Zeit geschieht, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Und man darf auch nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen. Schlafen unsere Richter? Schlafen unsere Politiker?' - Daher lese ich BILD, weil ich wissen will, wer als nächstes dem Volkszorn vorgeworfen, wer als nächstes er- oder angeschossen werden soll!"

Erschiene dieser Ausspruch eines couragierten Prominenten auf Plakaten und zierte Bushaltestellen und Litfaßsäulen, vermutlich würde die BILD-Redaktion nicht davor zurückscheuen, ihn als großes Lob zu stilisieren. BILD zeichnet den politischen Betrieb nicht nur nach, würden sie stolz erklären, BILD macht sogar noch mordsmäßige Politik...


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