Anstaltslos sittlich

Donnerstag, 31. März 2016

Am Tag, als in Brüssel Menschen starben, diktierte das Öffentlich-Rechtliche mal wieder Pietät. Man sagte die »Die Anstalt« ab. So viel zur Normalität, die man nach Terrorakten stets so wortreich verteidigt.

Wir lassen uns also nicht beirren, unsere Art zu leben, nicht von terroristischen Aktionen ausknipsen. Wenn wir jetzt damit beginnen, nicht mehr das zu tun, was wir immer taten, dann haben die Terroristen gewonnen. So oder ähnlich klingen die Kommentare nach jedem Anschlag, den wir jetzt als europäische Gemeinschaft erleiden. In der Betroffenheit nach Explosionen und Gewehrsalven gibt sich dieser Kontinent noch vereint; so einhellig, wie er es in anderen Fragen schon seit Jahren nicht mehr ist. Im Entsetzen ist man versöhnt, obgleich man sich kontinental schier unversöhnlich hinter nationalen Eigennutz verschanzt. Jedenfalls impft man uns ein, dass auch viele Tote kein Grund seien, einfach aufzuhören, den westlichen Stil nicht weiterhin zu pflegen. Daher an alle da draußen: »Steigen Sie auch morgen in die U-Bahn! Schauen Sie den Börsenbericht und den Tatort!« Dass nichts mehr so ist, wie es mal war, so wie einst die »Bild« nach den Anschlägen auf das WTC titelte, kommt heute als Parole nicht mehr in Frage. Weitermachen! Aber nur ein bisschen. Das Amüsement stellen wir jedoch mal lieber ein. »Die Anstalt« bleibt geschlossen.

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La principessa

Mittwoch, 30. März 2016

So weit sind wir gekommen, jetzt rekrutiert diese Frau tatsächliche Stimmen aus dem Wählerlager, das sie vorher nie wählte. Neulich konnte ich einem Gespräch gebildeter Leute aus dem Mittelstand lauschen. Eigentlich hätten sie nie Merkel gewählt, sagten sie. Sie fanden sie weder sympathisch noch politisch attraktiv. Sie waren stets für die Grünen, stimmten auch mal für die Sozis. Aber nun wollten sie, auch und vor allem um gegen diesen AfD-Wahnsinn ein Zeichen zu setzen, ihr Kreuzchen dort setzen, wo es der Kanzlerin helfen könnte. Man müsse nämlich geradezu exemplarisch die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin krönen und sie mit ihrer Stimme unterstützen. Bei der nächsten Bundestagswahl müsste man aus Solidarität mit ihrer humanitären Politik quasi Merkelist sein. Diese Frau mag zuweilen plump wirken, aber sie schafft es auf die eine oder andere Art und Weise immer, auf den Füßen zu landen.

Die Symbolpolitik, von jeher der einzige Aktionismus aller Merkel-Regierungen (an dieser Stelle wurde mehrfach darüber berichtet), scheint nun zu ihrer Vollendung zu gelangen. Jetzt, da die Frau in die schlimmste Krise ihrer Kanzlerinnenschaft geraten ist, schafft sie es doch tatsächlich, Wähler anzusprechen, die sie nie gewählt haben. Die Welcome-Kanzlerin, die sich Randzonen-Despoten hält, die es zu keinem Welcome mehr kommen lassen, die Abschottung mit allem Mitteln betreiben sollen, wird nicht als höchst doppelzüngige und unlautere Person wahrgenommen, wohl aber als Kastell gegen die Sturmstaffeln der Giftmischer am rechten Rand einer an sich nach rechts pendelnden Mitte. Das ist das alte Kanzlerinnen-Prinzip, das seit Anbeginn ihrer Richtlinieninkompetenz wirkt. Neben allem, was die politische Landschaft seit Jahren bietet, kann man gar nicht anders als brillieren.

Es ist das »Dicker-Mann-plötzlich-schlank«-Theorem, das sich bei ihr seit jeher entfaltet. Wenn sich ein dicker Mann neben einen stellt, der doppelt so dick ist, dann nimmt er für den stillen Beobachter quasi ab, denn neben einem Koloss aus Fett wirkt man auch als dicke Person ganz schnell so, als habe man eine Schlankheitskur gemeistert. Wenn man einen Idioten neben einen noch größeren Idioten positioniert, dann wird man den weniger idiotischen Kerl immer wie einen Lichtblick wahrnehmen. So läuft das mit Merkel. Neben der AfD sieht die Frau auch dann nach Hoffnungsschimmer aus, wenn sie hierzulande Selfies mit Flüchtlingen macht, während sie synchron dazu für eine durchaus gewaltsame Vereitelung weiterer Selfie-Jäger einsteht.

Es ist halt schon ein großer Vorteil, wenn man nie so einen richtigen politischen Kurs mit strikter Marschroute hatte. Denn da kann man sich zwangsläufig immer irgendwie in die Rolle derjenigen begeben, die gerade etwas besser aussieht für die Allgemeinheit. Und wenn der Teil der Allgemeinheit, der mit ihrem realpolitischen Wirken der letzten Jahre, mit dieser Melange aus europäischer Zersplitterung und Neoliberalisierung des Abendlandes, plötzlich abspringt und sie verdammt, dann hilft es halt auch durchaus, wenn man an seiner Stammwählerscholle nicht zu sehr haftet, einfach durch Augenwischerei auch mal andere Kreise für sich begeistert und für eine Stimme bei der nächsten Wahl rekrutiert.

Die AfD ist die beste Erfindung für ihren Machterhalt, denn plötzlich sieht sie wie eine Alternative in ihrer eigenen Alternativlosigkeit aus. Man votiert für sie, weil man damit glaubt, dem Rechtsruck ein Schnippchen zu schlagen. Machiavelli hätte seinen »Fürsten« heute keinem Medici gewidmet, sondern dieser Frau Merkel. In »La principessa« hätte er für die Nachwelt festgehalten, wie man seine Macht sichert und ausbaut, wenn man nur nicht zu programmatisch ist und inhaltlich flexibel bleibt.

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Der Tod eines Toten

Dienstag, 29. März 2016

Deutsche Fotothek
Dancyger war polnischer Jude und hatte Auschwitz überlebt. Er kam um die Gaskammern herum. Lebte weiter. Eine Million oder mehr ließen dort ihr Leben. Er war eigentlich ein Toter. Jetzt steckte er in einem anderen Lager. Für Displaced Persons. Nicht vergleichbar mit dem Todeslager von vormals. Man hat sich in der neuen Unterkunft ein jüdisches Dorf aufgebaut. Es organisiert, so gut es ging. Strukturen geschaffen. Samuel Dancyger war nur einer von vielen dort, die die Shoa überlebten, die aus dem Rachen der Vernichtung sprangen, um noch eine zweite Chance zu erhalten, doch noch ein Leben geschenkt zu bekommen. Ihm und den anderen wurde das Geschenk des Weiterlebens zuteil. Damit war nicht zu rechnen gewesen.

Sicher wird da immer auch die Hoffnung innerhalb Auschwitz' gewesen sein, man hofft als menschliches Wesen ja stets bis zum letzten Augenblick. Irgendwo wird man immer spekuliert haben, dieser Hölle zu entkommen. Sich neu einzurichten in der Welt. Wo auch immer. Nie mehr Existenzangst im eigentlichen Sinn des Wortes haben zu müssen. Vielleicht seine Frau finden, weitere Kinder kriegen, was arbeiten, sich das Abendessen schmecken lassen. Keine großen Sprünge, nur Sicherheit und keine SS, die jederzeit abführen und exekutieren darf. Kein Schlaf mehr in überfüllten Betten, kein Gerangel um ein trockenes Stück Brot. Wieder als Mensch gelten, kein Tier sein. Anzüge tragen, gebügelte Hemden und Binder. Nicht dieses zerrissene Stoffzeug, in dem schon ein anderer Toter steckte. Samuel Dancyger mag das erhofft haben und er hat es geschafft. Er traf tatsächlich wieder seine Frau und seine Kinder hier in Stuttgart.

Nun saßen sie in der Reinsburgstraße im Westen dieser Stadt und waren sicher vor dem Zugriff deutscher Uniformträger. Die neu gegründeten Polizeieinheiten des besetzten deutschen Länder hatten keine Berechtigung, die von den Alliierten geführten DP-Lager mit ihrer Präsenz zu beunglücken. Und die Alliierten selbst ließen im Großen und Ganzen die Displaced Persons selbst die Verwaltung in die Hand nehmen. Das war günstiger und wahrscheinlich auch praxisorientiert. Im Vergleich zu Auschwitz war diese Stuttgarter Lagerrealität schon paradiesisch. Es gab nicht viel zu essen, aber mehr als für Deutsche.

Das mag die Razzia der Stuttgarter Polizei innerhalb der Lagers begünstigt haben. Man unterstellte den dortigen Juden, dass dort Schwarzmarktwaren gelagert seien. Man beantragte die Durchsuchung bei der Militärregierung, erhielt wohl eine zögerliche Erlaubnis und drang ein. Die jüdischen Überlebenden wollten sich allerdings nicht schon wieder von Deutschen durchsuchen, gängeln, kontrollieren lassen und so eskalierte es an jenem Tag vor exakt siebzig Jahren, am 29. März 1946. Ein Polizist erschoss Dancyger im Gerangel. Auschwitz hatte er überlebt, die Kugel eines Angehörigen der Polizei, die für ihre rassistischen und antisemitischen Anschauungen bekannt war, riss ihn jedoch aus dem Leben. Die »minderwertigen ausländischen Elemente« (Originalton des Polizeichefs in den Berichten) hatten es mit demselben Feind in neuer Aufmachung zu tun.

Dancyger war ein Toter bis Januar 1945, ein Toter mit Unterbrechung. Zwischen dem Ende des Konzentrationslagers und dem März des Folgejahres entwand er sich dem programmierten Tod. Dann war er es doch. Erinnert werden soll hier daran, dass die Stunde Null nur bedingt eine war. Seine Tötung steht für die Einsicht, dass gegen Rassismus und Hass auch keine bedingungslose Kapitulation gewachsen ist. Wachsamkeit ist und bleibt stets notwendig. Auch wenn man das Grauen überwunden hat. Auch wenn alles vorbei scheint, so ganz ist es nie vorbei.

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Die Würde des Neonazis ist unantastbar

Freitag, 25. März 2016

Er ist sich keiner Schuld bewusst und erschien mit Hitler-Gruß vor Gericht. Weil seine Haftbedingungen angeblich gegen die Menschenrechte verstoßen. Auch wenn es schwer fällt, auch dieses Ekel hat Menschenwürde verdient.

Anders Breivik hat Menschenrechtsklage eingereicht. Er fühlte sich isoliert und nicht nach humanitären Bedingungen inhaftiert, seine Menschenrechte würden nicht respektiert. Also tagt nun ein Gericht, um die Vorwürfe zu prüfen. Am Tage, da die Medien verstärkt über die Beschwerden des Massenmörders berichteten, konnte ich via Facebook rege Empörung wahrnehmen. Seine Opfer hätten auch keine Wahl gehabt, las ich da. Wie käme er also nun auf den Trichter, dass es ihm besser ergehen sollte, als allen seinen Opfern? Mitleid könne er keines erwarten. Und Menschenwürde? Wo war sie denn, als er in Massen tötete? Es war mal wieder zum Erschaudern, ich habe – was in der Natur meines Wesens liegt – viele linke Sympathisanten unter meinen »Freunden« und Followern. Und dennoch galoppiert hier diese Haltung, die ins tiefe Mittelalter gehört.

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Wettbewerber des Hasses

Mittwoch, 23. März 2016

Was jetzt eintritt erinnert an eine Challenge, einen geistigen Unterbietungs- und radikalisierten Überbietungswettbewerb. Das Schreiben, das die Behörden in Dreieich und Neu-Isenburg erhielten und in dem Erschießungen angedroht wurden (»Hört auf damit euch so stark für Muslime zu engagieren, andernfalls beginnen wir mit Erschießungen bei Angehörigen dieser Volksgruppe [...] Finden unsere Forderungen kein Gehör so werden wir mit Erschießungen von Kommunalpolitikern weiter machen«), ist nur ein trauriger Höhepunkt. Es scheint, als müsste jetzt jeder Hampel mal abchecken, wie weit er gehen kann. Diese Leute sind ja im Taumel, im Gefühl eines Sieges. Für sie scheint jetzt jedes Statement quasi legitimiert. Nationale Revolution halt. So nannten schon mal welche ihren eintretenden harten Kurs.

Für alle anderen war es eine Machtergreifung. Und prompt radikalisierte sich die Öffentlichkeit der moribunden Weimarer Republik, ohnehin verroht und abgestumpft, gleich nochmals. Alle Hassprediger und Hasspapageienpapageien krochen aus ihren modrigen Kellergeschossen, hielten Abgesänge auf die Sozialisten, auf Juden und auf alle anderen, die man nicht so gut leiden konnte. Das waren fürwahr andere Zeiten. Aber was so oft identisch scheint, das ist der Umstand, dass immer dann, wenn sich die misanthropische Haltung zu einem nationalen Kreuzzug mit einigem Erfolg aufmacht, dann politisiert sich die Blödheit dergestalt, dass sie meint, jetzt sei gewissermaßen alles was sagbar ist, auch erlaubt und ohne Konsequenzen in die Öffentlichkeit zu posaunen.

Es ist ja Aufbruchstimmung, denken sich diese Wettbewerber der Unterbietung. Sie machen das mit Klarnamen, auch weil sie meinen, im Namen eines höheren Rechts zu sprechen. Und wenn dieses moralische Recht, das sie da wittern, auch noch politische Mandate in nicht zu knapper Zahl erhält, dann brechen alle Dämme, dann sprudelt die Menschenverachtung nur so über und ist vor Glück über und über benebelt, als dass man mal auch nur für einen Augenblick annehmen könnte, man würde hier etwas androhen oder postulieren, was justiziabel sein könnte. Diese Glücksberauschten glauben ja ernstlich, dass sie nun alles in der Hand hätten und einem etwaigen Richter verschwörerisch zublinzeln könnten, worauf der natürlich einlenkt und jetzt ahnt, er müsse für die größere Sache das Verfahren ohne Ergebnis einstellen.

Der orthographisch und grammatikalische Schreck von Dreieich und Neu-Isenburg droht ganz ungeniert mit Terrorismus, weil er wahrscheinlich gar nicht richtig begreift, dass er sich zum Terroristen macht. Nein, für ihn ist die Sache klar: Jetzt kann man sich rauswagen, jetzt gehört er zu den Gewinnern des Moments. Er vermutet, dass er auf den moralischen Rückhalt einer erwachten Nation baut. Man weiß recht wenig über das Trio, das ausländische Mitbürger und eine Polizistin tötete und von dem nur noch eine Frau übrig ist. Man weiß jedoch, dass sich diese drei Personen moralisch schadlos hielten, indem sie sich einredeten, sie würden ihre Taten auch deswegen begehen, weil die stille Mehrheit des Landes solche Vorgehensweisen nicht nur tolerierte, sondern sogar verhalten forderte.

Sich Rückhalte zu erspinnen, das ist die Grundlage der Radikalisierung. Jede ideologische Radikalisierung braucht eine Basis von Personen, zu der man blicken kann, während man abrutscht und die man sich dann als Adressat imaginiert, bei all den Dingen und Brachialsprüchen, die man so tut und absondert. Jetzt glauben eben diese Neonazis und ihre Parteigänger, dass sie siegessicher in eine Zukunft knobelbechern können, in der sie sich austoben dürfen. Denn sie haben ja Rückhalt, satte Zugewinne bei Landtagswahlen und ein gutes Ergebnis bei der Bundestagswahl in Aussicht. Da wird man doch nicht nur mal sagen dürfen - da wird man doch auch mal drohen dürfen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Und so entsteht ein Wettbewerb der Radikalos, ein Turnier der Gewaltsteigerung und eine Regiment der Verrohung. Grausamer, schonungsloser, rabiater. Das ist olympische Motto für viele derzeit.

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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 22. März 2016

»Wir brauchen dringend 'nen dritten Weltkrieg. Guido Knopp ist mit den ersten beiden fast fertig.«

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Die eigentliche Alternative für Deutschland wäre eine richtige Sozialdemokratie

Montag, 21. März 2016

Wie vor den Kopf gestoßen, waren alle Parteien am letzten Montag nach den Landtagswahlen. Bis auf die Sieger. Wie kam es nur dazu, dass eine Gruppe, die sich euphemistisch Partei nennt, wo sie nur Menschenverachtung exekutiert, so erfolgreich bei den Wählern ankam? Sigmar Gabriel postete seine Geknicktheit, er schrieb unter anderem: »Protest wählen löst nicht ein Problem in unserem Land. Im Gegenteil, es spaltet die Gesellschaft.« Dazu fällt mir nur ein Wort ein: Heuchler. Zumal er einen Tag danach in einem Interview sagte, dass nun nichts geändert werden müsse. Denn die Spaltung der Gesellschaft ist nicht das Ergebnis der AfD-Wahl, sondern die Ereignisse, die davor stattfanden, die spalteten die Gesellschaft und führten zum Rechtsruck. Besonders der Sozialdemokratie muss man den Vorwurf machen, Hauptschuldige an dieser Entwicklung zu sein. Denn sie weigert sich vehement, sich von der Union abheben zu wollen.

Sie verharrt auf konservativem Kurs, bleibt strikt bei der Betriebsverwirtschaftung der Gesellschaft, wirbt für Freihandelsabkommen, betreibt Kriegspolitik und so weiter. Die Geschichte ist hinlänglich bekannt. Die Menschen wollen aber Alternativen zur merkelschen Alternativlosigkeit. Jetzt haben sie eine falsche Alternative als Option gezogen. Das nur, weil eine richtige nicht angeboten wurde. Dabei bräuchte dieses Land dringend einen Kurswechsel unter der Führung einer normativen Linken. Doch ein solcher Wechsel gelingt nicht ohne eine Sozialdemokratie, die diesen Namen im besten aller Sinne verdient. Sie muss moderne Brandtreden halten, um diese AfD wirkungslos zu machen. Wie man an der Wählerwanderschaft in Sachsen-Anhalt erkennen kann, sind deren Wähler ja nicht per se Nazis und rechte Bestien, es sind Linkenwähler darunter, Leute, die noch fünf Jahre zuvor bei den Sozis ein Kreuzchen gemacht haben, Arbeitslose und in Altersarmut darbende Rentner. Letztere klassische »Abnehmer« eines linken Kurses. 75 Prozent der AfD-Wähler haben diese Partei nicht wegen ihrer inhaltlichen Aufstellung gewählt. Dreiviertel der Stimmen landeten bloß aus Protest dort. Die parlamentarischen Spaßguerilla von »Die Partei« nennen als einen Punkt ihres Programmes »Inhalte überwinden«. Genau das haben die AfD-Wähler jetzt getan. Und wenn man dieses Programm bei der falschen Partei anwendet, dann ist es eben nicht mehr witzig.

Aber wohin sollen sie mit ihrer Stimme? Die Linkspartei ist ein ohnmächtiger Faktor, keine Massenbasis, sie braucht eine neue Sozialdemokratie, die bereit ist progressive Politik im Sinne der Menschen zu machen. Das ist letztlich eine Erkenntnis aus den Resultaten der drei Landtagswahlen. Die SPD wurde in den letzten zwei Dekaden scharf angegriffen, danach polemisierte man nur noch an ihr herum und ein resignativer Ton machte sich breit. Die Sozis könne man eh vergessen. Ich habe mich auch daran beteiligt, neulich erst noch. Aber Tatsache ist: Wir brauchen sie. Nicht so, wie sie jetzt ist, keine Schröder-, keine Gabrielpartei, keinen Merkeldackel, nicht rücksichtsvoll als Genossen der Bosse, sondern strikt als progressives Element linker Politik. Nur mit der SPD kann ein nachhaltiger Linksruck geschehen, nur mit der SPD außerhalb merkelscher Sphären und neoliberaler Alternativlosigkeiten lässt sich diese Alternative aus der Petryschale eingrenzen.

Womit wir beim Thema wären, denn wenn Gabriel, diesem alten Demokraten, wirklich um die Demokratie und um eine Neuausrichtung der Politik gelegen wäre, müsste er von der Obstkiste hinter seinem Podium herabsteigen und seinen Rücktritt einreichen. Mit ihm sollten gleich alle Zwanzigerzehner gehen, all die Verschlimmbesserer des Postschröderianismus, um den Gewerkschaftern und den progressiven Geistern der Partei wieder zur parteilichen Deutungshoheit zu verhelfen. Der erste Schritt, die AfD einzugrenzen, das wäre ein Rücktritt Gabriels und seiner Entourage; der zweite Schritt würde daraus bestehen, schnellstmöglich ein neues Programm zu verabschieden, in dem die Bürger wieder als Menschen, nicht nur als Konsumenten, vorkommen. Ein Bekenntnis zur Volkswirtschaft und seiner Regularien und kein Betriebswirtschaftshandbuch mit laxen Rahmenbedingungen ...

Die Leute wollen weg von diesem Kurs, sie votieren mittlerweile schon den Teufel, um überhaupt Bewegung in die Sache zu bekommen. Die Linkspartei ist ja keine Option, denn auch die Sozis haben schön daran mitgewirkt, diese Partei als Wolf im Schafspelz zu verunglimpfen. Jetzt hat sich die Entwicklung so verschärft, dass eine Anti-Kampagne gegen rechte Gruppierungen nicht mehr wirkt. Das Pulver der Kleinhaltung alternativer Parteien ist verschossen. Denn als es links ein kleines Alternativangebot gab, waren es alle vereint, auch die Sozialdemokraten, die es vereiteln wollten. Nochmal vereiteln sie etwaige und angebliche Alternativen nicht.

Ich erinnere mich, es ist Jahre her, da fragte ich Albrecht Müller von den NachDenkSeiten, wieso er nicht einfach aus der SPD austrete. Wortgetreu bringe ich die Antwort nicht mehr zusammen, aber sie lautete in etwa so: Weil es hoffnungslos wäre, gäbe es einen Kurswechsel in der Partei. Dann wäre ja niemand mehr da, der mit Sozialdemokratie was anderes meint als all jene, die jetzt am Ruder sind. Damals fand ich das unbefriedigend, ich war zu jung, verstand nicht richtig. Heute und gerade nach dem massiven Rechtsruck, verstehe ich es: Ohne Sozialdemokratie, die auch eine solche ist, wird es keinen Kurswechsel geben. Nur mit einer richtigen Sozialdemokratie kann man gesellschaftlich nach links wenden. Und solange sie weiter das tut, was sie jetzt seit Jahren tut, wird man die AfD als politischen Faktor betrachten müssen.

Sie ist ohne Übertreibung, nicht unbedingt die Kreatur Merkels, sondern einer gescheiterten Partei, die sich noch immer sozialdemokratisch nennt. Der Merkelismus mit seiner parteilichen Einheitsfrontpolitik, hat die AfD entstehen lassen; die SPD, die dieses Spiel lustig mitspielte, hat die AfD-Erfolge verursacht. Mit frommen Sprüchen, wie jenen des Herrn Gabriel, kriegt man das nicht mehr gebacken. Konsequenzen müssen her. Neuausrichtung. Besser jetzt als zu spät. Aber lieber schreibt man eitel Facebook-Statements und twittert seine Besorgnis und wirbt weiter für TTIP und hält den europäischen Kurs nach merkelscher Theorie. Die eigentliche Alternative für Deutschland sollte die SPD und die Linke sein. Sie wäre es auch, wenn man das früher begriffen hätte. Und nu haben wir eben eine andere und das macht einen Linksschwenk nicht einfacher. Unter Gabriel ist er eh nicht geplant ...

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AfD-Wähler, die unter der AfD nichts zu wählen hätten

Freitag, 18. März 2016

oder Diese Leute nicht mit Vorurteilen zu sehen, stellt auch eine Kulturleistung dar.

Der alte Mann schleppte sich in die Straßenbahn, lehnte seinen Stock an die Haltestange und kramte eine Bildzeitung aus seiner Einkaufstasche. Er wirkte ungepflegt, sein Haar war strähnig, hatte Zähne wie Sterne, gelb und weit auseinander. Auf seinem Hemd klebten die Überreste einer Mahlzeit. Ein jüngerer Mann entschuldigte sich, er würde ihm ja seinen Sitzplatz anbieten, aber er sei erst kürzlich am Knie operiert worden. Die Alte fragte nach, hörte vermutlich schlecht, winkte dann jedoch ab, er wollte ohnehin stehen, so behindert sei er ja noch gar nicht. Der Jüngere entschuldigte sich nochmals, erwähnte nochmals seine OP. Wahrscheinlich wollte er seine Story loswerden. Er trug schmutzige Jeans und sein Blick schien ungewaschen und stumpf. So quatschten sie ein wenig belanglos vor sich her. Nach wenigen Sätzen deutete der Alte auf einen Text in der Zeitung, es ging um die AfD, um die berechtigte Angst der Politiker, darum, dass diese Regierung fortgejagt werden müsse und die AfD hoffentlich an die fünfzig Prozent bei der nächsten Wahl bekommen sollte. Der Jüngere nickte, keuchte etwas Unverständliches durch das schwarze Loch in seinem Gesicht und beide ergossen sich in wütenden, aber rhetorisch unbeholfenen Floskeln.

Das waren die ersten AfD-Wähler, die mir tatsächlich und bewusst begegnet sind. Zwei abgeranzte Kreaturen, wie sie nur der Moloch einer Großstadt ausspucken kann. Zwei Organismen aus Dreck und Speck, wie sie nur in der Urbs darben können, ohne provinziell gemustert zu werden. Der eine wahrscheinlich ein vorzeitig gealterter Frührentner, der langsam der Verwahrlosung anheimfiel; der andere einer, der irgendwelchen Räuschen nacheilte und schon lange in eben derselben vor sich hin gammelte. Die Art ihrer Rede verriet, dass sie sich nicht sonderlich viel aus Literatur oder Bildung ganz generell machten. Sie lebten ihr Leben, hielten sich über Wasser, jagten dem kurzen und wankelmütigen Glück eines Alltages nach, der schon zufriedenstellte, wenn er sie nicht auffraß, sie irgendwie überleben ließ.

Die Wohlstandsgesellschaft hat ihre Gesichter. Auch diese beiden gehören dazu. Sie sind die Verlierer, die Gewinne ermöglichen. Nachvollziehbar wütend, nachvollziehbar voller Hass auf diejenigen, die vermeintlich noch schwächer sind als sie. Man braucht Adressaten seiner Unzufriedenheit. Und all die Krawattenträger in der Straßenbahn, die aus ihren Hochhäusern herunterkommen, um zwei Stationen weiter Mittagspause zu machen, jagen diesen Figuren zu viel Respekt ein, als dass sie dorthin ihre Enttäuschung zustellen würden.

Vor Jahren schrieb ich darüber, dass es einer Kulturleistung gleichkomme, sich im Alltag nicht in Vorurteile und ins Rechtsextreme zu verstricken. Jeder von uns ist grundsätzlich voller Ressentiments und Ansichten, die nur bedingt menschlich sind. In Gedanken würgen wir die Wichser, die uns über den Weg laufen; wir machen sie nieder, sind Helden unserer Phantasie, selbstgerechte Totschläger, sinnieren uns Strafen für diejenigen aus, die uns ärgern. Das ist menschlich und dies zu leugnen wäre nur unmenschlich und eine nicht normale Überethik. Ich schrieb damals, dass das Rechtsradikale in uns schlummert, es aber zu bändigen, das ist Zivilisationsauftrag und Kulturleistung. Aber wenn man am Boden einer Zivilisation herumkrebst, brechen auch solche Errungenschaften weg. Man holt die schlechtesten Seiten aus sich heraus, kultiviert den Menschenhass, wo er kanalisiert gehörte.

Gewissermaßen hatte ich im Nachgang dieser kurzen Geschichte in der Straßenbahn Verständnis für beide. Ich rechtfertigte es nicht, konnte es aber nachvollziehen. Im Augenblick aber, da ich dieser beiden Männer lauschte, wuchs nur meine Wut und mich packte Abscheu. Der Alte dürfte in den Augen der elitären Bonzen aus dieser Partei, auch nur ein Krüppel sein, den man zu nichts gebrauchen kann. Und der andere, der junge Mann, den werden sie zwangseinweisen oder zwangsarbeiten lassen. Je nachdem, was günstiger ist. Ich spürte, dass ich diese Dummheit, als Lamm zum eigenen Schlachter zu kutschieren, nicht begreifen konnte und wie es mich zornig machte.

Dummer alter Mann, fünfzig Prozent für diese AfD und du bist noch weniger als jetzt. Blöder junger Idiot, dich haben sie sicher am Wickel, denn du bist das, was sie ganz sicher nicht wollen für ihr neues Deutschland, dachte ich bei mir. Und überhaupt, wenn ich es mir recht überlege, empfinde ich es als Beleidigung, dass ich als Teil der Allgemeinheit für Leute wie euch aufkommen muss, Steuern bezahle, damit ihr halbwegs überlebt, um dann in öffentlichen Verkehrsmitteln über Parteien zu schwärmen, die den Hass und die Verkleisterung sozial- und rechtsstaatlicher Gedankengänge und die Abkehr von Menschen- und Bürgerrechte an sich, predigen. Sozialkassen dafür, dass ich mir diese Wahlbereitschaften anhören muss? Damit diese Leute bestimmen, wo es langgehen soll? Aber was wäre die Konsequenz? Ihnen das Wahlrecht entziehen? Die AfD würde das bei Arbeitslosen wollen. Wäre ich nur etwas dümmer, müsste ich die AfD wählen, damit sie so einer nicht mehr wählen kann. Aber der junge Knieoperierte wusste davon natürlich nichts. Die Dummen, die zersetzen unser Land, man sollte ihnen wenigstens alle Mittel strei...

Und dann wurde es mir bewusst. Auch ich muss zuweilen hoffen, dass der Zivilisationsauftrag an mir nicht versagt, muss Kulturleistung vollbringen. Bei dem einen schlägt das Rechtsextreme durch, beim anderen der Neoliberalismus in ihm. Jeder muss sich hie und da in den Griff kriegen, muss die blanke Wut an die Leine nehmen und seine Mitmenschen weiterhin als Menschen betrachten, auch wenn es schwer ist. Ich hielt mich im Griff, sagte nichts, dachte es mir bloß, überdachte nochmal und sah ein, dass Wut normal ist, aber man sich davon nicht leiten lassen dürfe. Wenn das noch der Alte und der Junge einsehen würde und all die anderen, die Protestwähler werden, dann hätte sich die AfD erledigt, weil sie am gelungenen Zivilisationseffekt gescheitert wäre. Aber der Lack ist bekanntlich dünn und Wut wieder ein Ratgeber, dem man folgt.

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Von Blindheit und Sehen

Donnerstag, 17. März 2016

Empathie und Empirie bedingen manchmal einander. Wir leben in einer Welt der Vereinzelung und verlernen zunehmend, uns in andere hineinzuversetzen. Auch ein Grund, warum man mit Parolen gegen Geflüchtete punktet. Vielleicht brauchen wir einfach mehr Erfahrungen am eigenen Leib.

Für anderthalb Stunden war ich vollkommen erblindet. Ich hatte ja schon viele Museen erlebt, in denen es faktisch nichts zu sehen gab. Aber dieses hier, das »Dialog im Dunkeln« im Frankfurter Ostend, war mit Abstand das beste aller Museen, in denen es absolut nichts zu sehen gab. Man drückte uns einen Blindenstock in die Hand, gab uns einige Anweisungen, wir sollten zum Beispiel die zu ertastenden Wände als Orientierung verwenden, und schon lotste man uns, eine Vierergruppe, in die absolute Finsternis. Es war tatsächlich so stockdunkel (kommt dieses Wort eigentlich von jenem Stock, den man vor sich hin und her wedelt?), wie ich es nie zuvor gekannt hatte. Dort empfing uns unser Guide, Andy mit Namen, eine angenehme Stimme, wir sahen ihn ja nicht. Später erfuhren wir, dass er blind ist. Er war der einzige Sehende in den Räumlichkeiten, durch die er uns führte.

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Die Antinativen, die Systemfrage und ihre Homogenität

Mittwoch, 16. März 2016

Trump behauptete wieder mal, dass alle Politiker Lügner seien. Die Teeparty betätigt sie so schon seit einigen Jahren. Die Alternative aus der Petryschale setzt ebenfalls da an: Politiker hätten uns an den Rand des Zusammenbruches regiert, daher müsste nun die AfD ans Ruder. Ähnlich feierte man den noch amtierenden Bundespräsidenten einst. Das sei nämlich einer, der nicht aus der Politik käme, was dem Amt nur guttun sollte. Und hin und wieder gefiel sich der Mann aus Bellevue in der Rolle des frischen Newcomers, der denen da oben mal zeigt, wie Herr Normalwähler tickt. Die Bürger für Frankfurt warben auf ihren Plakaten im letzten Kommunalwahlkampf fast identisch. Sie erklärten, dass die Politik versagt habe, weswegen sie es jetzt richten müssten. Politik, die mit Anti-Politik gemacht wird. Es ist auch so ein Konzept in hochgradig politischen Zeiten, ausgerechnet mit Unpolitik punkten zu wollen.

Der Anti als Held. Ein mehr oder weniger - wahrscheinlich weniger als mehr - zeitgenössisches Konzept. Man kann es gut am Charakter moderner Serien ablesen. Tony Soprano. Walter White. Jetzt ist er in der Politik angekommen. Das heißt, er will hinein, denn er gibt vor, noch gar nicht dort angelangt zu sein. Dort sind andere. Und die sollen nun verdrängt werden durch Helden, die dem Metier, in das sie streben, nicht nur fremd sind, sondern fremd bleiben wollen auf Amtszeit. Das Anti-Movement, die Anti-Politiker, Anti-Parlamentarismus und Anti-zu-den-Althergebrachten, die laut »Schluss mit der politischen Kaste!« rufen und je nach Radikalisierungsfaktor auch »Lügenfresse! Lügenfresse!« schreien, streben nun ins Politische und zeitigen einigen Erfolg.

Das zur Schau gestellte Gegenteil des gegenwärtigen Systems, bestehend aus Filz und Korruption, Lobbyismus und elitärem Dünkel, Arroganz und Abgehobenheit, ist geeignet dazu, um als alternatives Angebot, als aussichtsreiche Wahlkampagne herzuhalten. Man braucht keinen Inhalt, das Anti, dieses bloße griechische Präfix, der von Substanz entleerte Antagonist an sich, reicht vollkommen aus, um als alternative Option akzeptiert zu werden. Ein eigenes Konzept ist überflüssig, nicht zu denen zu gehören, die »da oben« zu bashen, sich selbst gekonnt als Widersacher zu allem aufzuführen, was bislang auf der Bühne geboten wurde, ist der Ansatz vieler dieser Anti-Figuren. Sie sind so gesehen keine Alternative, sondern Antinativen.

Vom Namen her, vom Popanz. Eigentlich sind sie es ja nicht. Sie streben in einen Betrieb, den sie ablehnen, ergreifen die Mittel, die sie für völlig verrottet halten und mutieren früher oder später zu denselben Apparatschik-Bestien, die sie jetzt noch als ihre Antipoden hinstellen. Sie weilen gewissermaßen in dem System, das sie verbal ablehnen, in einem Zustand der Homogenität. Sie sind involviert und integriert, wollen an die Posten, die sie jetzt als überflüssige Einkunftsmaschinerie aufgreifen. Sie stellen fürwahr eine Systemfrage, aber nicht, weil sie das System auf Meta-Ebene für reformbedürftig halten, sondern weil sie es nur missbraucht glauben. Die neoliberale Stussrichtung der AfD ist hierfür Beispiel. Systemfrage bedeutet bei den Antinativen nichts Fundamentales, es bedeutet einfach nur, einen Abklasch von Systemrhetorikfragerei zu liefern. So zu tun, als glaubten sie an das Überkommene eines Systems, das sie an sich aber für sich gebrauchen wollen, sofern sie an die Tröge öffentlicher Ämter hinwühlen können.

Sie sind Antipoden des Augenblicks, Leute, die mit dem Anschein von Anti-Stimmung auf Menschenfischfang gehen, die als Rebellen Wirkung erzielen wollen, obgleich sie angepasst genug sind, die Möglichkeiten demokratischer Systeme für sich auszunutzen. Die durchaus kritikwürdige Kaste von Politikern, die das Primat ihres Fachs aufgegeben haben, erleichtern solchen Anti-Helden den Zugang zur Öffentlichkeit. Aber all die antinativen Bewegungen, die man jetzt so erblickt, sind ja nicht Neulinge im Politbetrieb oder Widersacher der Wirtschaftseliten. Sie kommen von dort und gehen wieder dorthin zurück. Sie bewegen sich in denselben Gefilden, begehen dieselben Wege und haben ähnliche Denkmuster, vor allem auf ökonomischen Gebiet. Sie sind keine Alternative zur Ökonomie, sondern nur deren perverseste Wucherung, die schlimmste Ausbeulung einer Idee, die sich schon unter dem gegenwärtigen Personal in den Parlamenten menschenverachtend gibt.

Ob nun Trump, AfD oder Kommunalparteien, die denen da oben den Marsch blasen wollen: Alle sind sie nicht Anti, sie sind Homo, ein homogener Haufen kapitalistischer Kreaturen, denen Bürger- und Menschenrechte zunehmend als lästig und zu teuer vorkommen, die Debattenkultur als zeitaufwändig und daher als Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit abtun. Es sind wahnsinnige Buchhalter des Zeitgeistes, keine Systemfrager, sondern Bejaher desselbigen. Ähnliches erlebte man während der Zwanziger- und Dreißigerjahre in Europa. Überall Anti-Stimmung zur Demokratie. Dieses Phänomen hieß Faschismus. Heute wollen sie wieder gegen Plauderbuden und gegen »die Politiker« vorgehen und vergessen dabei, dass sie selbst Politiker sind und daher Debatten brauchen, wenn sie nicht Diktatoren werden wollen.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 15. März 2016

»Mein Vater sprach immer davon, die drei großen Übel zu überwinden: Armut, Militarismus, Rassismus. Schauen Sie, wo wir heute stehen.«
- Martin Luther Kings Sohn in einem Interview -

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Die öde Wissenschaft, die jetzt Lifestyle ist

Montag, 14. März 2016

Klickt man bei der Onlineausgabe des »Stern« auf den Wirtschaftsteil, so kann man unter anderem einen Bericht über die »jüngste Milliardärin der Welt« lesen. Wie sie lebt und liebt und wie es sich da oben so atmet. Beim Spiegel kriegt man unter dem Label »Wirtschaft« etwas über Christian Lindners ersten Porsche erzählt. Letzteres hat man nach einigen Tagen zur Politik verschoben, wohin es wahrscheinlich thematisch auch nicht passt. Komisch, war Wirtschaft nicht mal etwas völlig anderes? Seit wann sind Stories im Stile von »exklusiv« wirtschaftsrelevant? Oder ist das die Vollendung der ökonomischen Dekadenz, in die wir uns sukzessive manövriert haben?

Die Wirtschaft oder Ökonomie behandelt die Gesetzmäßigkeiten der Bedürfnisbefriedigung oder eben etwaiger Fehlstellung. Sie handelt ab wer mit wem und mit was und wieviel. Arbeitsplätze, Ressourcen und Vertrieb. Welches Produkt wird wie hergestellt und wo abgesetzt. Woher kommt die Nachfrage? Ist das Angebot ein Angebot oder doch nur eine Luftnummer? Es geht um Besteuerung oder deren fahrlässiger Unterlassung zur allgemeinen Leerstellung öffentlicher Kassen. Wirtschaft fragt, ob Regulierungen installiert und Gesetze getroffen werden müssen, um gesellschaftliche Entwicklungen in diese oder andere Richtungen zu lotsen. Wie ist die Wirt-Gast-Beziehung und sind unsichtbare Hände wirksam oder braucht es zupackende Hände, die man sehen und spüren kann? All sowas ist das, was man Wirtschaft nennt und was die Wirtschaftsressorts diverser Zeitungen behandeln sollten - und vielleicht auch mal behandelt haben. Früher.

Nun geht es aber auch um den Lohn des Wirtschaftens in diesem Bereich. Darum, was man mit der Kohle machen kann, wenn man sie erwirtschaftet hat. Wie man dazu kam, ist dabei nicht mehr wesentlich. Man hat - und das ist Auszeichnung genug, um als Wirtschaftsikone mit Lebemann- und Lebefrauattributen durchzugehen. War vorher mal das Wie, Woher und Wieviel von Bedeutung, gibt es heute eine Subkategorie des Fachs, die sich mit dem »Was kauft er sich denn?« oder »Wie großartig es sich davon leben läßt!« befasst. Wo es um wirtschaftliche Spieler gehen sollte, um Unternehmen, Arbeiter, Zwischenverdiener, Ausbeuter und wahlweise faire Geschäftsmänner, da geht es bei dieser Kategorie der Wirtschaftsberichterstattung nur mehr um die Wirtschaftlichkeit reicher Leben, um den Stolz wirtschaftlich gediegener Herrschaften.

Diese perverse Nabelschau von Menschen, die sich was leisten konnten, obgleich sie vielleicht nicht mal was geleistet haben, ist eine »Errungenschaft« der Neunzigerjahre. Als alle Welt mit einem Fingerschnippen zu Reichtum kommen wollte, sich börsennotierte und der Achtziger-Yuppie plötzlich eine Lebenseinstellung für Massen, eine neue Mitte und kollektiver Zeitgeist wurde. Damals ging es los mit Starmagazinen, mit dem Leben der Schönen und der Reichen zur besten Sendezeit; plötzlich wollte jeder hineinschauen in den grenzenlosen Reichtum, die obszöne Wirkung von unermesslichem Geldnachschub beobachten. Das hat sich bis heute in den Wirtschaftsspalten mannigfaltiger Qualitätsmedien gehalten. Denn seit damals lehrt man uns, dass Wirtschaften ja nichts anderes sei, als die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Und wieso sich keinen Rassehengst davon kaufen? Oder einen Flitzer?

Man muss von Wirtschaftsjournalisten nicht erwarten, dass sie klassenkämpferisch fragen, ob der Lebenstil verschiedener Personen verdient ist oder doch nur Produkt der Arbeitsleistung anderer. Jedenfalls nicht in den oben genannten Blättern. Sie bedienen ein Gesamtpublikum und müssen nicht sozialistisch einwirken. Aber sie müssten und dürften eben auch nicht über solchen Lebensstil schreiben und das Ganze dann unter dem Label der Wirtschaftsberichterstattung laufen lassen. Das ist Lifestyle, eine dieser neueren Spalten der allgemeinen Berieselung mit Nichtigkeiten. Linders Porsche hat neben neuen Brüsten eines C-Stars zu firmieren, nicht dort, wo man über die Zahlen eines Automobilkonzerns berichtet; die Pferdenärrin passt in die Spalten, in denen es um Bohlens neueste Innovationen am Gespielinnenmarkt geht, nicht neben Berichten über Indizes und Ökonomenexpertisen.

Aber scheinbar ist Ökonomie heute viel mehr, ein Lebensgefühl halt. Nicht mehr öde Wissenschaft. Sondern geile Daseinsfreude der Gewinner. Über die Verlierer verliert man nur sterile Worte. Sie könnten ja auch einfach reich werden; Ökonomie ist doch, das wissen wir seit den Yuppies, eine Chance für jedermann. Man muss sich nur anstrengen, dann klappt es auch mit Porsche und Wellenreiten. Wer nie dazu kommt, der kann eben nicht wirtschaften. Und darüber muss man im Wirtschaftsteil ja auch nicht schreiben, nicht wahr ...

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... shame on me!

Freitag, 11. März 2016

Über Scham, über Beschämung, über Schande . darüber wird derzeit viel gesprochen. Es sind Floskeln, die häufig vorkommen in diesem Deutschland, das um eine »Alternative« ringt, aber sich offenbar vermehrt für eine weitere Alternativlosigkeit (nach der merkelschen) entscheidet. Facebook verkommt zu Shamebook, in dem viel zu viele darlegen, dass sie sich für dieses Land und einige der darin enthaltenen Figuren schämen. Wegen Clausnitz. Pegida. AfD. Seehofer. Und Petryhöckegaulandstorch. Wegen des Rechtsruckes halt. Wegen Polizei, die Flüchtlinge aus Bussen zerrt. Dieses vorauseilende Schamgefühl ist Quatsch. Welche Verantwortung zwingt uns denn dazu, den Stolz zur Schau getragenen Antihumanismus zu entschuldigen und uns dafür zu schämen? Wir Anständigen können doch nichts für die Unanständigen!

Sich für irgendwas oder jemanden zu schämen, das setzt Verbundenheit voraus. Ein Wir-Gefühl. Eine Zugehörigkeit. Es gibt mittlerweile zwar den Begriff des »Fremdschämens«, eine Wortschöpfung, die es vielleicht erst seit Casting-Shows und Dschungelcamps gibt, der daher erst seit sieben Jahren als Begriff im Duden festgesetzt ist. Aber das Fremdschämen beschreibt nicht das Unwohlsein, die Peinlichkeit und die Wut, die beim »Sich-für-jemanden-schämen« eigentlich eintreten. Fremdschämen ist in erster Linie ein Amüsement aufgrund anderer, ist der wohlige Zustand dessen, nicht ganz so blöd zu sein wie jener, der sich gerade zu Idioten macht. In diesem Kontext geht es nicht um das Wir, nicht um eine irgendwie geartete Verbindung zu dem, für den man sich eben fremdschämt. Da bin ich und dort der andere, der mit mir nichts zu tun hat, der mich aber für einen kurzen Augenblick berührt, tangiert, sich zu meiner Freude herabwürdigt und mich so emporsteigen lässt. Die klassische Beschämung hingegen baut auf Verbindung und »Bekanntschaft«. Wir müssen uns mit denen, für die wir uns schämen, auf die eine oder andere Weise eins fühlen, identifizieren. Als Gemeinschaft sehen, in dem jeder von uns als Mitglied fungiert.

An dieser Stelle beginnt das Problem. Denn eine Verbundenheit mit denen, die jetzt lautstark dem Rechtsruck frönen, kann ich für mich (und sicher viele andere auch) zum Beispiel gar nicht feststellen. Seit Jahren plärren sie gegen Ausländer, Schwule, Linke und Arbeitslose. Seit Jahren rückt auch das, was wir die gesellschaftliche Mitte nannten, immer weiter nach rechts. In dieser Gesellschaft fühle ich mich seit Jahren nicht mehr wohl. Und seit endlosen Jahren gibt es für mich die da drüben und mich hier, gibt es die Rechten und die Vernünftigen (die nicht mal links sein müssen, sondern einfach nur bei Verstand), die populistisch aufgewiegelten Stumpfsinnsbürger und die Aufgeklärten. Die Bildzeitungsleser und die Leute mit Karte der Stadtbücherei. Welche Begründung hätte ich also, mich für Leute zu entschuldigen, mich ihrer zu schämen, wo ich doch schon so lange keine Verbindung mehr zu ihnen verspüre?

Clausnitz beschämt uns also derzeit. Vor einiger Zeit hieß Clausnitz noch Heidenau. Wir schämen uns vor der internationalen Gemeinschaft für Dörfer. Für sächsische Dörfer, die uns vor einiger Zeit noch böhmische waren. Für sächsische Dörfer, die jetzt neuerdings ja auch hessisch zu sein scheinen. Wer kennt Zwingenberg, Hüttenfeld oder Hähnlein? Dörfer von der Bergstraße, die mit über 18 Prozent AfD wählten? Wer kennt Lindenfels oder Ober-Klein-Gumpen im Odenwald? Über 14 Prozent dort. Wir schämen uns für die provinzielle Ansichten einiger Menschen, die uns quasi immer fremd waren, die wahrscheinlich stets mehr oder weniger gegen Randgruppen plärrten. Wie hätte man sich je mit solchen Gesellen identifizieren können, als dass wir nun verantwortungsvoll sagen könnten: »Gott, ich schäme mich ja so!«

In moralische Sippenhaftung für die da drüben und die da unten will ich nicht genommen werden. Das hatten wir schon mal. Fool me once, shame on you. Fool me twice, shame on me, sagen die Amerikaner. Sollten wir erneut für die Unarten und Untaten solcher Leute Beschämungen zeigen, dann shame on me. Erneut zu sagen, dass man sich schäme für das, was geschehen sei, ist eine Farce. Geschichte wiederholt sich nur als solche. Die sollten sich schämen. Nicht wir anderen. Aber die schämen sich ja nicht, das geht ihnen völlig ab.

Wir müssen uns nicht schämen. Nicht für uns, nicht für die. Fremdschämen geht auch nicht, denn das klappt nur, wenn ein anderer etwas Dummes macht. Das tut aber keiner von denen. Sie machen etwas Kriminelles. Zwischen dumm und kriminell ist dann doch noch ein Unterschied. Schämen ist Quatsch. Wir sollten diese Leute, wann immer sie uns namentlich habhaft werden, direkt den Behörden melden, dem Staatsanwälten Meldung machen, gerne auch den Justizapparat überlasten. Wer hetzt und aufwiegelt, für den schämt man sich nicht. Den versucht man justiziabel zu machen. Strafanzeigen stellt man hier.

Scham bringt keinen vor Gericht. Und diese Art von Scham von Deutschen wegen anderer Deutscher hat ja auch was seltsam Nationalistisches. Was Nationalfamiliäres. Und das ist heute, in Zeiten, da es solche Reinheiten weniger denn je gibt, überhaupt kein Ansatzpunkt mehr. Die Scham ist etwas, was man in der Unterhose stecken hat. Ansonsten ist sie nur ein dummer Spruch. Schämst du dich noch oder zeigst du schon an?

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Machen Sie ne Therapie, Frau Steinbach!

Donnerstag, 10. März 2016

Alle watschen nun Erika Steinbach wegen ihres Tweets ab. Das von ihr getwitterte Foto indischer Frauen, die ein blondes Mädchen begaffen, ist aber familiäre Verarbeitung. Überhaupt scheint alles, was sie zur Flüchtlingsdebatte absondert, eine Projektion ihres Schattenarchetyps zu sein.

Die Frauen eines indischen Dorfes stehen um einen Blondschopf. Sie machen große Augen, beugen sich zu ihm herunter, einige lachen ob der Exotik. Das Bild kursierte schon einige Jahre in etwaigen sozialen Netzwerken. Völkische User posteten es gerne. Nun auch Erika Steinbach, ehemalige Vertriebenenpräsidentin. Sie überschrieb es gleich noch mit dem griffigen Slogan: »Deutschland 2030«. Völlig nachvollziehbar die Reaktionen darauf. Dass das einer Person, die in ihrer Partei als Sprecherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe fungiere, nicht würdig sei, ist zweifelsfrei richtig. Es ist ferner Panikmache. Das Bild ist zudem komplett aus dem Zusammenhang gerissen, denn es entstand in Indien und zeigt damit eigentlich das, was Steinbach sich scheinbar wünscht: Eine relativ homogene autochthone Gesellschaft, die Minderheiten verspottet – und eben nicht das glatte Gegenteil dessen, wie sie mit dem Posting suggerieren möchte.

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Republikaner, die in Zügen sitzen

Mittwoch, 9. März 2016

Kürzlich berichteten »Spiegel« und »Manager Magazin« von Deutschlands Pendlerströmen. Die Bereitschaft einen Arbeitsplatz, der 100 oder mehr Kilometer von der eigenen Haustüre entfernt ist, täglich aufzusuchen, sei in den letzten zehn Jahren sprunghaft angestiegen. Man darf sich also nicht wundern, dass wir in einer entsolidarisierten Gesellschaft leben. Denn lange Fahrtwege, immer auf dem Sprung zu sein, um die geplante Bahnverbindung doch noch zu kriegen, Stress in der Arbeit, zähe Stunden in Abteilen oder auf Autobahnen und ein Leben, das kaum in den heimischen Wänden stattfindet, erzeugt einen Typus, der für soziales Engagement und Solidarität wenig Energie aufwenden kann. Der Pendler ist mehr als andere mit sich selbst beschäftigt.

Das behauptet jedenfalls Claas Tatje, als er »Unterwegs in der Pendlerrepublik« war. Eine seiner darin vorgebrachten Thesen und Befunde war, dass Solidarität und Mobilität nicht zusammengehen. Kommunen, in denen sich die Bevölkerungsstruktur stark aus Pendlern zusammensetzt, würden demnach viel häufiger unter allgemeiner Desinteresse leiden, unter fehlenden Engagement in Gruppen und Vereinen, natürlich leidet auch das Ehrenamt darunter. Die res publica, die öffentliche Sache also, verwaist unter dem Zugriff langer An- und Abfahrtswege.

Tatje führt das nur kurz aus, er weist gewissermaßen darauf hin und belegt es noch kurz mit Studienergebnissen. Dann hangelt er sich zum nächsten Punkt seiner inhaltlichen Agenda. Aber zurück bleibt doch die Frage, was die Entsolidarisierung der letzten Jahre und Jahrzehnte mit dem Zeitmanagement zu tun hat, mit Wegen und Wartezeiten, mit Zugabteilen und Staus. Wobei das eigentlich gar keine Frage ist, sondern sich relativ logisch erschließt. Der öffentliche Raum braucht, wie alle anderen Interessensgebiete auch, die Zeit der darin enthaltenen Subjekte. Mangelt es daran, verwaist der öffentliche Auftrag jedes Einzelnen. Wenn es an Zeit und Energie der Vereinsmitglieder mangelt, schließt ein Verein eines Tages das Kassenbüchlein und trifft sich nicht mehr. Die res publica kann das nicht. Sie wird weiterbetrieben ohne das allgemeine Interesse.

Über die Weimarer Republik sagte man, dass sie eine Republik ohne Republikaner gewesen sei. Das trifft mit anderen Vorzeichen auch auf diese Berliner Republik zu. Damals mangelte es an Republikanern, also an Menschen, die sich als Entscheider in öffentlichen Dingen fühlten, weil sie es nie gelernt hatten - heute mangelt es an Republikanern, weil sie in Zügen und Staus festsitzen, keine Zeit, keine Kraft mehr haben, weil sie sich verausgaben auf ihren Weg zwischen Arbeitsplatz und Wohnort, viele hundert Kilometer in der Woche abspulen und danach den Feierabend als sich berieselndes Zeitkontigent betrachten, in dem für komplexe gesellschaftliche Themen lieber kein Termin reserviert sein sollte.

Dass wir vereinzeln und uns entsolidarisieren, das wissen wir schon wesentlich länger, hat mit dem Druck am Arbeitsmarkt zu tun. Das ist die etwas oberflächliche Betrachtung des Phänomens. Spezifischer gesprochen sind es Überstunden und das Pendeln, die etwaige Republikaner zu Einzelkämpfern im neoliberalen Sinne des schlanken Staates werden lässt. Nicht, weil sie das bewusst so wollten, sondern weil sie die Müdigkeit und Ausgelaugtheit dazu zwingt. Sie sind Produkt ihrer Lebensumstände und je mehr für eine mobilisierte Gesellschaft getan wird bzw. je großzügiger die Politik das Pendeln subventioniert, desto eher schwindet die Kohäsion der res publica, wird sie zur Waisin, zum Spielplatz von Interessensgruppen, die nicht im Sinne aller Öffentlichkeit entscheiden, sondern ihrer eigenen Bevorteilung wegen politisch streiten.

Tatje stellt die Pendler nicht als Opfer hin. Viele entscheiden sich bewusst für ein Häuschen im Grünen und einen Arbeitsplatz 120 Kilometer weiter. Sie wissen sehr wohl, was sie tun, wenn sie es tun. Aber darum geht es im Moment nicht. Je mehr Arbeitnehmer räumlich (und zeitlich) flexibilisiert werden, desto mehr driftet die republikanische Idee ab, kommt es zu entsolidarisierten und vereinzelten Konzepten, in denen Hilfebedürftige auf sich alleine gestellt bleiben. Desinteresse beflügelt solche Entwicklungen. Und der Pendler ist, ohne von Einzelfall zu Einzelfall entscheiden zu wollen, a priori ein an der öffentlichen Entwicklung, an der Allgemeinheit, am sozialen Miteinander eher desinteressierter Zeitgenosse. Was ihm abgeht sind Kraft und Zeit. Pendeln zehrt aus. Es ist das Pendeln des neoliberalen Zeitgeistes.

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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 8. März 2016

»Und die Merkel ist an allem schuld. Seit zehn Jahren lese ich jetzt diesen Schwachsinn in allen Zeitungen. Die Merkel ist schuld an unserer Lähmung und an unserer Lethargie. Und dass wir so apolitisch sind. Was? Die hat ja eine Zauberkraft, die Frau Merkel. Das ist ja ungeheuerlich. Und was stellen wir uns aus für ein erschütterndes Zeugnis, wenn wir uns von einer Frau Merkel lähmen lassen können. Was sind wir für Weicheier. Man hat oftmals den Eindruck in Deutschland, dass die Leute im Grunde enttäuschte Demokraten sind, im Grunde ihres Herzens Royalisten, die sich einen König wünschen, damit sie ihn doof finden können. [...] Wegen der Merkel gehen wir nicht mehr zur Wahl. Das könnte uns passen. [...] Bei mir hat der Zauber nie gewirkt von der Frau Merkel zum Beispiel. Ich gehe immer trotzdem noch zur Wahl. Ganz eigenartig so eine Immunität.«

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Die Linke und die Rechte und was den Unterschied macht

Montag, 7. März 2016

Eine Abfuhr an den linken Populismus.

Abkehr von Europa, Brüssel als Entmachtung des Volkswillens, die EU ein Apparat zur Beseitigung nationaler Entscheidungskompetenzen, die Vereinigten Staaten als Kommandozentrale: Das sind so Schlagworte, die man bei den Anhängern der AfD wie von »Die Linke« gleichermaßen hört. Der Feind ist benannt und rechts wie links eigentlich derselbe. Dass man bei der AfD solche Feindbilder pflegt, ist eigentlich geschenkt. Was man der politischen Linken vorwerfen muss: Sie hat zwar im Ansatz das Problem erkannt, aber ein Konzept für eine kontinentale Union aufbauend auf linken Werten legt sie jedoch nicht vor. Auch sie macht es lieber populistisch und emotionalisiert.

Heute verwische alles, hört man zuweilen. Die Übergänge seien fließend. Manche behaupten sogar, dass rechts und links politische Strömungsrichtungen seien, die es im modernen Geflecht aus Wirtschaft, Staat und Gesellschaft gar nicht mehr gäbe. Daher demonstrieren auch Rechte mit, wenn es gegen das Freihandelsabkommen geht. Und Linke merken nur schwerlich, dass sie völkischen Predigern auf den Leim gehen, wenn sie mit ihnen für den Frieden kundgeben.

Beide Richtungen wollen schließlich in vielen Angelegenheiten dasselbe. Frieden, keine Einflussnahme von Außen, lehnen den aggressiven Amerikanismus ab, die fette EU-Bürokratie und ihre Krisen- und Rettungspolitik. Sie mögen das westliche Wertesystem nicht so richtig. Die Linken aufgrund der kapitalistischen Dekadenz; die Rechten, weil sie sie den Parlamentarismus für zu liberal halten. Was jedoch unterscheidet ist das Gesellschafts- und Menschenbild. Aber wenn man sich als gemeinsamen Nenner ganz allgemeine Abneigungen erwählt hat, dann ist der Zähler unter dem Ziele, Absichten, Wegrichtungen und Pläne zu suchen wären, nicht mehr besonders relevant. Gerade aber in diesen Tagen, da Europa auseinanderbricht, braucht es eine linke Alternative zum neoliberalen Kontinentalentwurf und nicht Häme und Spott, keine linke Akzeptanz der Renationalisierung und diesen Überschuss an fatalistischer Resignation.

Diese Europäische Union reibt sich an den Nationalegoismen auf; sie hat ja Konstruktionsfehler. Eine Währungsunion alleine reichte nie und nimmer aus. Das konnte man ahnen. Manche haben es vorab ausgesprochen. Sie war als ein uneinheitliches Wirtschaftsgebiet geplant und ist es geblieben. Bis heute existiert keine gemeinsame Wirtschaftspolitik (Stichwort: deutscher Exportüberschuss und von den anderen importierte Arbeitslosigkeit). Es wollte nie eine Arbeitsmarkt- und Sozialunion sein. Die Bundeskanzlerin hat speziell letzterem Entwurf noch vor zwei Jahren eine strikte Absage erteilt. Europa sollte weiterhin ein weitestgehend nicht homogenes Territorium sein, in dem nur Herausgepicktes standardisiert wird, nicht aber das Gros anpassungswürdiger Sujets. So wollte sich der Norden dem Süden gegenüber schadlos halten und sich übervorteilen.

Brüssel ist reformwürdig, aber nicht abschaffungsreif. So ist es mit vielem, dem man jetzt populistisch und ohne alternativer Programmatik entgegentritt. Dem westlichen Werten, die ja nicht per se schlecht sind. Den Amerikanern, die ja auch Leute wie Sanders aus ihrer politischen Kultur hervorbringen können - und nicht nur Trumps und Bushs. Man hört in diesen Zeiten viel von links davon, was alles nichts ist - was alles aber etwas sein könnte, hört man seltener. Deswegen halte ich Lafontaine mittlerweile für unerträglich. Dauernd schüttet er das Kind mit dem Badewasser aus. Gut, das Badewasser ist mittlerweile erkaltet und trübe, man sollte neues einlaufen lassen. Aber hierzu lupft man den Stöpsel und lässt das Kind drin sitzen. Das wäre linker Ansatz - der rechte schüttet immer alles aus. Das sollte die Linke dringend vermeiden.

Momentan wirken aber viele Akteure der politischen Linken ungenau besehen leicht wie Rechte. Sie argumentieren gleichfalls emotional und teilweise mit Schaum vorm Mund. Weisen dieselben politischen Einrichtungen und Entwicklungen zurück und pflegen ähnliche Feindbilder. Aber es kommt darauf an, das Beste aus allen Möglichkeiten zu machen, die wir haben. Alles wegzuwischen hat etwas Umwerfendes, politisch gesprochen: etwas Revolutionäres. Aber darum darf es einer aufgeklärten Linken nicht mehr gehen. Sie muss sich dem Reformismus verschreiben und das, was sie an Missständen beklagt, abändern wollen. Davon ist allerdings derzeit wenig zu vernehmen. Konstruktiv und ohne vereinfachende Parolen in den politischen Alltag zurückzukehren: Das wäre der erste Schritt, um sich von den rechten Parteigängern zu unterscheiden.

Und man darf sicher sein: Viele, die jetzt meinen, dass die AfD auch nur irgendwie gegen Ähnliches angeht, wie »Die Linke« die tut, fallen von dieser selbsternannten Alternativpartei ab, um wieder echten linken Grundsätzen zu folgen. Man muss sich konstruktiv unterscheiden und darf nicht alles, von Brüssel bis Washington abwerfen, wie den Ballast vorangegangener Zeiten, mit dem man nichts mehr zu tun haben will. So argumentiert die AfD ja auch. Aber nun ist es eben so, man muss das Beste aus dem machen, was man hat - und das Beste aus den vorfindbaren Strukturen herauszuarbeiten, das war stets beste linke Aufgeklärtheit. Man muss die Welt nicht neu erfinden, man muss sie nur neu machen.

Chantal Mouffe behauptet ja in ihrem Buch unter anderem, dass man Emotion und Populismus braucht, um die Linke neu zu erfinden - dem sollte man nicht folgen. Das ist ein Irrweg, der zur politischen Beliebigkeit führt, zur Verknappung und Inhaltslosigkeit. In Grundzügen erleben wir diese Masche heute schon. Man sollte zurückfinden zur Aufklärung, zur Maßhaltung, zu gebildeten Grundlagen moderner politischer Analyse. Die belgische Politologin empfiehlt, dass die Linke die Methoden der populistischen Rechten anwenden sollte, um sich Gehör zu verschaffen. Aber exakt das sind ja die Praktiken, die die Linke ununterscheidbar von der Rechten macht - jedenfalls auf den ersten Blick. Man kann nicht ähnliche Sachthemen wie rechte Parteien besetzen und diese dann auch noch mit ähnlichen Sprüchen umwerben, ohne als der Kopf derselben Hydra angesehen zu werden.

Wenn die Linke überhaupt etwas bedeuten soll, dann doch der Umstand, dass sie nachdenklicher agiert, mit mehr Überblick und unter Einzug möglichst aller betroffenen Gesellschaftsschichten. Die Rechte macht es aus dem Bauch heraus, erst reden, dann denken. Wer das der Linken empfiehlt, der gibt miese Ratschläge. So macht sie sich nicht zur Alternative, so gerät sie unter die Räder. Sie sollte erst denken, dann reden und besser noch: argumentieren. Faktisch ist es aber in vielen Punkten eh schon so, dass die Linke populistisch auftritt, wo sie es nicht sollte. Siehe die oben genannten Felder. Was wir jetzt schon beobachten können, hatte der Publizist Kurt Hiller Ende der Zwanziger, Anfang der Dreißiger bereits als »linke Leute von rechts« tituliert. Und irgendwie glich das damalige Verhältnis der Linken zur Rechten schon dem, was Mouffe ans Herz legt: Populismus auf beiden Seiten. Eine aufgeklärte Linke sollte sich das nicht leisten. So löst man nicht die Probleme unserer Zeit. So wird man zum Teil desselbigen.

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Eine utilitaristische Betrachtungsweise des Drogenkonsums

Sonntag, 6. März 2016

Rücktritt nach Drogenfund. So endete letzte Woche die politische Karriere des Volker Beck. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Doch wem hat er eigentlich geschadet? Andere haben massiv geschädigt und werden weder mit Spott noch mit Rücktritt entlohnt.

Nun haben sie also »Substanzen« bei jenem Herrn Beck gefunden, der stets die Ansicht hegte, dass die »Kriminalisierungspolitik von Drogenkonsumenten« gescheitert sei. Jetzt wird er selbst kriminalisiert. Er war nur konsequent – und deshalb stellt sich nun mehr als in anderen ähnlich gearteten Fällen die Frage: Wen hat der Mann eigentlich geschadet? Das ist ja eine der grundsätzlichen Fragen, die Befürworter einer laxeren Drogenpolitik in den Diskurs werfen. Was spricht gegen Legalisierung, wenn selbige zu einer Entkriminalisierung und zu weniger kriminellen Einzelschritten bei der Beschaffung und beim Konsum führen? Ein leichterer Zugang zu bestimmten Substanzen nimmt Dealern und Produzenten den Markt, bremst den kriminellen Wettbewerb und macht Konsumenten sukzessive zu Menschen, die nicht mehr in den düsteren Nischen der Gesellschaft abtauchen müssen, um nicht von einer Moral torpediert zu werden, die auch noch den Richterspruch hinter sich weiß.

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Jedermänner und Niemande

Freitag, 4. März 2016

Was sehen wir hier? Ein Wahlplakat aus dem Frankfurter Kommunalwahlkampf. Oberflächlich betrachtet vollkommen richtig. Die Frage war auch nicht konkret genug. Also: Was sehen wir darauf? Eine Botschaft über bezahlbaren Wohnraum. Für alle. Für jeden erschwinglich. Und wer ist darauf zu sehen? Ein junges Paar. Beide lächeln. Vielleicht sind sie verliebt, sie halten sich ja ihre Händchen. Ranzig angezogen sind sie nicht. Sitzen auf einem schönen Parkettboden. Laptop auf dem Schoß. Die Zähne sehen gepflegt aus. Weiß glänzend. Beide haben einen ordentlichen Haarschnitt. Man ahnt, diese Menschen haben einen Arbeitsplatz, der sie finanziell ausstattet. Sie haben einen Zahnarzt, bestellen online Einrichtung und gehen regelmäßig zum Friseur. Sie haben guten Grund fröhlich zu sein. Sehen aus wie Katalogmenschen, attraktive Agendawesen, denen alles zufliegt. Warum um Himmels Willen steht dann da, dass es für jeden erschwinglich sein soll?

So sieht nicht jeder aus. So geht es nicht jedem. Wenn auf dem Plakat ein etwas speckiges Paar gesessen hätte. Vielleicht mit gelben Zähnen, falls man die überhaupt gesehen hätte, denn dieses alternative Paar hätte weniger Grund zur Fröhlichkeit mit anschließender Zahnleistenschau. Oder wenn sie ein abgewetztes Möbelstück unter ihren Ärschen hätten, wenn man kurz gesagt erkennen könnte, dass es sich um Leute handelt, die seit Jahren zu kurz kommen, weil sie nur noch jobben dürfen, keinen Arbeitsplatz finden, von dessen Gehalt sie leben könnten, dann hätte der Slogan gepasst. Wenn Wohnraum für diese Leute erschwinglich wäre, dann wäre es wirklich für jeden erschwinglich. Aber wenn er für hübsche Musterpärchen ist, dann trifft es eben nicht alle, sondern eben nur solche und noch bessere.

Stimmt, es ist nur ein Plakat. Und ein Plakat ist manchmal nur ein Plakat. Aber ich finde, da steckt mehr dahinter. »Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun [...] Um sie – und nur um sie - muss sich Politik kümmern«, sagte Peer Steinbrück vor Jahren schon. Das war Beleg dafür, wie seine Partei von einer Partei für diejenigen, die gesellschaftlich schlechter gestellt sind, zu einer elitäreren Ausrichtung fand. Nun ist das Plakat nicht von den Sozis. Aber die Konservativen hatten dieses Ansicht, die Steinbrück einst so trefflich auf den Punkt brachte, ja immer schon verinnerlicht und sie mit dem neoliberal turn noch verschärft. Das Wahlplakat ist Ausdruck dieses Denkens. Es zeigt uns lediglich, dass das die Agenda jeder politischen Betätigung in diesem Lande geworden ist. Verklärend in dem Begriff »die Mitte« bemäntelt. Sie ist der Adressat jeder Botschaft. Sie ist jeder und alle anderen sind nichts. Kommen gar nicht mehr vor.

Was sehen wir also auf dem Bild? Den Auftrag moderner Politik im neoliberalen Deutschland. Die Akzeptanz, dass es das Prekariat nicht nur nicht mehr schafft, sondern dass sie auch gar nicht mehr vorkommt. Es gehört nicht zu allen, hat keine Jedermänner in seinen Reihen, es findet in Wahlversprechungen gar nicht mehr statt, besteht nur aus einer Fülle an Niemande, für die es sich offenbar nicht mehr lohnt politisch zu streiten. Für schöne Erfolgsmenschen wird noch ein bisschen getan oder wenigstens wird das versprochen - für die ausgemergelten Schichten wird nichts getan und selbst Versprechungen erhält man keine mehr. Dieses Plakat ist das Eingeständnis der völligen Preisgabe einer egalitären Gesellschaft. Und ob es nun von der Union oder den Sozialdemokraten ist, bleibt zweitrangig. Von letzteren hat man solche Entwürfe ja auch schon gesehen.

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Die Moral unserer Zeit

Mittwoch, 2. März 2016

Kants Totenmaske; die
klassische Ethik hat keine
Über viele Jahre hinweg hat sich das, was wir der Einfachheit halber stets als »die Wirtschaft« tituliert haben, ziemlich rüde, rücksichtslos, eigennützig, selbstsüchtig, garstig, barsch und fies gegeben. Die Politik sollte als Kapo und Erfüllungsgehilfe im Parlament maßgeschneiderte Reformen und den Sozialabbau betreuen und so die internationale Wettbewerbsfähigkeit garantieren und sicherstellen. In letzter Zeit vernimmt man jedoch menschelnde und vernünftig klingende Töne aus »der Wirtschaft«. Etwas, das wir Moral aussieht, wie Sitte und Anstand. Doch das darf man jetzt nicht falsch verstehen.

Nun hat der sächsische Teil der Wirtschaft etwas Angst vor den Reaktionen. Der Standort sei nach solchen Aktionen wie in Clausnitz in Gefahr. Deshalb soll Wirtschaftsvertretern zufolge die Politik »wirksam« dieser Entwicklung entgegentreten. Vor Monaten schon stellten die Vertreter der deutschen Wirtschaft fest, dass Flüchtlinge eine große Chance seien. Man könne sich den Menschen, die hier Zuflucht suchten, nicht einfach in den Weg stellen. Und als man Russland sanktionierte und alle deutsche Welt in Kriegsgeheul ausbrach, da waren es Konzerne, die dringlich davon abrieten und zu Friedensstiftern wurden.

Die Debatten um Flüchtlinge und »deutsche Platzhaltertypen«, die Bürgerkriegsverängstigten und Traumatisierten eine herzliche Unwillkommensunkultur bereiten, sind die reinste PR-Kampagne für eine ansonsten eher weniger als human bekannte Gesellschaftszone geworden. Plötzlich klingen Wirtschaftsverbände und Arbeitgebervertreter wie Sonderbotschafter der Vereinten Nationen oder Aktivisten von Amnesty International. Jedenfalls aber wie Agenten der Maßhaltung und der Vernunft. So weit haben wir es tatsächlich gebracht, dass wir »die Wirtschaft« als fast letzte Zuflucht der Besinnung und Klarsicht einordnen müssen. Neben Mob, Vollidioten, Rechtsverrückten sieht man ohne viel Zutun halt schnell mal wie jemand aus, dem der Mensch über alles geht.

Natürlich reden wir hier aber von jener Wirtschaft, die seit Jahren predigt, den Menschen nicht zu kurz kommen zu lassen, wenn es um Einsparungen und um die Ökonomisierung aller Lebensbereiche geht. Der Mensch soll nur als Arbeitskraft, Arbeitnehmer, Angestellter, als Humankapital halt, in den gesamtgesellschaftlichen Prozessen angesehen werden. Rechnet er sich, so ist er Mensch, so soll er bleiben. Falls nicht, dann bitte Entlassung, ohne zu generösen Kündigungsschutz, in verlängerter Probezeit oder gleich befristet und rein ins Unparadies der sozialen Absicherung, rein ins Fallmanagement der Hartz-IV-Behörde. Gegen die Wirtschaft, so sagte Kanzler Schröder, als sein Finanzminister die Reißleine zog - gegen die Wirtschaft, werde er keine Politik machen. Das hat er dann auch nicht und stattdessen das gemacht, was »die Wirtschaft« von ihm wollte. Zu Lasten von Sozialen und Demokratie und Sozialdemokratie.

Machen wir uns bloß nichts vor. Die Wirtschaft war nie ein Tummelplatz so profaner Ideologien wie Nationalismus und Rassismus. Mit allen Richtungen hat sie Geschäfte gemacht, aber nicht, weil die Ideen dahinter so stark wären, sondern weil sie zuweilen eben Profit und Marktvorteile garantierten. Wenn es heute mehr Rendite brächte, Boote im Mittelmeer zu versenken, dann lieferte sie eben Versenker. Moral und Anstand sind nicht die Aufgabe der Wirtschaft. Das wäre eine Bestellung, die man in Vorzeiten an die Politik richtete. Heute macht auch das die Wirtschaft. Aber natürlich nicht uneigennützig. Der Pöbel soll ja die Geflüchteten nicht in Ruhe lassen, damit die zur Ruhe kommen, sondern damit keine Geschäfte in Gefahr geraten. Moral als Selbstzweck, damit der Mensch Zweck bleibt und nicht Mittel? Fehlanzeige! Moralöses gibt es zur Beibehaltung der Auftragslage. Und klar sagt man dann auch, dass man Flüchtlinge brauche - sie erlauben ja vielleicht eine Abschaffung von Mindestlohn und garantieren eine hübsche Reservearmee, mit der man Arbeitnehmer fein unter Druck halten kann. Neue Geschäfte mit alten Methoden ...

Das Dumme ist, dass wir den »moralischen Appellen« des Wirtschaftsbaronats zuhören, sie zitieren und nachbeten, sie so zur Instanz machen. Aber mit klassischer Ethik hat das alles ja nichts mehr zu tun. Nichts mit Kant, nichts mit kategorischem Imperativ. Bestenfalls ist das ein hypothetischer Imperativ, der moralische Handlung nur dann vorschreibt, wenn am Ende was bei rumkommt. Utilitarismus eben, Nutzen- und Vorteilsethik. Aber wenn »die Wirtschaft« moralisiert, dann sind wir ganz Ohr. Das zeigt nur, welche ethische Instanz wir in DAX-Konzernen und Arbeitgeberverbänden haben. Sie bedienen die Moral unserer Zeit. Und an dieser Stelle sollte uns bewusst werden, wie ökonomisch wir unser Wertesystem bereits verfallen haben lassen.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 1. März 2016

»Wir lagen mit dem Rezept falsch, nicht mit der Vision. Und seither habe ich damit gerungen, wie die Vision sinnvoll zu erarbeiten wäre, ohne dass es eben so verläuft. Nie wieder werde ich Abstriche von Meinungs- und Pressefreiheit akzeptieren, von staatsbürgerlichen Freiheiten und Rechten. Irgendwo vom Marxismus zu Lenin, schon dort sind Fehler eingebaut, weil jedes einzelne Land entgleist ist. Nicht alle sind dann so [Anm.: wie Kambodscha unter Pol Pot] weit entgleist, aber entgleist ist trotzdem jedes einzelne und daraus muss man seine Schlüsse ziehen. Ich fühle mich weiterhin links, aber das muss möglich sein, ohne in diesem totalen Abgrund zu landen, in den wir gestürzt sind.«
- Gunnar Bergström in Peter Fröberg Idlings »Pol Pots Lächeln« -

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