Zweiundachtzig Millionen

Dienstag, 24. Mai 2011

Wir sind 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Man muß uns filmen, observieren und durchleuchten. Wir sind suspekt; wir sind möglich gefährlich. Was schreiben wir uns per e-Mail? Was in Briefen? Wohin fließt unser Geld? Warum überweist Hinz monatlich Geld an eine Sex-Hotline? Was hat Kunz mit der Gewerkschaft zu schaffen? Wir müssen überwacht werden - auf öffentlichen Plätzen und auf intimen Computern. Man kann uns nicht aus den Augen lassen, denn wir ticken als Zeitbombe. Für uns gilt nicht die Unschuldsvermutung, denn wir sind grundsätzlich...

... 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Präventiv sind wir als Verbrecher wahrzunehmen. Bis wir unsere Unschuld bewiesen haben. Geraten wir in soziale Englage, so sind wir präventiv Sozialbetrüger. Bis wir die Behörde davon überzeugt haben, dass wir es ernst meinen mit unserer Bedürftigkeit. Man meint es nicht böse, man will uns nichts unterstellen - aber die Situation erfordert es leider, dass man uns präventiv und prophylatisch verdächtigt. Um der Gesellschaft ihre Freiheit zu garantieren, muß sie sich die Freiheit nehmen, den Bürger zu verdächtigen. Wobei gilt, dass wir dann keine Bürger mehr sind, wir sind dann nur noch...

... 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Und für die gibt es kein Bürgerstrafrecht mehr - für die gilt ein Feindstrafrecht. Feinde sind keine Bürger, sie haben keinen Anspruch auf Bürgerrechte, in denen es noch nach In dubio pro reo riecht. Als Feind ist man zunächst schuldig, bevor man seine Unschuld vielleicht doch noch beweisen kann. Beweislastumkehr auch bei Hartz IV - als Maxime eines neues Rechtsbewusstseins. Nicht abwarten, bis Verbrechen geschehen - präventiv in die Enge treiben, verurteilen, einbuchten! Der präventive Rechtsstaat ist ein Staat der Gesinnungsschnüffelei und des Vorurteils. Entstanden ist diese Abkehr vom aufgeklärten Rechtsstaat mit seinem positiven Menschenbild nicht deshalb, um Terroristen zu zähmen - das wurde nur als Feigenblatt erklärt; entstanden ist diese Entsagung von rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeiten für uns, für...

... 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Ein a priori verurteilter Personenkreis benötigt keine Menschen- und Bürgerrechte. Benötigt keinen Anspruch darauf, erst dann als schuldig zu gelten, wenn man ihm eine Schuld nachgewiesen hat. Benötigt keine Gleichheitsprämissen. Benötigt keine weltanschaulichen Freiheiten. Da die gesellschaftliche Freiheit in Gefahr ist, so erklärt man es, benötigt man die Einschränkung einzelner Freiheiten. Wobei das alles dramatisiert ist, denn man sollte auch die gute Seite sehen: Huber ist verdächtig, weil er arbeitslos ist; Müller ist verdächtig, weil er Steuern hinterziehen könnte, vielleicht ungestraft mit dem Auto rast oder Mitglied bei einer linken Vereinigung ist; Schmitz ist es, weil er Kontakte zur örtlichen Moschee unterhält; Said ist verdächtig, weil er so heißt, so aussieht, so gewandet ist. Der Präventivstaat mit seiner Haltung, jeden zunächst zu verdächtigen, hat es geschafft, was lange versprochen, nie aber gänzlich umgesetzt wurde: er hat die Gleichheit gebracht - jeder ist gleich; auf einem niedrigen Level fürwahr, aber doch gleich. Wir sind alle gleich, alle...

... 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Mit uns kann man nicht unvoreingenommen umgehen - der Staat kann nicht vorurteilsfrei gegenüber seinen Bürgern auftreten. Das wäre fatal! Was, wenn man unvoreingenommen auf einen Bürger eingeht und der ist letztlich ein Krimineller? Alle vorverurteilen - das ist gerechter und sicherer! Man verdächtigt uns doch nur aus Gründen der Sicherheit. Der Staat verdächtigt uns nur deswegen generell, weil er es gut mit uns meint. Meinte er es schlecht, würde er uns vorurteilsfrei händeln - aber weil er es gerade gut meint, behandelt er uns wie mögliche Verbrecher. Denn das erspart uns allen böse Überraschungen und Enttäuschungen. Wenn ein Staat seinen Staatsbürgern zutraut, dass diese alle mit krimineller Energie ausgestattet sind, dann ist er nicht misstrauisch - dann kommt er lediglich seiner Fürsorgepflicht nach. Er glaubt sich vorausschauend, wenn er sagt, wir seien allesamt...

... 82 Millionen potenzielle Kriminelle!
Das ist nur katholische Moral, aus der wir uns nicht herauswinden können. Katholische Moral, die uns lehrt, dass wir alle Sünder sind. Sicher, man sagt uns, dass die Kameras durch die hindurchfilmen, die nichts zu verbergen haben - Kontodaten von unbescholtenen Bürgern würde der begutachtende Beamte sofort aus seinem Gedächtnis sortieren - geöffnete Briefe aus unschuldiger Feder würden die Brieföffner zusammenhanglos lesen, um nicht den Sinngehalt des Schreibens zu entschlüsseln und Persönlichkeitsrechte nicht unnötig zu verletzen. Nur ein Problem ergibt sich: auch wenn keine Terroristen unter denen sind
, die säuberlich überwacht werden, Sünder sind immer darunter. Wir sind doch alle Sünder! Nicht Terroristen zwar, aber doch Diebe, Betrüger, Lügner oder moralisch Abartige. Da darf der Staat nicht einfach schweigen, keine Komplizenschaft annehmen von seinen...

... 82 Millionen potenziellen Kriminellen!
Und in einem solchen Lande, in dem Millionen kriminell veranlagt sind, wo jeder ein großer oder kleiner Sünder ist, da kann man rigoros durchgreifen. Da kann man Verdächtige auch mal längerfristig präventiv-inhaftieren oder entführte Flugzeuge vom Himmel knallen. Man trifft ja keinen Falschen, trifft im Zweifelsfall immer jemanden, der gesündigt hat und tötet keine Bürger, sondern befreit dieses Land von einigen hundert potenziellen Kriminellen...



14 Kommentare:

klaus baum 24. Mai 2011 um 07:51  

krimineller text. unglaublich. der gesinnungs-schnüffel-staat erlaubt es nicht, kritisch reflektiert zu werden. außenperspektiven sind verboten. das hatten wir zwar schon mal, aber was soll's.

pascal 24. Mai 2011 um 08:17  

...Und diese nicht mehr vorhandene Unschuldsvermutung wird uns jedesmal eingeimpft, wenn wir eine Serie anschauen. Siehe Beispiel CSI-Miami, bei der sich grundsätzlich erstmal jeder Verdächtige anhören darf, was der Ermittler Horatio von ihm denkt und dass man ihm, dem Schwein, eh auf die Schliche kommen wird.
Oder etwa bei 24, bei dem in den letzten Folgen Jack Bauer als akzeptiertes Mittel zur Rettung Foltermethoden ala Abu Graib anwendet um Informationen herauszupressen.

In beiden Fällen wird dem Zuschauer die rechtsstaatlich einwandfreie Ermittlung suggeriert, an die er sich langsam gewöhnt. So lange bis er im wirklichen Leben nicht mehr aufschreit, wenn er soetwas mit bekommt



@Daniel Limberger: Liest du hier noch mit? Kann man dich irgendwie erreichen?

EuRo 24. Mai 2011 um 08:30  

Inhaltlich richtig, nur die Zahl ist falsch.
Es sind nicht alle 82 Millionen a priori verdächtig.
Da gibt es geschätzte 5% also 4,1 Mio. die über jeden Verdacht erhaben sind und das sogar, wenn deren Schuld inzwischen bewiesen ist...

Anonym 24. Mai 2011 um 10:54  

Getreu der Mottos:

"was früher einmal gut war kann heute doch nicht schlecht sein!"

"in deutscher Flaggenkluft rumhopsen, Frauen soll man zwar nicht boxen, doch wir brauchen eh eine neue Identität!"

@Daniel Lim. ich muss mich dem Suchaufruf anschließen. GSP wirkte erhellend. Austausch erwünscht

_BB_

Anonym 24. Mai 2011 um 13:57  

So leben wir jetzt in einem besser ausgerüsteten Stasi 2.0-Land. Ehemalige "Fachkräfte" aus der DDR könnten da mit Rat und Tat zu Seite stehen.

Anonym 24. Mai 2011 um 14:48  

Anonym Anonym hat gesagt...

So leben wir jetzt in einem besser ausgerüsteten Stasi 2.0-Land. Ehemalige "Fachkräfte" aus der DDR könnten da mit Rat und Tat zu Seite stehen.

24. Mai 2011 13:57

Nur mal so zur allgemeinen Information: Kein Bewohner der DDR, welcher ehrlich seiner Arbeit, seiner Ausbildung, meinetwegen auch seinen religiösen Pflichten nachging, zuweilen über dieses oder jenes mal meckerte hatte den geringsten Grund die "Stasi" zu fürchten, diese umgekehrt kümmerte sich auch nicht um solche Leute, sie hatte in der Tat wichtigere Augaben!

Anonym 24. Mai 2011 um 15:46  

Das ist der Preis unter anderem für die weggefallenen Binnengrenzen in der EU. Welches vernunftbegabte Wesen kommt denn bitte auf die Idee, dass die Kontrollen dann von dort nicht woanders hinverlagert werden müssen? Oder waren die Grenzkontrollen schon immer Unsinn?
Die kommen ja aber wieder - siehe aktuell Dänemark.

Anonym 24. Mai 2011 um 15:56  

Ich seh da unten einen "flattr"-Knopf. Das gibt's noch? Achwas!

- kdm

Anonym 24. Mai 2011 um 16:22  

Wer mit der jetzigen Vorverurteilung und Überwachung hierzulande ein Problem hat, dem empfehle ich, niemals nach England, in die USA oder in etwa 100 weitere Staaten zu reisen - in denen all dies viel, viel weiter etabliert ist, die Bevölkerung aber keine Paranoia schiebt deswegen.

In London sind allein in jedem Doppeldeckerbus ein Dutzend Kameras angebracht, die Passagiere können sich gegenseitig auf Bildschirmen beobachten. Niemand geht dagegen ernsthaft vor.
Herzlichen Glückwunsch kann man da nur sagen, oder?

Wir stehen hier erst am Anfang damit, in einigen Jahren werden wir in schrilles Gelächter ausbrechen, wenn wir nochmal diesen Artikel hier lesen.

W.W.

Anonym 24. Mai 2011 um 18:42  

"Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein"

atlan 24. Mai 2011 um 22:15  

..........................

Wir stehen hier erst am Anfang damit, in einigen Jahren werden wir in schrilles Gelächter ausbrechen, wenn wir nochmal diesen Artikel hier lesen.

W.W.

------------------------------------------------------------

Vielleicht werden Sie irgendwann eher weinen, wenn Sie Ihren Beitrag noch einmal lesen...

TaiFei 25. Mai 2011 um 07:07  

@anonym
"Nur mal so zur allgemeinen Information: Kein Bewohner der DDR, welcher ehrlich seiner Arbeit, seiner Ausbildung, meinetwegen auch seinen religiösen Pflichten nachging, zuweilen über dieses oder jenes mal meckerte hatte den geringsten Grund die "Stasi" zu fürchten, diese umgekehrt kümmerte sich auch nicht um solche Leute, sie hatte in der Tat wichtigere Augaben!"


Das ist so nicht richtig. Die Stasi "kümmerte" sich sehr wohl darum. Ich kann da auf Hausbesuche mit Gesinngungsschnüffelei verweisen.
Außerdem arbeitete praktisch jede Kaderabteilung in Betrieben der Stasi zu.
Sicher die meißten Menschen tangierte das weniger, zumal das MfS sicher im Endstadium auch die Übersicht über ihre Aktenberge verloren hat. Grundsätzlich stimmt deine Einschätzung jedoch nicht.
Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass wirklich gute Stasi-Schnüffler heute fröhlich beim BND und Verfassungsschutz tätig sind.

Anonym 25. Mai 2011 um 11:57  

Hallo Atlan,
"Vielleicht werden Sie irgendwann eher weinen, wenn Sie Ihren Beitrag noch einmal lesen..."

Na, ich meinte doch ein fatalistisches Lachen. Das kann schon mal in Weinen übergehen.
Aber man sieht ja hier, dass das Thema nicht mehr zum ganz großen Aufreger taugt. Vor 10 Jahren hat es noch Wellen geschlagen, und es gab seither Tausend Artikel dazu - was soll man da auch jeden erneut gleichlautend kommentieren? Der Trend wird ja doch nicht aufgehalten, so denkt auch hier sicher jeder.

W.W.

Anonym 26. Mai 2011 um 19:24  

Was wären die Machthaber ohne den bösen Terror?
Machtlos.
Vor dem Volk haben die Angst.

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP