Das Armutszeugnis mit dem Armutszeugnis

Donnerstag, 29. Januar 2015

Kann man von Hartz IV leben? Das fragen sich hin und wieder einige Medien und starten Selbstversuche. Sie schicken dann einen Journalisten in Armut auf Zeit und glauben so, sie könnten einordnen, was Armut wirklich bedeutet. Doch temporäre Armutszeugnisse haben keinen Erkenntniswert.

Jetzt berichtet mal wieder das »Handelsblatt« von einem Selbstversuch in Hartz IV und weiß: »Verhungern muss man nicht«. Es nimmt die Leser mit in das Land der Armut, erklärt wie es so läuft und man erfährt quasi am eigenen Leib, wie sich der Habenichts so fühlen muss. Seit Einführung von Hartz IV hat es vieler solcher Selbstversuche von Zeitungen und Magazinen gegeben. Es lief stets so, dass man einen investigativen Kollegen auf Regelsatzniveau schickte, damit der mal wenig zu kauen hat und aus eigener Körpererfahrung heraus berichten kann. Wer mal einen oder zwei Monate so zubrachte, müsse ja schließlich wissen, wovon er da schreibt. Augenzeugenberichte sind immer die, denen man am meisten glaubt. Und wenn dann die Erfahrung auch noch durch den leeren Magen ging, wächst die Glaubwürdigkeit gleich noch etwas an.

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Die Pressevielfalt und die Gleichschaltung

Mittwoch, 28. Januar 2015

Deutschland ist heute froh über seinen Meinungs- und Medienpluralismus. Mensch, wir haben doch Pressefreiheit, hört man oft die Leute durchatmen. Gut, nicht alles läuft richtig, aber eine Lügenpresse haben wir fürwahr nicht zu ertragen. So einfach können wir es uns nicht machen. Wenn es denn überhaupt mal eine Lügenpresse gegeben hat, dann war es die, die die braunen Jahre dieses Landes begleitete. Aber selbst das ist nicht ganz so einfach.

Ich erinnere mich nämlich an Sebastian Haffner, wie er in »Von Bismarck zu Hitler« die Medienlandschaft in den Jahren von 1933 bis 1938 skizzierte. Eine totale Gleichschaltung schloss er aus. Man habe wahrscheinlich die Kriegspropaganda der späteren Jahre vor Augen gehabt und angenommen, dass es vorher in Nazi-Deutschland schon genauso war. Laut Haffner war es aber so nicht. Pressevielfalt gab es da durchaus noch, »wer die Frankfurter Zeitung las, der bekam die Dinge in ganz anderem Ton und Stil dargestellt als jemand, der den Völkischen Beobachter las.« Zeitungsleser hatten nicht etwa nur die Wahl zwischen identischen Zeitungen mit verschiedenen Namen gehabt. Jede Zeitung pflegte ihren Stil. Und wer die antisemitischen Tiraden des »Stürmer« nicht mochte, las eben eine andere Zeitung, die das Antisemitische ziemlich heraushielt.

Eine softe Gleichschaltung hat es natürlich schon gegeben. Goebbels setzte zwar nicht die Agenda, gab aber Richtlinien und die Sprachregelung vor. Nicht jede Kleinigkeit wurde vom Propagandaministerium bis ins Detail geplant. Auch der zeitungseigene Stil sollte unbedingt beibehalten werden. Aber welche Nachrichten unterdrückt oder unauffällig bleiben sollten, darüber wurde ich Zusammenkünften befunden. Eher selten diktierte man den Redaktionen Leitartikel ins Blatt. Man legte wert darauf, dass ein Bild von Vielfalt herrschte. Und man wusste, dass der ehemaligen Wähler der Sozialdemokraten einen anderen Stil bevorzugte, als der SA-Schläger von einst. Nicht alles durfte sich daher so anhören, als habe es Julius Streicher diktiert. So hätte man an Glaubwürdigkeit und Rückhalt verloren. Das Volk musste behutsam bei Laune gehalten werden. Behutsam und milieuspezifisch.

Haffner nannte das eine »fast genial zu nennende Form der Manipulation«. Sie war beileibe nicht total, aber doch so, dass man das Resultat erhielt, das man wollte: Ein Volk, das Meldungen erhielt, die nicht besorgten, während es noch glaubte, es habe die Wahl zwischen verschiedenen Interpretationen des Geschehens: Das war der ganze Trick. Das war auch der Grund, warum die Masse kaum merkte, wie sie eingelullt wurde. Sie wähnte sich ja noch im Pluralismus der Anschauungen.

Insofern ist es schon ein bisschen bequem, wenn man heute so tut, als sei die Gleichschaltung ein Akt gewesen, der mit gnadenloser Eintönigkeit in ganz engen Rastern gehalten wurde. So lief es nicht ab. Aber die Vorstellung ist praktisch, weil dann die heutigen Ansätze von medialer Anpassung und Abstimmung aussehen, als hätten sie mit den damaligen Prozessen nichts gemein. Manches davon ist sich aber gar nicht so unähnlich. Es ist einfach nur Anpassung, sich der Macht unterwerfen und dabei so ein bisschen interpretatives Alleinstellungsmerkmal bewahren. Nichts wiederholt sich. Aber vieles wirkt manchmal ein bisschen ähnlich.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 27. Januar 2015

»Hier schwand zumeist alle Logik, und der § siegte, der § drosselte, der § verblödete, der § prasselte, der § lachte, der § drohte und verzieh nicht. Es waren Jongleure des Gesetzes, Opferpriester der Buchstaben des Gesetzes, Angeklagtenfresser, Tiger des österreichischen Dschungels, die ihren Sprung auf den Angeklagten nach der Nummer des Paragraphen berechneten.«

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Von der afrikanischen Hochebene an den Rhein

Montag, 26. Januar 2015

oder Eine kurze Geschichte der Flucht.

Die Vandalen haben es gemacht. Die Ostgoten auch. Und die Mongolen viel später sowieso. Später rief ein neuer Kontinent »Gebt mir eure Müden, eure Armen, Eure geknechteten Massen!« und sie kamen. Aus England, Frankreich, Österreich und auch aus Deutschland. Die Situation in diesen Ländern war halt schlecht. Aber man braucht doch Arbeit, wenn man nicht verhungern will.

Arbeit und fruchtbare Böden. Das sind eben die Grundbedingungen, um überleben und vielleicht sogar ein klein wenig leben zu können. Die Böden gaben damals noch nicht so viel her in Europa. Die Düngerevolution steckte noch in den Kinderschuhen. Die hungrigen Mäuler wurden jedoch immer mehr. Also taten sie, was sie konnten und nahmen ihre Beine in die Hand und wurden wirtschaftsflüchtig. Letztlich war das nichts anderes. Und letztlich ist die Menschheitsgeschichte eine Aneinanderreihung von Wirtschaftsfluchten. Die einen lesen die Geschichte als Widerstreit von Klassen. Die anderen zogen sich auf Rassen zurück. Man könnte aber auch sagen, dass sie aus Wirtschaftsfluchten besteht. Und darauf sollte man im Hinblick auf das, was in vielen deutschen Straßen und Köpfen derzeit los ist, mal dezidiert hinweisen.

Die Vorfahren der Deutschen haben sich an Rhein, Donau und Elbe angesiedelt, weil sie dort besser leben konnten als dort, woher sie kamen. Das ist normal. Menschlich. Manche zogen weiter, weil es für sie nicht reichte. Zu allen Zeiten. Zuletzt hauten wieder viele Deutsche ins Ausland ab. Das reichte sogar für eine Sendung im Privatfernsehen. Dort nannte man die Leute, die von der wirtschaftlich schlechten Situation flüchteten, aber einfach nur »Auswanderer«. Das hört sich neutraler an. Ist ja auch ein bisschen was anderes.

Das ist doch nicht vergleichbar, wird mancher nun sagen. Die Deutschen, die heute ins Ausland gehen, kommen ja nur selten als Bittsteller. Sie flüchten ja nicht, sie gehen weg. Aber macht das so einen großen Unterschied? Ist das Prinzip nicht dasselbe? Man übernahm die Wirtschaft in Benidorm doch nur, weil sie in Castrop-Rauxel nicht lief. Ist das etwa keine Wirtschaftsflucht?

Wir sind alle Enkel und Kinder von Wirtschaftsflüchtlingen. Das ist unser Erbe. Der Antrieb, Gegenden zu verlassen, die das Auskommen nicht gewährleisten, ist keine kriminelle Handlung, so wie das diverse konservative Politiker oder die Abendlandser auf deutschen Straßen meinen. Es ist menschliche Normalität. Ein Urprinzip, wenn man so will. Aus der afrikanischen Hochebene eroberten wir Menschen die Welt. Zogen weiter und weiter. Wo die Erde mehr hergab, dort blieben wir. Bis die Natur ausgebeutet war. Bis die Menschen sich um Ressourcen bekriegten. Dann hieß es flüchten. Irgendwo würde man wieder glücklich werden. Das ist der Lauf der Welt. Wird Zeit, dass man das begreift.

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Frechheit, die die Seiten gewechselt hat

Donnerstag, 22. Januar 2015

Was darf Satire? Alles! Das stimmt und stimmt nicht. Denn Satire hat auch mit dem Mut zu tun, dem mächtigen König die Leviten zu lesen und nicht den wehrlosen Bauern. Wenn Satire überhaupt etwas bedeutet, dann das: Denen »da oben« und dem Massengeschmack eines auszuwischen.

Jetzt stellen sie sich mal wieder die Frage, was Satire so alles darf und soll. Bedenkenträger sehen Grenzen. Andere glauben, es gibt keine. Das langweilt schon langsam. Alle Jahre wieder ein solcher Diskurs. Seit Tucholsky. Mich würde indes interessieren, ob jedes Gekrakel als Satire durchgehen soll. Und ist es eigentlich Satire, wenn man in einem Klima allgemeiner Islamfeindlichkeit die Symbolik des Islam verspottet? Denn immerhin ist das Wort »Satire« die Schöpfung eines Kynikers. Menippos von Gadara nannte so seine kynischen Spottverse. Der Kyniker war grundsätzlich einer, der gegen »die da oben« war, gegen die Mächtigen, den Mainstream und den Zeitgeist. Das Gegenteil davon ist der Zyniker. Besser gesagt nicht das Gegenteil, sondern seine evolutionäre Fortentwicklung.

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Das Themenregal macht den Unterschied

Mittwoch, 21. Januar 2015

Was ist denn nun eigentlich mit Houellebecq? Das fragte mich letzte Woche eine Leserin. Sie wusste wohl, dass ich den Mann früher gerne gelesen habe. Vielleicht noch tue. Aber »Karte und Gebiet« hat mich zuletzt nicht so richtig überzeugt. Aber Tatsache ist wirklich, dass ich mich mit seinem Werk ganz gut auskenne. Was ist also mit ihm? Sollte man ihn jetzt nicht schelten und als anständiger Mensch (und Linker) seinen neuesten Roman obendrauf moralisch ächten? Ich finde allerdings nicht, dass man das sollte.

Schlecht sieht er aus, der Houellebecq. Richtig schlecht. Ich habe mich erschrocken, als ich ihn neulich erblickte. Seine Bücher verkaufen sich gut, er sollte also kein schlechtes Leben führen. Aber er sieht genau danach aus. Als reichte seine Stütze nicht. Aber gut, das ist eine andere Sache. Zum Thema: Der Mann war immer latent islamfeindlich. Feindlich wohlgemerkt. Er war eben kein Islamkritiker, denn die Moslems, die in seinen Büchern in Nebensätzen vorkamen, waren stets entmenscht, ohne Gesicht und natürlich gewalttätig. Ich ignorierte es. Jeder Roman braucht Bösewichte. Eine dumpfe Gefahr, die unerklärlich scheint. So funktionieren Geschichten. Die Wirklichkeit geht aber anders. Sie kann sich Eindimensionalität nicht leisten. Der Romancier schon.

Und da sind wir schon beim wesentlichen Kern, wieso ich Houellebecq nicht ächten möchte. Der Mann ist Schriftsteller. Kein Chronist im eigentlichen Sinne. Er erzählt Geschichten und manchmal auch Märchen. Er überspitzt, weil das zu seinem Metier gehört. Und es ist ja nicht nur so, dass er nur den Islam in seiner Gesichtslosigkeit überspitzt. Er tut es auch bei seinen Hauptfiguren, immerhin Leute aus der westlichen Leistungsgesellschaft. Das sind meist total fertige Charaktere. Sind Verlierer ohne Illusionen. Säufer und sexuell Verklemmte. Sie sind steril in ihrem Auftreten und ihre Gedankenwelt ist düster und von allen Idealen befreit. Perspektiven haben sie nur noch beruflich. Sonst gibt es nichts mehr, worauf sie hinarbeiten können. Man stellt sie sich mit traurigen Augen vor. Insofern sind Houellebecqs Bücher mehr Kritik an der westlichen Welt, als an allem anderen. Auch sein neues Buch ist eine solche Kritik.

Er sagte im Zuge seiner aktuellen Veröffentlichung, dass er früher den Koran nie gelesen habe, ihn aber Scheiße gefunden habe. Mittlerweile sehe er das aber anders. Er war damals also nicht kritisch im eigentlichen Sinne, sondern hat Muslime in seinen Büchern nur mit Vorurteilen unterfüttert. Mich hat das zwar immer leicht gestört. Aber ich habe es ihm verziehen. Weshalb? Weil ich an die künstlerische Freiheit glaube. Ein Autor sollte seinen Protagonisten Dinge sagen oder machen lassen können, die nicht korrekt sind. Man muss sie ihm ja nicht gleich persönlich in die Schuhe schieben. Das ist der große Unterschied zwischen Leuten, die eugenische Abhandlungen auf den Sachbuchmarkt werfen und solchen, die Romane schreiben. Der eine erzählt eine Geschichte - der Sachbuchautor, der mir gerade im Kopf rumschwebt, hat aber nur Märchen erzählt. Und das im falschen Themenregal - und genau dieses Themenregal macht den Unterschied. Hätte der andere einen eugenischen Roman geschrieben, wäre mir das egal gewesen. Vielleicht hätte ich ihn sogar gelesen.

Dass Houellebecq ein Kritiker des modernen Westens ist, dürfte auch in seinem neuesten Buch erkennbar sein. Die Moslems, die in Frankreich an die politische Macht kommen, handeln nicht einfach nur aus Boshaftigkeit und Machtwahn parlamentarisch, sondern weil das französische Bürgertum mehr und mehr versagt und sich den Le Pens an den Hals wirft. Diesen Aspekt sollte man jetzt nicht vergessen, wenn man den Mann zum neuen Islamhasser stilisiert. Er sieht den islamischen Gottesstaat in Frankreich nicht als Produkt islamischer Weltgeltungssucht, sondern als Reaktion auf das, was in der westlichen Welt an Islamophobie heranwächst. Seine Geschichte ist die von lauter Verrückten, die sich gegenseitig hochschaukeln.

Überhaupt war der Mann in allen seinen Büchern der Ansicht, dass die westliche Leistungsgesellschaft einen eklatanten Mangel an Ordnung aufweist. Er kokettierte stets mit seiner Trauer darüber, dass es eine gottgegebene Ordnung nicht mehr gibt. Der moderne Liberalismus ist für ihn ein offener Vollzug, in dem lediglich das denkbar Schlechteste nach oben schwappt. Alles ist durcheinander und Chaos, keine Kirche sagt mehr, wo es langgeht. In »Ausweitung der Kampfzone« kommt er mehrmals darauf zu sprechen. Spätere Bücher sprechen eine ganz ähnliche Sprache. Deswegen taugt der Mann aus meiner Sicht noch weniger als Zündler. Er muss ja geradezu eine klammheimliche Freude an jedem Fanatiker verspüren, der eine Ordnung wiederherstellt, die er als verloren beklagt.

Ich finde die Idee seines neuen Buches ehrlich gesagt nicht besonders originell. Da war der gute Mann schon mal weiter. Aber ich habe keine Lust, den Kerl zu verurteilen. Er liefert Geschichten. Was er damit ausdrücken will, ist eine ganz andere Sache. Und ein eindeutiger Islamfeind ist er sicher nicht. Dazu hat er zu viele Facetten. Man kann ihn gar nicht so zwischendrin mal schnell einordnen, wie das jetzt die Presse macht.

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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 20. Januar 2015

»Woher genügend Finger nehmen, um auf alle Sauereien zu zeigen - oder zumindest im Vorübergehen an jedem Saustall anzuklopfen?«

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Die Wahl, keine Wahl zu haben

Montag, 19. Januar 2015

Demokratie? Aber selbstverständlich. In Europa gibt es sie noch. Die Griechen können wählen wen sie wollen. Sie sind doch ein freies Volk. Aber wenn sie diesen einen da wählen, diesen jungen linkischen Kerl, der nie Schlips trägt, dann ziehen wir natürlich einen Schlussstrich. Mit dem verhandeln wir erst gar nicht. Wir sind immerhin auch ein freies Volk, nicht wahr?

Diktatur ist das nicht. Keine Bange. Wir haben irgendwas zwischen ihr und der Demokratie erwischt. So einen Zwitter. Was für uns hier die »marktkonforme Demokratie« sein soll, ist für Griechenland die »merkelkonforme Demokratie«. Ein Staatswesen, in dem die freie Willensbekundung immer mit Blick auf Berlin und Brüssel absolviert werden soll. Denn wenn Demokratie Freiheit bedeutet, dann bedeutet sie im aktuellen Europa, sich als Volk und Wähler nur die Freiheit zu nehmen, die man zuerkannt bekommt. Aber man ist faktisch trotzdem frei, keine Gesinnungspolizei inhaftiert einen oder erklärt Wahlen für ungültig. Aber wenn sie Resultate zeitigen, die auf höhere Ebene nicht gefallen, klinkt man sich aus und wird pampig, wirft die Griechen aus dem Verband oder droht mit dem Währungsentzug.

Ich hörte ja schon oft, dass die Europäische Union eine besondere Form der Diktatur sei. Dieses Urteil ist zu hart. Klassisch diktatorisch ist sie mitnichten. Führererlässe gibt es nicht. Manchmal ist diese internationale Vereinigung sogar liberaler als es die jeweiligen nationalen Regierungen sind. Oft kommt das nicht vor, aber hin und wieder geschehen Zeichen und Wunder. Was die EU in den letzten Jahren geschaffen hat, ist eine ganz neue Staatsform, die nicht Dikatur, aber eben auch nicht grundsätzlich demokratisch ist. Sie liegt irgendwo dazwischen. Ist eine Herrschaftsform, die mit dem schlechten Gewissen arbeitet, die verängstigt und klar macht, dass demokratische Willensbildung etwas ist, was man sich verdienen muss. Im pekuniärsten Sinne des Wortes. Einen Namen gibt es für dieses Phänomen allerdings noch nicht.

Merkel drohte einem Volk, noch bevor es zur Wahlurne geht. Sie tat es mit ihrem üblichen Understatement-Größenwahn. Spielte sich als konstituierende Vollversammlung auf, die sich nach demokratischen Wahlen gemeinhin formiert, um dem Wahlergebnis Rechnung zu tragen. Sie gab sich Deutungshoheit eines Wahlresultats, das ihr nicht in den Kram passt. Diese standhafte Demokratin, als die sie sich verkauft, hat das Wesen dieses Herrschaftsprinzips immer noch nicht begriffen. Wir brauchen uns nicht wundern, dass antidemokratische Kreise Aufwind haben. Denn unsere Demokraten, die wir so haben, haben selbst ein Problem mit einer Demokratie, die sich wehrt, die sich nicht genau die Metzger an den Messergriff votiert, die man gerne dort sähe.

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Fehler, die einer macht, wenn er zu viel schreibt

Freitag, 16. Januar 2015

Es gibt so viele Themen, denen ich mich heute widmen könnte. Die Welt ist voller Probleme. Ich könnte einfach zugreifen und schreiben. Alleine es geht nicht. Denn wenn die eigene kleine Welt voller Probleme steckt, dann kümmert einen Weltbewegendes nicht mehr. Ich bin da nicht anders wie andere. Die Weltsorgen sind nichts, wenn man selbst welche hat. Sie rücken weit in den Hintergrund. Seid also nicht enttäuscht, wenn ich heute nichts Substanzielles liefern kann.

Ich habe mich in den letzten Monaten zu viel in Themen verloren, die in meinem Privatleben nicht die erste Geige spielen sollten. Aus Überzeugung. Weil ich schreibe. Und weil ich schreiben kann. So arrogant bin ich einfach mal. Aber darüber habe ich einige Menschen vergessen. Einen besonders. Den wichtigsten. Jede Woche mussten es fünf oder sechs Texte sein. Dazu Lohnarbeit, die immer mehr wurde. Sonderschichten. Und das Manuskript für ein neues Buch. Das war viel Arbeit, viele Stunden am Rechner. Viel Vernachlässigung. Und dann gab es so viele Phasen, in denen ich nichts sprach, mich abschottete, weil mich eine kleine Blockade quälte. Schließlich musste ich mein Pensum erfüllen. Das setzte mich dermaßen unter Druck, dass es mich mürrisch und gereizt machte. Vielleicht kennt der eine oder andere Schreiber das ja. Weiß von den Mechanismen, die sich einschleichen können. Man muss auch als jemand, der täglich publiziert, einen Mittelweg finden. Auch wenn der Arbeitsplatz zuhause ist, muss man trennen zwischen Privatheit und Freiberuf. Sonst geht es schief.

Aber es gab durchaus genug Texte. Trotz Blockaden. Und mit jedem Text, der die Widerlichkeit unserer modernen Welt thematisierte, wurde ich miesepetriger. Gegenüber vielen. Und gegenüber ihr. Ich tappte in die Falle. Merkte es nicht. Erkaltete. Ging im Schreiben so sehr auf, dass sie das Nachsehen hatte. Schlimmer noch, ich sprach mit ihr wie ein Schriftsteller und Analyst. Als der war ich aber nicht in ihr Leben gekommen. Sie weiß, wer ich bin. Was ich kann. Meine Ansichten mag sie. Sie glaubt an mich. Aber abends will sie den Mann, nicht den Autor.

Jetzt werden einige von euch fragen, was das hier soll. Langweil' uns doch nicht mit deinem Privatkram, werden sie sagen. Vielleicht liegen sie richtig. Schweigen ist Gold und so. Aber ich sage mal so: Ihr alle das draußen, die ihr an der Welt krankt, vergesst nicht die, die die gute Seite eures Daseins in der Welt ausmachen. Vergesst die Menschen an eurer Seite nicht. Bleibt Mensch. Lasst die Weltkritik mal stecken. Ihr müsst die kapitalistische Wirklichkeit ja nicht lieben. Aber hadert nicht noch im Bett mit ihr. Lacht. Zieht euch mit ihr von dem Ärger, den euch das Leben macht, auf das Sofa zurück. Quatscht miteinander. Lasst die Welt Welt sein. Haut mit ihr ab aus dem Trott. Ich habe das über Monate hinweg aus den Augen verloren.

Wenn also in Zukunft mal weniger Text an dieser Stelle erscheint, dann ist das eben so. Wochenenden sollen Wochenenden bleiben. Zuletzt waren Samstagstexte ja Standard. Das muss nicht mehr sein. Das bin ich mir schuldig. Und nicht nur mir. Vielleicht wird es manche Woche nur vier Texte geben. Na und? Keiner geht daran kaputt. Quälen ob fehlender Einfälle werde ich mich nicht mehr. Ich verdiene dann zwar einige Kröten weniger. Doch das ist es mir wert. Alles hat seinen Preis. Aber sie ist unbezahlbar. Wenn du das liest: Mehr sage ich dir später. Unter vier Augen. Die Leute müssen ja nicht alles mitbekommen.

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Wer mit Moral rechnet, braucht mit Moral nicht zu rechnen

Donnerstag, 15. Januar 2015

Der ifo-Chef stellt Kosten-Nutzen-Rechnungen über Migranten an und »Spiegel Online« widerlegt ihn mit einem Faktencheck. Das lässt tief blicken. Denn beide Seiten mathematisieren über die Daseinsberechtigung von Menschen. Der Zeitgeist ist ein Utilitarist.

Da haben sie es dem Professor aber ordentlich gegeben. Mit den eigenen Waffen, haben sie ihn niedergestreckt. Der hatte gesagt, dass Migranten mehr kosten, als sie bringen. Anders gesagt: Zuwanderer rechneten sich überhaupt nicht. Das ist natürlich bester Schmierstoff auf den Mühlen der ganzen Abendlandser, die jetzt patriotisch ihre Heimat säubern wollen. Ein Argument für ihren Straßenkampf gewissermaßen. Aber »Spiegel Online« nahm es auf und entkräftete es. Nahm die Zahlen und die Methode unter die Lupe und kam zu dem Urteil, dass sich dessen Rechenmodell nicht aufrechterhalten lässt. Das liest sich nach einer guten Nachricht. Und nach Aufklärung. Jedenfalls dachte ich mir das kurz, als ich den Artikel las. Irgendwas gefiel mir aber nicht. Ich wusste nur noch nicht, was es war.

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Zu Ohren gekommen

Mittwoch, 14. Januar 2015

Letzte Woche berichtete wieder irgendeine Radioanstalt von der »islamkritischen Bewegung«. Gemeint war diese Veranstaltung, die unter dieser lächerlichen Abkürzung durch Dresdens Straßen stiefelt. Islamkritisch? Es war schon immer ärgerlich, als man die verbitterten alten Männer und ihre Bücher dem Label der Islamkritik unterstellte. Ich werde an dieser Stelle keine Namen nennen. Man weiß wohl eh, wer hier gemeint ist. Ist jemand Islamkritiker, wenn er den islamischen Kulturkreis, dessen historische Interpunktionen, grundsätzlich Moslems und alles, was so damit zu tun hat, als dumm, gewaltbereit und rückständig bezeichnet, ohne die Gesamtheit und Komplexität dieser Religion berücksichtigt zu haben?

Das Wort »Kritik« ist dem Griechischen entlehnt. Es bedeutet in seiner Urform so viel wie »unterscheiden« oder »trennen«. Diese beiden Verben meinen in diesem Falle aber mehr als ein bloßes Zerteilen. Sie lassen erahnen, dass jemand, der dem ursprünglichen Wortsinn nach Kritik übt, einen gewissen Gegenstand gründlich aus seiner Umwelt heraus löst, ihn von der Gesamtheit trennt, um ihn beleuchten zu können. Kritik ist also ein umfassender Prozess. Ein Beleuchten von allen Seiten. Für und Wider. Etwas, was man mit Akkuratesse macht, um den Gegenstand gerecht zu werden. Im alltäglichen Gebrauch haftet dem Wort »Kritik« mittlerweile etwas Negatives an. Allumfassende Beleuchtung nennt man heute eher »Check«. Die »Kritik« wird aber nach wie vor in der Philosophie benutzt und meint dort die »Fähigkeit der Beurteilung«. Wer aber etwas beurteilt, der muss vollumfänglich betrachten. Gutes von Schlechtem scheiden. Einzelne Komponenten des zu betrachtenden Gegenstandes voneinander abheben. Wer das nicht tut, kann gar nicht zu einer Beurteilung gelangen.

Islamkritisch also. Eine Wahrnehmung, die den Islam in seiner ganzen Komplexität aufgreift, pflegen die patriotischen Bürger des Abendlandes ganz sicher nicht. So wie die alten Herren in ihren neuen Büchern ja auch nicht in Gänze bei der Sache waren. Sie pickten sich nur das heraus, was das vorherige Bauchgefühl, mit dem sie vor dem Schreiben schwanger gingen, nochmals bestätigte. Vorurteile, die sie aufgrund begrenzter Wahrnehmung schon pflegten, vertieften sie, indem sie nicht den Islam nochmals begutachteten, sondern die Vorurteile, die sie über den Islam hatten. Sie waren also nie Islamkritiker sondern Vorurteile-gegenüber-dem-Islam-Kritiker.

Islamkritik bedeutet sicher auch, die negativen Erscheinungen, die es in jeder Religion gibt, zu erwähnen. Aber eben auch Vorzüge und Ideale. Man muss begreifen, wie der Islam wurde, was er ist. Woher kommt er? Und dann ist da noch ein Problem: Islam ist nicht Islam. Vielehe? In Nigeria haben auch Christen mehrere Frauen. Türkische Moslems nicht. So islamspezifisch scheint dieser Aspekt also nicht zu sein. Die Sharia macht Leute zu Steinewerfern und erteilt Zins- und Spekulationsverbote für Geldhäuser. Frauen haben in vielen islamischen Ländern keine Lobby. Die Sharia regelt aber immerhin das Erbrecht im Sinne der Frauen. Gutes, Schlechtes, Durchwachsenes. Mit einigen Worten kann man diesem Gegenstand doch gar nicht gerecht werden. Sich einige Aspekte aus der Masse zu stochern, hat nichts mit Kritik zu tun. Man kann natürlich einen jeweiligen Aspekt der Kritik unterziehen. Aber dann ist es keine Islamkritik mehr, sondern zum Beispiel eine Kritik an der Verschleierung.

Literaturkritik bedeutet ja auch nicht, dass man seine persönliche Abneigung gegenüber einem Autoren walten lässt, wenn man sein Buch vor sich liegen hat. Man muss das Werk für sich sehen. Dazu die Rahmenbedingungen. Ich weiß, viele machen Literaturkritik aber genau so. Sie üben Rache und nicht Kritik. Und so ist es bei den Demonstranten zu Dresden. Sie kritisieren nicht im eigentlichen Sinne - sie üben sich in der Verkürzung des gesamten Phänomens. So hielten es ebenfalls diese Sachbuchautoren. Wer nicht ergebnisoffen an die Sache herangeht, ist kein Kritiker. Er ist Trommler, Propagandist und Ideologe. Jemand eben, der mit einem kurzsichtigen Auge erklären will, was Dreidimensionalität ist.

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Licht aus! Spot an! oder Wie Sarrazin den Weg ebnete

Dienstag, 13. Januar 2015

Es ist so einfach gegen Pegida zu sein. Jetzt, wo sich ein breiter Konsens dagegen formiert und man merkt, dass eine solche Bewegung unschön ist, da ist es ein Kinderspiel. Gleichwohl ist es sicherlich gut, dass man dagegen ist. Aber so zu tun, als sei Pegida der Anfang einer Entwicklung, die man sofort ausbremsen muss, ist reichlich verlogen. Pegida ist das momentane Ende eines Prozesses, der schon seit Jahren in Gang ist.

Pegida ist für eine Reihe einflussreicher und prominenter Personen eine moralische Politur. Sie positionieren sich deutlich und nehmen Abstand. In einer Titelstory der »Bildzeitung« sprachen sich viele Prominente gegen diese Bewegung und ihre Wünsche und Forderungen aus. Das ist zwar erfreulich, aber gleichzeitig Ausdruck schlimmster Heuchelei. Nicht nur, dass diese Zeitung Ressentiments gegen bestimmte Gruppen von Migranten geschürt hat - wo war denn der Aufschrei, als man mit Pseudo-Intellekt zündelte? Jetzt knipsen sie diesen Hassbürgern das Licht auch. Gut so. Für Sarrazin machte man damals auch das Licht aus, nur um dann den Spot anzumachen. Dort saß er dann im Lichtkegel als Popstar, als jemand, der eine Meinung hatte, der mutig war, eine unbequeme Wahrheit zu formulieren. Und jetzt, da sich ein durch den Sarrazinismus (ein Utilitarismus mit klassistischen und rassistischen Elementen) gestählter Mob formiert, sind sie plötzlich alle besorgt. Kommt das nicht zu spät?

Die Krönung der Aktion der »Bildzeitung« ist übrigens Bayerns Innenminister Herrmann, der die Pegadisten verurteilt, aber nur eine Woche nach der Präsentation von »Deutschland schafft sich ab« damit anfing, seine Partei gegen die »massenhafte Zuwanderung« in Stellung zu bringen. Wahrscheinlich war das nur Zufall. Wie immer. Oder Bosbach, der Sarrazin in so vielen Positionen beigesprungen war und nun Pegida häßlich findet. Andere in der Riege haben damals gar nichts gesagt. Oder erst, nachdem man fand, dass Sarrazins Positionen dem Standort Deutschland grundsätzlich nicht gut bekommen. Gut, die »Bildzeitung« hat sie seinerzeit auch nicht gefragt.

Noch vor vier Jahren hielt die Kanzlerin die Multikulti-Gesellschaft für »absolut gescheitert«. Jetzt der Schwenk. Pegida scheint so eine Art Fukushima für sie zu sein. Ein Ereignis also, das mal wieder eine ihrer berühmten Umschwenkaktionen begünstigt. Merkel sagte das damals, obgleich Sarrazin schon polarisierte und Schärfe in die Integrationsdebatte brachte. Damals warnte sie nicht vor dem Mann, der wie kein anderer Hass in die Herzen pflanzte. Er holte Parolen vom rechten Rand in die Salons, in die politische Mitte und erhielt Applaus auch von denen, die jetzt vermutlich bei Pegida pilgern. Voigt, Apfel, Pastörs waren ohnehin begeistert. Wo war damals eigentlich der Lucke? Trotzdem sprach die Kanzlerin in diesen Sarrazin-Monaten vom Scheitern in dieser Frage und deeskalierte nicht. Manche werden sagen, dass das verständlich sei, der Mann habe doch bloß ein Buch geschrieben. Aber das ist vielleicht noch schlimmer wie das, was in Dresen derzeit im Dunkeln munkelt - eben weil stärker rationalisiert. Damit fängt es an. Am Anfang war noch immer ein Wort. Mit steilen Thesen begründete Breivik sein Manifest. Abgeschrieben unter anderem bei Broder und seiner islamfeindlichen Haltung.

Das ganze jetzige Verurteilen ist nur eine moralische Egoshow mit der man flanieren geht. Den Anfängen hätte man schon wehren müssen. Aber da war wenig los. Die Sozialdemokraten konnten sich ja nicht mal durchringen, ihren Agitator aus der Partei zu kegeln. Schließlich dürfe der Mann ja eine Meinung haben. Man nickte lieber beschwichtigend und bot ihm ein Forum. Das war die deutsche Leitkultur damals. Mit ein bisschen Moralin kriegt man die Folge dieser Affäre nun nicht wieder hin. Man kann eine Suppe nicht salzen und salzen und salzen und nachher die Tischgäste darum bitten, sie mögen am Salz vorbeischlürfen.

Die Berliner NPD wirbt mit
Sarrazin-Zitat.
Man liest jetzt oft: Fremdenfeindlichkeit und Rassismus seien immer auch ein Produkt der ökonomischen Verhältnisse. Ja. Schon. Aber eben nicht ausschließlich. Das ist zu materialistisch konstruiert. Sarrazin war doch kein Hartz-IV-Bezieher, oder etwa doch? Ob Broder am Existenzminimum lebt? Ich glaube, die Leute folgen jetzt nur sehr bedingt einem Kleine-Leute-Regionalismus. Sie haben sich die elitäre Fremdenfeindlichkeit angeeignet, wie sie aus den Zeitungen quoll. Die arrogante Attitüde feiner Pinkel halt. Wer nichts hat, worauf er stolz sein kann, schrieb Schopenhauer mal, der könne immer noch auf die Nation, in der er lebt, einen Grund für Stolz finden. Aber die Debatten der letzten Jahre zeigten, dass es gerade in der gehobenen Mittelschicht und unter Akademikern Ressentiments gegen Ausländer vor allem aus Nicht-EU-Ländern gibt. Jetzt so zu tun, als sei das alles nur so eine oberflächliche Sache, die man mit mehr ökonomischer Partizipation wieder kitten könnte, halte ich für viel zu optimistisch. Das ist nur eine Facette des Phänomens. Aber die Sache liegt sicher tiefer. Scheint verwurzelt. Betrifft die Metaebene des neuen Deutschlands.

Und was tun? Seien wir realistisch: Derzeit ist dem wenig entgegenzusetzen. Sicher, man kann jetzt natürlich sein Gesicht in eine Zeitung drucken lassen und über den Mob schimpfen. Aber für moralische Belehrungen ist es zu spät. Verantwortliche Leute wie die Kanzlerin hätten die Deeskalation in dieser Frage vorleben müssen. Und das zu einer Zeit, da die Weichen gestellt wurden. Schon nach den Anschlägen auf das World Trade Center, als man aller Welt erklären wollte, dass in jedem Moslem der religionsbedingte Keim der Gewalt stecke, hätte man entgegenwirken müssen. Man deeskaliert nämlich, bevor es eskaliert. Das hat man jedoch nicht beherzigt. Jetzt sieht es natürlich gut aus, wenn man sich via Pegida moralisch aufwerten kann. Die Gesamtsituation sieht aber nicht gut aus. Ob nun mit Verständnis für die Demonstranten oder moralischer Ächtung: Die Sache ist angerollt und so weit hätte es nie kommen müssen. Wenn es aber mal rollt, dann wird es schwierig. Dann führt jeder noch so gut gemeinte Ansatz zur Verschärfung. Tja, wir leben im Merkelismus und da ist die Alternativlosigkeit Staatsdoktrin. Sogar in solchen Angelegenheiten.

Die allgemeine Hohlheit der Öffentlichkeit fand Merkels Ansprache aber natürlich erstaunlich direkt und kämpferisch. Mensch, die Kanzlerin! Doch gegen diese Horden zu sein ist einfach. Wer mag schon verzerrte Gesichter, Großväter mit Spazierstock und Pärchen, denen die Misanthropie an den Nasenspitzen abzulesen ist? Der Stammtisch wirkt immer leicht angeheitert und peinlich. Man kann ihn gut verabscheuen und findet immer Leute, die den Abscheu teilen. Den Typen im feinen Zwirn als das zu enttarnen, was er damals war, wäre um so viel anstrengender gewesen. Viele von denen, die jetzt gegen diese Bewegung sind, haben das damals nicht erkannt.

Wie gesagt, Pegida ist kein Anfang - es ist das augenblickliche Ende. Und man muss befürchten, dass das nicht das letzte Wort war. Die Radikalisierung greift um sich. Überall. Paris. Europa. Auch in diesem Lande. Die Luft wird dünner. Abwarten, ob die Kanzlerin das heraufziehende innere Elend nicht mit außenpolitischer Glorie bezwingen will. Was immer das dann auch heißen mag.

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Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt

Montag, 12. Januar 2015

So viele Erwerbstätige wie noch nie. Man muss jetzt einfach glauben. Die Reformen haben doch gewirkt. Der Arbeitsmarkt brummt. Wer will da noch Ungläubiger sein? Bei so vielen Erwerbstätigen wie nie. Jede Zeitung schreibt es. Alle Radioanstalten verbreiten die Kunde. Man muss jetzt glauben, auch wenn man nicht will. Alles im Butter. Diese Wirtschaft läuft rund. Gerade jetzt ist es notwendig das zu glauben. Der Glaube ist ein Halt. In haltlosen Zeiten allemal.

Neulich schon dieser Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen. Ein Mantra war das. Das Vorbeten von Leuten, die Angst haben, dass ihnen ihre Gemeinde vom Glauben abfällt. Also beten und insistieren sie umso lauter. Inbrünstiger. Kreischen Glaubensinhalte, von denen man früher noch im Flüsterton die Massen überzeugte. Sie wiederholen es immer wieder. Kippeln dabei mit dem Oberkörper hin und her wie ein Rabbi oder ein trunkener Sufi. Glauben, Brüder und Schwestern! Glaubt es doch. Glaubt uns doch. Werdet nicht ketzerisch. Glaube versetzt Berge. Versetzt uns alle in die Ekstase, die wir jetzt so nötig haben. Wenn Wahrheiten bröckeln, das Ideengebäude erodiert, dann hilft nur eines: Glauben. Glauben. Immer feste glauben. »Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.« Das ist aus dem Johannesevangelium. Der hat den Satz damals aus einem Aufsatz des Wirtschaftsministers gestohlen.

Diese Hohepriester der Lehre zeigen uns jetzt, wie es geht. Wenn alles gegen die Logik der Glaubensinhalte spricht, wenn die Weltlichkeit einem sagt, dass die Dogmas der völlige falsche Ansatz waren, dann helfen nur Credos. Wissen ist eine Gefahr, die man nur mit profunden Glauben bekämpfen kann. Und so gehen sie an den Fakten vorbei. Melden etwas von so vielen Erwerbstätigen wie nie zuvor und bestätigen somit nur das, was sie glauben wollen. Die gängige Ökonomie schafft Wohlstand für alle, satten Wohlstand auf allen Ebenen. Dass dieses Dogma Kratzer hat, umschiffen sie einfach. Sie verschwenden keinen Gedanken daran, dass bei den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen die Teilzeitarbeit beträchtlich angewachsen ist; oder das Arbeitsplatz generell auch heißen kann, nur einen dieser Minijobs zu haben. Ja, selbst Menschen in Altersteilzeit werden in detaillierteren Statistiken als sozialversicherungspflichtige Beschäftigte geführt.

Alles egal. Wahre Gläubige befassen sich nicht mit Gegenständen, die den wahren Glauben untergraben. Sticht ihnen etwas ins Auge, das an die Glaubenssubstanz geht, muss man seinen Glauben eben nur vertiefen. Dann stimmt es wieder. »Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht.« Soweit der Hebräerbrief.

Früher gab es Durchhalteparolen, wenn es wirtschaftlich schlecht lief. Sie sagten einem, dass man den Gürtel enger schnallen solle. Es würde schon wieder besser werden. Geduld bitte. Wir durchlaufen eine kleine Abschwungsphase. So klingen Nachrichten in weltlichen Ökonomien. Das kann sich ein sakrales Wirtschaftssystem nicht leisten. Es gründet ja gewissermaßen auf Gottesgnadentum. Ist genau deswegen alternativlos - denn deus lo vult. Es repetiert also Mantras. Ohne Unterlass. Der Gläubige glaubt ja in jedem Kult nur, weil er die Message in Dauerschleife im Ohr hat. Weil er sie sich durch Wiederholung ins Gehirn hämmert. Dazu der Duft von Weihrauch. Da kann man schon mal abdrehen.

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Die Islamisten, die den Jungfern schmähten

Samstag, 10. Januar 2015

Ich habe da schon ein paar Fragen. Kleinlich will ich ja nicht sein. Aber warum zum Teufel wollten diese Islamisten, die die Landstriche um Paris unsicher machten, nicht endlich zu ihren Jungfrauen? Ist das Paradies überfüllt? Hatten sie statt »Paris« »Paradies« gelesen und meinten daher, sie seien schon hinüber?

Jetzt mal ernsthaft. Seit Jahrzehnten erzählt man dem westlichen Medienbetrachter wie so ein Islamist tickt. Beispiele gab es genug. In Palästina. World Trade Center. Selbstmordattentäter im Irak. Das Prinzip schien so einfach. Diese Kerle sind bis aufs Blut fanatisiert, wusste man uns zu berichten. Nicht nur bis auf das Blut ihrer Opfer, sondern auch bis auf ihr eigenes. Da sie bereit seien, für ihre Sache ihr Leben hinzugeben, müsste man sie als unberechenbar einstufen. Drüben im Märchenland warteten angeblich ja auch die Jungfern auf sie. Man muss schließlich Anreize schaffen. So ein Terrorist kommt auch nicht aus den Puschen, wenn man ihm nichts verspricht.

Alles schien so geordnet. Der islamistische Terrorist war ein Mörder und Selbstmörder und man wusste, wie die Welt funktioniert. Strukturen sind wichtig. Schwarz und weiß sind praktisch.

Und nun diese atypischen Islamisten, die man uns da in die Wohnzimmer newst. Erst schreien sie »Allahu akbar«, schießen auf Menschen und machen sich dann trotzdem aus dem Staub. Dämlich sind sie auch noch, lassen einen Personalausweis liegen und liefern sich mit der Polizei eine Verfolgungsjagd wie im Kino. Inklusive Geiseln. Der ganze Ablauf ist natürlich von Toten gepflastert. Aber das Motiv dahinter sagte uns etwas in großer Deutlichkeit: Die Kerle wollten leben. Sie waren durchaus nicht bereit für den Tod. Noch gab es was, was sie hielt. Sie wollten lieben und ficken und im Irdischen wühlen. Und das als Islamisten!

Das lässt mich zweifeln, ohne dass ich nun irgendwelche Verschwörungen wittern möchte. Aber da stimmt doch was nicht. Entweder sind das keine Islamisten. Und dann müsste ich fragen, wem der ganze Straßenkrieg von Nutzen ist. Und ich müsste an Überwachung denken, die sie uns jetzt wieder schmackhaft machen und an Le Pen. Oder aber es ist letztlich so, dass der islamistische Terrorist, wie er in westlichen Köpfen stattfindet, nur so ein Konstrukt ist, um uns harte Praktiken wie den finalen Rettungsschuss und Rasterfahndung bekömmlicher zu machen. Jedenfalls ist ein Gegner, der selbst um sein Leben fürchtet, weitaus weniger furchterregend als einer, dem alles scheißegal ist. Das ist irgendwie die gute Seite an der ganzen Schlechtigkeit.

So oder so. Richtig glaubensfest waren die Brüder scheinbar nicht. Nun sind sie doch tot. Jungfrauen gibt es keine. Sie wollten ja nicht zu ihnen. Pech. Für sie. Und für uns. Lebend hätte man vielleicht erfahren, wer sie wirklich waren. Jetzt sagen es uns die Rekonstrukteure. Da kommt nie etwas Gescheites dabei raus.

Was für eine Welt! Nicht mal das Stereotyp vom Fanatiker trifft mehr zu. Hey, ihr idiotischen Abendlandser, noch ein Wörtchen an euch. Ihr seid ja empört, weil die hiesigen Moslems nicht den Anstand zeigen, ein Zeichen gegen diesen Terror zu setzen. Ich habe keinen von euch gesehen, der sich für die IRA entschuldigt hätte. Aber hört mal ganz genau zu: Auch euer konstruiertes Stereotyp von der fünften Kolonne der Moslems im Abendland gilt nicht mehr: Einer der erschossenen Polizisten war Moslem. Ahmed hieß er. Hat sich der Mann genug distanziert? Überraschung, ihr Experten - »die Moslems« gibt es eben gar nicht. Die Welt ist eben nicht nur schwarz und weiß.

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So, aus Schröderschem Geist, wuchs, von Merkel geschweißt ...

Freitag, 9. Januar 2015

Ein Auszug aus der Brockhaus Enzyklopädie, 27. Auflage 2078-2079.

Creative Commons Lizenzvertrag
Als Schröderianismus-Merkelismus (SM) werden die von Otto Graf Lambsdorff, Gerhard Schröder und Angela Merkel begründeten Lehren mit ihren weltanschaulichen, philosophischen, ökonomischen, sozialwissenschaftlichen und politischen Inhalten bezeichnet. Sein ursprünglicher Begründer Lambsdorff ging von libertarianischen Fragen (Hayek, Friedman, Kontroverse um Rawls' Gerechtigkeitstheorie) aus. Er bemühte sich um die Einbettung dieser Fragen in einen sozioökonomischen Rahmen (freier Markt, Wettbewerb etc.) und setzte auf einen weltanschaulichen Ansatz (sog. »Lambsdorff-Papier«, in dem mit Hinweis auf Thatcher und Reagan von einer Alternativlosigkeit im Bezug auf die zu ergreifenden Maßnahmen, die Rede ist).

Der Schröderismus-Merkelismus wurde von seinen Kritikern als Weltanschauung der gesellschaftlichen Mittelschicht (kurz auch als »die Mitte« bezeichnet) bezeichnet, die sich selbst als alternativlos, ideologielos und klassenlos kategorisierte. Der SM war für die Volks- und Massenparteien stillschweigend verbindlich. In der Bundesrepublik war er wegen der führenden Rolle der Merkel-CDU in Staat und Gesellschaft die allein gültige Staatsideologie. Die Bezeichnung »Schröderismus-Merkelismus« war als Name in den Jahren seiner Existenz jedoch nicht gebräuchlich. Er ist ein Begriff der Geschichtsschreibung. Man sprach damals von »freier Marktwirtschaft«, »marktkonformer Demokratie« oder vom »Westen«. Einige Kritiker nannten die Weltanschauung auch »Neoliberalismus«, was aber ein globales Phänomen mit einschloss. Der Begriff entsprach nicht dem offiziellen Sprachgebrauch. Und der SM gebar auch spezifische Eigenarten, die die neoliberalen Lehren in anderen Ländern so nicht kannten.

Ein wesentliches Merkmal des Schröderismus-Merkelismus, das ihn laut Bekenntnis seiner Begründer von allen anderen philosophischen Lehren in der menschlichen Historie unterschied, war die praktische Umsetzbarkeit, das heißt seine unmittelbare Anwendbarkeit auf die ökonomischen Prozesse. Lambsdorff, Schröder und Merkel schufen zwar keine umfassende Erklärung der Welt, wie es anderen philosophischen Lehren gelang. Doch mit gelungenem Marketing und PR konnte dieser Makel vertuscht werden. Der SM war ferner als direkte Handlungsanleitung gedacht; das primäre Ziel aus Sicht seiner Gründer war die Befreiung der Menschen und Völker. Die konkreten theoretischen Grundlagen für die Durchführung dieser Vision und die Rahmenbedingungen für den anschließenden Aufbau des ungezügelten Kapitalismus stammten von linientreuen Kadern, die in Instituten und Initiativen lehrten und die Öffentlichkeit anleiteten. Sie bildeten Fortentwicklungen oder Präzisierungen des SM an und erklärten, dass nur die Ökonomisierung aller Lebensbereiche zu mehr Freiheit im Sinne des primären Ziels führe. Als probate Einzelschritte zur Verwirklichung galten Privatisierung, Deregulierung und ein minimaler Staat. Seine Kritiker kreideten dem SM das Anwachsen von Armut, Ungleichheit und die Aushöhlung demokratischer Prozesse an.

Der Schröderismus-Merkelismus war im Selbstverständnis und in seinen Auswirkungen also bei weitem nicht nur Philosophie, sondern ein universelles Konzept des Weltverständnisses samt abgeleiteter Gesetzmäßigkeiten für die (Sozial-)Wissenschaften bis hin zu konkreten Regeln für das menschliche Verhalten. Oberstes Leitmotiv blieb dabei immer die profitable Umsetzung aller Bereiche, die das menschliche (Zusammen-)Leben betrafen. Der Kanzlerkult war ein spezifisches Merkmal des SM. Besonders unter Merkel bildete er sich markant heraus. Der so genannte Bundeskanzler, ein Amt das noch aus Zeiten des Rheinischen Kapitalismus (Sozialstaatsmodell) stammte, stieg zu einer fast sakralen Figur auf, die moralische Instanz und Wächter zugleich war. Wegen der umfassenden Aussagekraft und Wirkung ist der Begriff Weltanschauung rückwirkend betrachtet durchaus angebracht

Der Schröderismus-Merkelismus der Bundesrepublik trug oftmals unverkennbar religiöse Züge. Einerseits hat das daran gelegen, dass sich frühe und späte Anhänger der Lehre auf die Kernaussage, auf die Zielstellung eines profitableren Lebens bezogen, ohne sich eingehend mit den philosophischen und theoretischen Hintergründen zu befassen. Eine solche Einstellung galt als erwünscht. Die Variante eines gewissermaßen aus dem Bauch heraus praktizierten Schröderismus-Merkelismus war unerbeten, barg er doch stets die Gefahr linker Ketzerei oder sozialen Mitgefühls. Andererseits war die philosophische Grundlage des SM nur wenig tragfähig. Selbst wenn man den Definitionen von Gesellschaft und Gemeinwohl folgte und die Hauptfrage nach deren Verwirklichung als zentrales Kriterium akzeptierte, reduzierte sich bei genauerem Hinsehen das Gedankengebäude doch auf eine Glaubensfrage ohne fundierten Sachgehalt.

Da es an zwingenden philosophischen - und überhaupt wissenschaftlichen - Beweisen für die Behauptung des Leistungsdrucks als existentem Mehrer des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit fehlte (und bis heute fehlt), musste man an die Lehrmeinung glauben - oder seine Zweifel für sich behalten. So gelang es dem Schröderismus-Merkelismus sich zu internationalisieren und auf Europa abzufärben. Teils geschah das mit zartem Druck über Institionen, teils mit harten Repressionen und starken Eingriffen in nationale Belange europäischer Nachbarländer. Nach dem Krieg und der Abkehr von dieser Ideologie, griff die Schröderistisch-Merkelistische Partei Deutschlands (SMPD) die Lehren neu auf. Die Splitterpartei fordert Privatisierungen, Freihandel und Deregulierung und leugnet vehement das Scheitern und die Verfehlungen des historischen SM.

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Mensch, empört Euch doch endlich!

Donnerstag, 8. Januar 2015

Die Folterdetails waren starker Tobak. Die Reaktionen darauf auch. Oder sagen wir lieber so: Dass es eigentlich so gut wie keine Reaktion gab, war vielleicht der schlimmste Aspekt in dieser Angelegenheit. Wir sind so abgebrüht geworden, uns empört nichts mehr. Das ist auch Folter.

Aber jetzt! Jetzt muss doch mal ein Ruck durch die Bevölkerung gehen, dachte ich mir. Wenn ich ab und an mal mein pessimistisches Naturell vergesse, kommt es zuweilen schon vor, dass ich in unreflektierten Optimismus verfalle. Und dann male ich mir aus, dass bestimmte Hiobsbotschaften, die man uns überbringt, endlich mal zur kollektiven Aufwache führen. Als der CIA-Folterbericht das Licht der Welt erblickte, glaubte ich mal wieder, nun sei es so weit. Man hatte zwar vorher schon gewusst, dass im Namen der Menschenrechte gefoltert wurde - aber jetzt hatte es ja immerhin der Auslandsgeheimdienst selbst offenbart. Das musste doch Wirkung zeigen.

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Der Wirtschaftsflüchtling und die, die ihm den Regen stahlen

Mittwoch, 7. Januar 2015

Wirtschaftsflüchtlinge. Man mag sie hierzulande nicht. Christliche Parteien haben was gegen Wirtschaftsflucht. Wenn einer abhaut, weil er in seinem Land von Häschern verfolgt wird, dann ist man zwar nicht entzückt, doch man wahrt noch die Contenance. Aber Wirtschaftsflüchtlinge? Entfliehen, weil man die Wirtschaft nicht in Schwung kriegt? Ein besser Leben sucht? Faules Pack - oder etwa nicht?

Quelle: IPCC
Ein bequemes Urteil für Leute, die im vom Klima begünstigten Europa leben. Wenn Albert Hammond ziept, dass es in Southern California nie regnet, dann kriegen wir gute Laune. In Wahrheit ist Trockenheit allerdings eine Katastrophe. Viele der Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken oder auf Lampedusa und vor den Zäunen Ceutas und Melillas warten, stammen aus den Zonen an den Rändern der Sahara. Vor allem aus Westafrika. Einer Weltregion, die nie durch besonders ausgiebigen Regenfall ausgezeichnet war. Die Niederschlagsrate sinkt seit Jahren (siehe Karte). Die allgemeine Klimaerwärmung trocknet die Subregion aus. It never rains in Western Africa. Und die Folge sind verdorrte Ernten und Hungersnöte. Ohne Wasser lassen sich keine Felder bestellen; ohne Nahrung keine noch so rudimentären Wirtschaftsstrukturen halten.

West- und Ostafrikaner sind, sobald sie die Flucht nach Norden antreten, per definitionem Wirtschaftsflüchtlinge. Wenige aus diesen Regionen werden durchaus auch von Schergen verfolgt. Doch viele gehen, weil sie in ihrer Heimat keine Perspektiven mehr sehen. Wo nichts wächst, da ist sesshaftes Leben nicht mehr denkbar. Das kann man niemanden zum Vorwurf machen. Schon gar nicht, wenn man gleichzeitig weiß, dass Europa und die USA knapp 60 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verursachen. Der gesamte afrikanische Kontinent schafft es hier gerade mal auf nicht mal drei Prozent. Gibt es da keine globale Verantwortung für die Menschen, die aufbrechen müssen, weil der westliche Lebenswandel ihnen den Regen raubt?

Die Legende will es, dass man glaubt, der Exodus der Afrikaner sei mit dem Wohlstand Europas als Prozess aufgetaucht. In dem Sinne also, dass die Afrikaner plötzlich sahen, was es in Europa alles gibt und sich auf den Weg machten. Das kann man so nicht stehen lassen. Es ist schon seltsam, dass die europäischen Institutionen bis heute nicht fragen, woher die Korrelation der Massenflucht mit der Zunahme klimatischer Veränderungen kommt. 1990 thematisierte ein Fernsehfilm dieses Phänomen bereits. Er hieß »Der Marsch«. Hat sich Europa seither Gedanken darüber gemacht? Das Vorhaben die Treibhausgase zu reduzieren in allen Ehren: Kurzfristig hilft das den Opfern der globalen Erwärmung aber nicht. Vertrösten wir sie solange? Sagen wir ihnen, dass es bald schon besser werden könnte? In 20 oder 30 Jahren vielleicht. Wenn wir die Pläne umsetzen. Wenn!

Quelle: dpa
Trotz Argumenten: Mit Verständnis begegnet man dem Phänomen der sogenannten Wirtschaftsflucht nicht. Die Reaktionen fallen gegenteilig aus. Man sagt provokant, dass der Wirtschaftsflüchtling einer sei, der seine Heimat nur verlässt, weil er ein besseres Leben für sich haben will. Nur? Als sei das ein Kinkerlitzchen. Als sei die Flucht über den afrikanischen Kontinent, organisiert von Schlepperbanden, die sich den Exodus fürstlich bezahlen lassen, eine Entscheidung, die man ohne Wimpernzucken trifft. Den Schleppern ist man in Europa dankbar. Und dann noch dieses »für sich«. Als gehe es dem Flüchtling um Gier oder um reine Glückssucht. So entsteht Ablehnung und der Eindruck, dass es Flüchtlinge zweierlei Sorte gibt. Die berechtigten Flüchtlinge, die dem Krieg entfliehen oder aufgrund von spezifischen Merkmalen verfolgt werden - und die Glücksritter, die das Asylrecht quasi missbrauchen und sich nur bedienen möchten am Wohlstand.

Man braucht immer die eine Hälfte der Elenden, um die andere Hälfte der Elenden in Schach zu halten. Hier sieht man das wieder mal besonders schön. Die eine Gruppe bekommt eine Aufwertung, weil die andere Gruppe kurzerhand eine Abwertung erfährt. Und es ist ein Kinderspiel, denn die Vorurteile gegen den Schwarzen sitzen ja tief. Und sie berühren zudem dessen Verhältnis zum Wirtschaften. Das habe er nämlich nicht, weiß man als weißer Europäer. Schwarze hocken nur im Schatten und entwickeln kein Engagement. Sie sind faul und suchen deshalb das gemachte europäische Nest. Jemand in meiner Verwandtschaft erklärte mir schon vor vielen Jahren, dass die Armut Afrikas ein Produkt allgemeiner Unfähigkeit sei. Sich regen bringt Segen, sagte er den damals noch dummen Jungen, der ich war. Aber wo bleibt der Segen, wenn es keinen Regen gibt? Überhaupt sind das Ansichten von Herrenmenschen, die geographische Privilegien genießen.

Der Wirtschaftsflüchtling ist kein wollüstiger Krimineller, der den Aufbau wirtschaftlicher Strukturen scheut, um sich in ein Wirtschaftssystem einzuschleichen, das andernorts schon erbaut ist. Er ist insofern kein Nesträuber, sondern hat ein durchaus berechtigtes Anliegen. Seine Heimat gibt nicht mehr genug her für alle. Man muss ihn als Opfer globaler Entwicklungen sehen. Während wir den Klimawandel mit immer wärmeren jährlichen Durchschnittstemperaturen wahrnehmen und sich die Mehrzahl der Menschen hierzulande darüber freut, auch im November noch kurze Hosen tragen zu können, zeitigt der klimatische Kollisionskurs in anderen Weltgegenden schon drastische Folgen. Nichts geschieht auf diesem Erdenrund im luftleeren Raum. Was geschieht geht uns alle an. Die Folgen für Westafrika sind auch unsere Folgen. Und wenn wir auch noch zu einem guten Teil aktiv dafür verantwortlich sind, dann sowieso. Auch dieser Text verursacht einige Gramm an CO2-Ausstoß.

Wer Wirtschaftsflüchtlinge kriminalisiert, der macht nicht nur Opfer zu Tätern, sondern auch die Verursacher der globalen Erwärmung zu Opfern. Dieser Diskurs ist daher nicht nur einfach unmoralisch und populistisch. Er ist tatsachenblind und faktenvergessen. Es ist das selbstgerechte Urteil von Menschen, die sich die Erde untertan gemacht haben, aber ihren Teil der Welt, Europa und Deutschland nämlich, abschotten möchten.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 6. Januar 2015

»Es ist verwunderlich genug, dass nicht längst das Beieinander von Religion, Wollust und Grausamkeit den Menschen auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz aufmerksam gemacht hat.«
- Novalis -

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Der Schrott, der unsere Zukunft ist

Montag, 5. Januar 2015

oder Die obsolete Ökonomie.

Und nun sollte es um die »geplante Obsoleszenz« gehen. Die Radioansagerin war ganz stolz, weil sie dieses schwere Wort so schön ausgesprochen hatte und weil sie sogar wusste, was es bedeutet. Es lebe »Wikipedia«! Gemeint sei nämlich der »geplante Verschleiß«, sagte sie. Dem wolle jetzt der »Deutsche Naturschutzring« ein Ende bereiten und er bat daher die Bundesregierung zu handeln.

Dazu schaltete hr1 einen Typen vom Naturschutzring zu, der los werden durfte, was sein Verein der Bundesregierung rate. Ein Gesetz sollte her, dass es verbiete, die Lebensdauer zu begrenzen. Das sei ja auch vernünftig, sagte die Moderatorin. Wegen Umweltschutz und so. Und unfair gegenüber dem Kunden sei es ja auch. Der Naturschutzringler machte immer »Mhm, Mhm«, bei allem, was die Frau so erzählte. Das war fast wie ein störendes Rauschen im Hintergrund. Als habe hr1 eben die geplante Obsoleszenz erreicht und krächzte sich jetzt auf den Schrottplatz. »Aber warum handelt die Politik denn dann eigentlich nicht?«, fragte sie den Experten. »Ja, warum handelt sie nicht?«, wiederholte er brav und sagte dann, dass sich die Politik eben mit der Wirtschaft nicht anlegen wolle.

Logisch irgendwie. Aber exakt diese Antwort halte ich für viel zu kurz gedacht. Klar, die Bundesregierungen der letzten Jahre sind nicht gerade bekannt dafür geworden, sich mit der Wirtschaft zanken zu wollen. Aber der Begrenzung der Lebensdauer von (Elektro-)Geräten will man nicht ans Leder, weil das die Quelle der Wertschöpfung ist. Wenn nichts mehr kaputt geht, wenn plötzlich nachhaltige Produkte entstehen, die ewig halten, dann versündigt man sich am heiligen Wachstum, am Motor der kapitalistischen Wertschöpfungskette. Man kann ja heute keine Volkswirtschaft mehr erobern und folglich mit Geräten fluten. Die Weltkarte des Kapitalismus hat keine weißen Flecken mehr. Aber man kann die Volkswirtschaft, die man zufällig gerade hat, im Rahmen des Ablaufs gesetzlicher Garantiefristen mit Produkten fluten, die man sich neu zulegen muss, weil die alten Teile den Geist aufgegeben haben.

Eine Gesetzesinitiative, die die Dauer der Unverwüstlichkeit verdoppelt und die über die Erhöhung der gesetzlichen Gewährleistungsfristen erwirkt wird, wäre aus vielen vernünftigen Aspekten sinnvoll und wäre durchaus ein Fortschritt - aber die Forderung geht an die Substanz des gesamten Systems. Denn sie legt Unternehmen nahe, das eigene Aufblähen, Anwachsen, Expandieren, Maximieren, »immer höher, immer weiter« als systemischen, als immanenten Leitgedanken der Wirtschaftstretmühle abzulegen. Das wäre ja der Anfang vom Ende einer Wirtschaft, die als einzigen Zweck nur die Profitmaximierung, die beständige Bedürfniserzeugung und die Sicherstellung von Folgeaufträge kennt. Wenn Waren für den Massenabsatz nicht mehr fragil sind, dann kommt der ganze Mechanismus ins Ungleichgewicht und die Ordnung gerät aus den Fugen. Naturschutzring, du alter Sozialist!

Als mit Jahresanfang 2002 die Gewährleistungsfristen verlängert wurde, hat sich die Wirtschaft im Vorfeld nicht etwa aufgeregt, weil sie keine Produkte herstellen könnte, die längerfristig haltbar wären. Man hat ihr einen Markt genommen. Hat den Geldhahn zugedreht. Das perfekte Elektroteil ist doch eines, das kurz nach der Garantiefrist den Geist aufgibt. Und das war der Wirtschaft vor 2002 nach einem Jahr natürlich lieber als jetzt, wo man ganze zwei Jahre warten muss. Eine weitere Erhöhung auf vier Jahre, das würde die Wirtschaft nicht überstehen. Nein, sie ginge nicht pleite. Sie würde sich nur derart ärgern, dass sie einen Herzinfarkt erleiden würde. Mit Kurzlebigkeit verdient die Schrottökonomie ihr Geld. Nicht mit Langfristigkeit. Kurzfristigkeit ist systemkonform. Nachhaltigkeit ist kein systemimmanenter Wert. Ist nur ein Fremdkörper. Kurzfristig verdient man sein Geld. Langfristig sind wir alle tot.

Deshalb hat die Politik kein Interesse an einer nachhaltigen Ausrichtung des Konsums. Da geht es ans Eingemachte. An den Stoff, der dieses System ausmacht. Der Schrottplatz ist in dieser Ökonomie kein Ort, der Sorgen bereitet, weil sich dort die Berge immer höher türmen, sondern der Ort der Hoffnung, die Kirche des »Weiter so!«, in der Lieder auf den Wohlstand gesungen werden. Gebirge von Elektroschrott bringen das System zum Singen. Am Schrott wachsen wir. Nicht als Menschen. Nicht als Gesellschaft. Als Konsumenten. Als Einnahmequelle für Konzerne. Der Schrottplatz - das ist die Zukunft. Das System ist Schrott, macht Schrott, verschrottet Demokratie, Teilhabe und jeden guten Ansatz.

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Am Zeitgeist vorbei

Samstag, 3. Januar 2015

oder Gedanken, die ins achte Jahr geleiten.

Sieben Jahre ist es jetzt her. Sieben Jahre. Und nie war es so trostlos. Die Mitstreiter reduzieren sich. Die Linke scheint verzagt und hat vermutlich versagt. Die Rechten geben den Ton an und der wirtschaftliche Kurs wurde gehalten. Tut mir leid, ich wäre gerne optimistischer. Aber Optimismus muss man sich leisten können. Ich kann es nicht. Insofern ist der diesjährige Geburtstagstext meiner kleinen Seite kein Grund zur Freude. Zu viel hat sich in dieser schlechten Welt ins Nochschlechtere verändert.


Ich habe lange überlegt, was ich für heute schreiben soll. Für ein Hipphipphurra fehlt mir die Laune. Die Neonazis stehen vor der Türe und ich soll in Feierlaune verfallen? Minister werben für Verständnis gegenüber Leuten, die ganz freimütig rassistische Parolen schwingen und ich soll ernsthaft in Jubel verfallen? Ich bin ehrlich: Ich weiß nicht so genau, welche Worte ich an diesem Geburtstag an euch richten soll. Etwas über meine Wirkungsgeschichte? Dass ich nicht lache. Nie war es mir bewusster als heute, dass ich keine Wirkung habe. Klar, lieber Leser, dich persönlich meine ich nicht. Auf dich scheine ich gewirkt zu haben. Seit Jahren hältst du mir die Treue. Manche von euch seitdem es das hier gibt.

Ich könnte ja auch einfach mit Leserzahlen aufschneiden, wie ich das an manchem Geburtsstag schon tat. Und dann? Wer hätte was davon? Kleine Jungs machen das manchmal. Sie schlagen sich ins Gebüsch und vergleichen ihre Pullermänner. Ein netter Zeitvertreib für die Knilche. Aber mehr Substanz hat diese Pimmelei kaum.

Nein, wisst ihr was: Ich bestelle den Kuchen ab, werfe die Kerzen in die Ecke und gebe keine Party. Dieses Jahr nicht. Vielleicht ist das einfach nur die Midlife-Crisis dieses Weblogs. Wer weiß. Irgendwann fragt man sich ja, was man geleistet hat in seinem Leben. Ob man nicht etwas verpasst hat. Das ist jedenfalls die klassische Definition der Midlife-Crisis. Und ja, das könnte dieses Jahr auch auf  »ad sinistram« zutreffen. Denn was hat es geschafft und geleistet? Hat es abgefärbt? Habe ich es verpasst, die richtigen Worte zu treffen? Offenbar. Ich und alle anderen, die in dieselbe Kerbe schlugen. Die Kollegenschaft eben.

Pegida, Atlantizismus, Kriegsgefahr und Neoliberalismus, immer wieder Neoliberalismus mit seinen Freihandelszonen und seinem Privatisierungselan. Genau das wollten wir ja nicht! Sollte endlich aufhören! Scheiße! Stattdessen tummelt sich der Rassismus wieder auf den Straßen, die Kanzlerin narkotisiert weiter und schafft mit ihrer Politik Grundlagen für Fremdenfeindlichkeit, Verrohung und Menschenverachtung. Die Sozialdemokratie hat sich als Alternative endgültig aufgegeben und tut trotzdem so, als habe Pegida mit ihr gar nichts zu tun. Die AfD hingegen hat als einzige Partei bei den Mitglieder zugelegt im letzten Jahr. Und wir schreiben und schreiben, warnen und warnen, sorgen uns und sorgen uns. Was hat man letztlich davon? Beleidigungen. Warnungen. Morddrohungen. Willkommen in Deutschland, in dem einer wie ich frisch von der Leber weg ein Weblog betreiben darf und sich die Schlinge trotzdem zuzieht.

Es bringt alles nichts. Aber ich kennen meinen Camus. Das Absurde, Leute. Und es ist das Absurde, das uns alle antreibt. Mich und euch als Leser. Klar mache ich weiter. Sinnlos wahrscheinlich. Denn den Zeitgeist forme ich nicht. Aber egal, weiter gehts, stemme mich gegen den Felsen und wälze ihn den Berg hinauf. Ich weiß, irgendwann halte ich ihn nicht mehr und er rast zurück ins Tal. Na, dann eben nochmal. Nicht, dass ich glaube, dass ich irgendwann am Gipfel ankomme. So vermessen darf man nicht sein. Aber der Weg hinauf gibt Struktur. Ordnung. Das ist auch nicht übel. Auf gehts also ins nächste Jahr. Vielleicht überleben wir es sogar. Hätte ich jetzt doch einen Kuchen bestellt, würde ich die sieben Kerzen ausblasen und mir genau das wünschen.

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