Weitere Eindrücke aus soetwas wie Heimat
Freitag, 13. Juli 2012
Ich lebte in einer Struktur, die absolutistisch katholisch sozialisiert war. Nicht praktizierend katholisch, betend, gottesdienstlich versiert - nein, nur sozialisiert. Und auch nur in dieser Sozialisation war jener Katholizismus absolutistisch - seine irdische oder auch himmlische Macht hatte er schon lange verloren. Der Katholizismus, konfessioneller Hegemon in Bayern, wirkt bis heute in alle Lebensbereiche hinein. Nicht mal besonders penetrant - doch er hat über Jahrhunderte die Denk-, Fühl- und Umgangsweise der Menschen miteinander beeinflusst und geformt. Ich kam aus einer Struktur, die den Islam in dieses Geflecht einbaute, weil er kein wesentlicher Fremdkörper war, sondern gewiss ganz gut ins "katholische Konzept" passte. Nicht alles davon - aber vieles. Was Politiker aus der CSU an aufgestauten Aggressionen gegen den Islam ablassen, deckt sich mit der Lebenswirklichkeit im katholisch Sozialisierten eher selten. Jedenfalls passt das Islamische besser in katholisch sozialisierte Strukturen als in protestantisch beschulte. Das merke ich jetzt, da ich in einer eher protestantisch formierten Gegend lebe, besonders stark.
Es soll hier keine Verherrlichung stattfinden. Weder das Katholische noch das Islamische ist ausgesprochen paradiesisch; nichts von beiden in Reinkultur empfinde ich für besonders attraktiv. Man muß schon viel Phantasie aus seiner Kindheit übrig behalten haben, um die jeweiligen aufgeheiligten Schriften für bare Münze nehmen zu können. Jedoch hat beides Strukturen hervorgebracht, die so tödlich wie lebensbejahend waren, so kriegerisch wie pazifistisch, so fürsorglich wie gefühlskalt. "Die Christenheit, die Christenheit. Sie hat gute Krankenschwestern hervorgebracht und ebenso tüchtige Mörder", schrieb Dürrenmatt in Der Verdacht - er hat vergessen hinzuzufügen, dass das für das Islamische gleichfalls gilt, jedoch für das Protestantische, das ja auch Christenheit ist, teilweise nicht so stark. Der hatte statt Nächstenliebe calvinistische Prädestination zu bieten - man merkt das teilweise bis heute; aus dieser Tradition entspringt manche protestantisch dressierte Region. Stammlande des neoliberalen Lebensentwurfes, nannte ich das unlängst - die Lehre von der Auserwähltheit als Heilsagenda für alle, als Massenartikel: das ist die neoliberale Folgeerscheinung Calvins und seiner Parteigänger.
In gewissem Sinne wohnt auch jenen Moslems, die nicht nach Allahs Geboten leben, die aber doch islamisch sozialisiert sind, die Umma inne. Dieser gemeinschaftliche Gedanke, der Rücksichtnahme und Fürsorge begründet, der familiäre und freundschaftliche Bande stärkt und die Hilfe an Schwachen für ein göttliches Gebot hält, findet sich bruchstückhaft durchaus in katholisch beschulten Gegenden auch. Manchmal mit religiösen Tand nebenher, manchmal auch ohne. Im Protestantischen scheint dieser Halt durch die Prädestinationslehre gänzlich verhunzt - und natürlich, bevor Einwand kommt: auch im Katholischen hat die programmatische Egomanie unserer Zeit schon lange Anhänger gefunden.
Gleichwohl gehen einer Gegend, die doch seit Jahrhunderten protestantisch ist, Attribute ab, die man vielleicht andernorts noch kennt. Es fehlt eine gewisse Demut, was als Freiheit eines Christenmenschen definiert wird und die schließt manchen Egoismus und manche Ich-Bezogenheit mit ein - das ist nicht grundsätzlich schlecht, denn sich selbst leiden zu können, sich selbst Gutes zu wünschen, ist Grundlage dafür, auch andere zu schätzen, ihnen Gutes zu wollen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, rührt als biblisches Bonmot aus dieser Einsicht. Nur ist dieses Hier stehe ich, ich kann nicht anders! in extremo dann das Gegenteil dessen. Der Katholik kniet sich hin vor seinen Gott - der Protestant tut das nicht, er ist mit seinem Gott auf Augenhöhe; er persifliert somit ungewollt Meister Eckhart und dessen Aufzäunung von hinten, dass nämlich Gott nichts wäre ohne ihn - was feuerbachianisch und atheologisch betrachtet auch richtig ist. Nicht falsch verstehen, ich verlange keinen Kotau vor einen Gott, den es vermutlich gar nicht gibt. Nur habe ich da manchmal den Eindruck, dass diese mangelnde Ehrfurcht das Protestantische dazu verleitet, sich selbst als die Göttlichkeit auf Erden zu betrachten. Es ist nämlich durchaus ein Unterschied, wie der Katholizismus mit der modernen Welt umgeht und wie es die Evangelischen Kirche in Deutschland tut. Lehnt das Katholische drastische Eingriffe in die Schöpfung ab, weil sie den Menschen in eine Rolle des Lebensschöpfers und -nehmers bugsieren - man denke hier an irgendwelche Genphantasmagorien, die es erlauben würden, zwischen lebenswerten und lebensunwerten Leben zu scheiden, bevor dieses Leben überhaupt begonnen hat -, so tut das Protestantische pikierter, launischer, sagt Einerseits, sagt Andererseits. Mit Bauchschmerzen ist man dann nicht dafür, aber auch nicht dagegen. Denn man solle auch Bedenken, der Herr habe dem Menschen diese Gabe ermöglicht, vielleicht hat er sich dabei was gedacht - aber bitte, liebe Schäfchen, tut das mit Maßhaltung, mit Respekt und übertreibt es nicht. Aber dafür sind wir trotzdem nicht! Eine Theologie der Eigenverantwortung, die keine moralischen Grenzwerte anerkennt. Ähnlich verhält es sich mit den sozialen Fragen unserer Zeit. Auch da kein eindeutiges Bekenntnis, sondern ein Sichannähern an neoliberale Positionen - die sicherlich auch im Katholizismus Einzug finden, dort aber gelinder, mit Widerspenstigkeit in petto. Dieses "sich mit Bauchschmerzen winden" erklären auch die Grünen stets; die sind moralisch nie dafür, realpolitisch sagen sie dann aber trotzdem Ja und zeigen auf ihren schmerzenden Bauch, der ihrer Zustimmung geschuldet ist. Mag sein, dass das auch an der parteilichen Zusammensetzung liegt, daran, dass mehr Mitglieder aus protestantischem denn aus katholischem Hause stammen.
Natürlich ist das protestantisch Sozialisierte kein Joachim Gauck, der sich gerade als Synonym für das Unkritische bewirkt - und es ist nicht Wolfgang Huber, der wie ein Gerhard Schröder der EKD fungierte - und auch kein Peter Hahne, der seine von Großmama inspirierte Das-gehört-sich-nicht!-Theologie bei Springer verbeitet. Aber es hat dennoch etwas von dieser Art von "Theologie" übernommen - vor einem Gott geht man gottesdienstlich nicht auf ein Kniebrett; vor der weltlichen Macht allerdings schon. Ich merke das dieser Tage ganz häufig. Als ich zuletzt schrieb, dass ich in den Stammlanden des Neoliberalismus gelandet bin, da ließ ich mitklingen, dass es durchaus auch am protestantischen Fundament liegt, dass es sich hier so entwickelt hat, wie es sich entwickelt hat. Ich will aber auch gar nicht so tun, als sei ein protestantisch sozialisiertes Umfeld etwas gar Schreckliches - auch das hat Vorzüge; in so einer Gesellschaft gilt das individuelle Leben mehr, man funkt niemanden hinein, alles ist distanzierter. Manchmal braucht man das ja! Es gibt keine Umma, vor der man Rechenschaft ablegen müsste, Nächster ist man sich nur selbst - sonntags legt sich die Gemeinde lediglich Rechenschaft über die Kollekte ab, und dann ist auch schon gut, mehr muß nicht sein. Distanz ist manchmal praktisch, aber für einen gesunden Zusammenhalt selten förderlich. Es ist schon wahr, dass das Anderssein in Bayern, katholischer Flecken das es ist, nicht immer einfach ist - der Rahmen ist abgesteckt und darin sollte man sich bewegen, will man als Mensch glaubhaft bleiben. Das ist der Nachteil der Geschichte. Denn es entsteht dieses Mia-san-mia-Gefühl, dieses Herabschauen auf andere. Das wiederum gibt es hier in Hessen weniger, wenngleich man natürlich auch nicht zu anders sein soll - wie anders man sein darf, sah man ja, als Ypsilanti mit einer Gruppe "ganz besonders Anderer" koalieren wollte. Dieser Stoizismus birgt natürlich auch Nachteile, denn er ist es auch, der soviele Entwicklungen hinnimmt, nicht dagegen ankämpft. Thomas Mann schrieb über Luther, er sei die "riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens" gewesen, dessen "antipolitische Devotheit [...] für die Jahrhunderte die unterwürfige Haltung der Deutschen vor den Fürsten und aller staatlichen Obrigkeit geprägt" habe. Man muß es halt hinnehmen, ist die schüchterne Redewendung.
Dass der Bundespräsident seinen Amtsvorgänger revidierte, dass er den Islam für nicht zu Deutschland und dem Abendland zugehörig empfahl, ist natürlich kein Wunder. Als protestantischer Theologe wohnt ihm die natürliche Distanz zu einer Gruppe, die weniger distanziert zwischen ihren Mitgliedern wirkt, inne. Für ihn ist der Islam so fremd, weil ihm Gruppenkohäsion fremd ist. Er ist der Präsident des deutschen Neoliberalismus, weil er aus einer Tradition kommt, die ihm diese Rolle auf den Leib schneiderte. Das heißt wiederum nicht, dass dieses Amt nicht auf jemand erfüllen könnte, der katholisch sozialisiert wurde - und es heißt auch nicht, dass jeder protestantisch erzogene Mensch grundsätzlich neoliberal ist. Aber bei auserwählten Menschen mit Sendungsbewusstsein erleichtert es die Aufgabe doch ungemein.
Ich gebe zu, eigentlich betreibe ich Themenverfehlung. Wieviel aus meiner neuen Heimat steckt in diesem Text? Hätte er nicht einfach ganz lapidar Das Katholische und das Protestantische heißen können? Er erzählt ja nicht explizit aus der Gegend, in der ich nun lebe. Nicht direkt, da stimme ich schon zu - aber das Hiersein hat nochmal nachgezeichnet, was ich schon vormals ahnte, was ich darüber las und nie so richtig glauben konnte. Hier laufen so viele Entwicklungen auf Landesebene schief. Das Bildungswesen ist marode; die Gesundheitspolitik mit ihrer Freude daran, Krankenhäuser zu privatisieren, nimmt hier überhand; Bürgerinteressen wie die um die neue Landebahn am Frankfurter Flughafen, kümmern nicht; die unbegrenzten Ladenöffnungszeiten setzen den Angestellten im Handel drastisch zu; dazu der Filz zwischen Landesverband der Union und Wirtschaft; eine relativ unkritische Medienlandschaft - das Programm des HR als eines der wenigen Dritten Programme, das überhaupt keine kritischen Magazine oder Reportagen fabriziert. So viele Schlachtfelder - und noch viel mehr. Das neoliberale Lebensgefühl hat die hessische Gesellschaft ergriffen - das protestantische Fundament nutzte dieser Entwicklung. Wobei: Die hessische Gesellschaft gibt es übrigens gar nicht, sie wird gekünstelt inszeniert - demnächst mehr hierzu.
Es soll hier keine Verherrlichung stattfinden. Weder das Katholische noch das Islamische ist ausgesprochen paradiesisch; nichts von beiden in Reinkultur empfinde ich für besonders attraktiv. Man muß schon viel Phantasie aus seiner Kindheit übrig behalten haben, um die jeweiligen aufgeheiligten Schriften für bare Münze nehmen zu können. Jedoch hat beides Strukturen hervorgebracht, die so tödlich wie lebensbejahend waren, so kriegerisch wie pazifistisch, so fürsorglich wie gefühlskalt. "Die Christenheit, die Christenheit. Sie hat gute Krankenschwestern hervorgebracht und ebenso tüchtige Mörder", schrieb Dürrenmatt in Der Verdacht - er hat vergessen hinzuzufügen, dass das für das Islamische gleichfalls gilt, jedoch für das Protestantische, das ja auch Christenheit ist, teilweise nicht so stark. Der hatte statt Nächstenliebe calvinistische Prädestination zu bieten - man merkt das teilweise bis heute; aus dieser Tradition entspringt manche protestantisch dressierte Region. Stammlande des neoliberalen Lebensentwurfes, nannte ich das unlängst - die Lehre von der Auserwähltheit als Heilsagenda für alle, als Massenartikel: das ist die neoliberale Folgeerscheinung Calvins und seiner Parteigänger.
In gewissem Sinne wohnt auch jenen Moslems, die nicht nach Allahs Geboten leben, die aber doch islamisch sozialisiert sind, die Umma inne. Dieser gemeinschaftliche Gedanke, der Rücksichtnahme und Fürsorge begründet, der familiäre und freundschaftliche Bande stärkt und die Hilfe an Schwachen für ein göttliches Gebot hält, findet sich bruchstückhaft durchaus in katholisch beschulten Gegenden auch. Manchmal mit religiösen Tand nebenher, manchmal auch ohne. Im Protestantischen scheint dieser Halt durch die Prädestinationslehre gänzlich verhunzt - und natürlich, bevor Einwand kommt: auch im Katholischen hat die programmatische Egomanie unserer Zeit schon lange Anhänger gefunden.
Gleichwohl gehen einer Gegend, die doch seit Jahrhunderten protestantisch ist, Attribute ab, die man vielleicht andernorts noch kennt. Es fehlt eine gewisse Demut, was als Freiheit eines Christenmenschen definiert wird und die schließt manchen Egoismus und manche Ich-Bezogenheit mit ein - das ist nicht grundsätzlich schlecht, denn sich selbst leiden zu können, sich selbst Gutes zu wünschen, ist Grundlage dafür, auch andere zu schätzen, ihnen Gutes zu wollen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, rührt als biblisches Bonmot aus dieser Einsicht. Nur ist dieses Hier stehe ich, ich kann nicht anders! in extremo dann das Gegenteil dessen. Der Katholik kniet sich hin vor seinen Gott - der Protestant tut das nicht, er ist mit seinem Gott auf Augenhöhe; er persifliert somit ungewollt Meister Eckhart und dessen Aufzäunung von hinten, dass nämlich Gott nichts wäre ohne ihn - was feuerbachianisch und atheologisch betrachtet auch richtig ist. Nicht falsch verstehen, ich verlange keinen Kotau vor einen Gott, den es vermutlich gar nicht gibt. Nur habe ich da manchmal den Eindruck, dass diese mangelnde Ehrfurcht das Protestantische dazu verleitet, sich selbst als die Göttlichkeit auf Erden zu betrachten. Es ist nämlich durchaus ein Unterschied, wie der Katholizismus mit der modernen Welt umgeht und wie es die Evangelischen Kirche in Deutschland tut. Lehnt das Katholische drastische Eingriffe in die Schöpfung ab, weil sie den Menschen in eine Rolle des Lebensschöpfers und -nehmers bugsieren - man denke hier an irgendwelche Genphantasmagorien, die es erlauben würden, zwischen lebenswerten und lebensunwerten Leben zu scheiden, bevor dieses Leben überhaupt begonnen hat -, so tut das Protestantische pikierter, launischer, sagt Einerseits, sagt Andererseits. Mit Bauchschmerzen ist man dann nicht dafür, aber auch nicht dagegen. Denn man solle auch Bedenken, der Herr habe dem Menschen diese Gabe ermöglicht, vielleicht hat er sich dabei was gedacht - aber bitte, liebe Schäfchen, tut das mit Maßhaltung, mit Respekt und übertreibt es nicht. Aber dafür sind wir trotzdem nicht! Eine Theologie der Eigenverantwortung, die keine moralischen Grenzwerte anerkennt. Ähnlich verhält es sich mit den sozialen Fragen unserer Zeit. Auch da kein eindeutiges Bekenntnis, sondern ein Sichannähern an neoliberale Positionen - die sicherlich auch im Katholizismus Einzug finden, dort aber gelinder, mit Widerspenstigkeit in petto. Dieses "sich mit Bauchschmerzen winden" erklären auch die Grünen stets; die sind moralisch nie dafür, realpolitisch sagen sie dann aber trotzdem Ja und zeigen auf ihren schmerzenden Bauch, der ihrer Zustimmung geschuldet ist. Mag sein, dass das auch an der parteilichen Zusammensetzung liegt, daran, dass mehr Mitglieder aus protestantischem denn aus katholischem Hause stammen.
Natürlich ist das protestantisch Sozialisierte kein Joachim Gauck, der sich gerade als Synonym für das Unkritische bewirkt - und es ist nicht Wolfgang Huber, der wie ein Gerhard Schröder der EKD fungierte - und auch kein Peter Hahne, der seine von Großmama inspirierte Das-gehört-sich-nicht!-Theologie bei Springer verbeitet. Aber es hat dennoch etwas von dieser Art von "Theologie" übernommen - vor einem Gott geht man gottesdienstlich nicht auf ein Kniebrett; vor der weltlichen Macht allerdings schon. Ich merke das dieser Tage ganz häufig. Als ich zuletzt schrieb, dass ich in den Stammlanden des Neoliberalismus gelandet bin, da ließ ich mitklingen, dass es durchaus auch am protestantischen Fundament liegt, dass es sich hier so entwickelt hat, wie es sich entwickelt hat. Ich will aber auch gar nicht so tun, als sei ein protestantisch sozialisiertes Umfeld etwas gar Schreckliches - auch das hat Vorzüge; in so einer Gesellschaft gilt das individuelle Leben mehr, man funkt niemanden hinein, alles ist distanzierter. Manchmal braucht man das ja! Es gibt keine Umma, vor der man Rechenschaft ablegen müsste, Nächster ist man sich nur selbst - sonntags legt sich die Gemeinde lediglich Rechenschaft über die Kollekte ab, und dann ist auch schon gut, mehr muß nicht sein. Distanz ist manchmal praktisch, aber für einen gesunden Zusammenhalt selten förderlich. Es ist schon wahr, dass das Anderssein in Bayern, katholischer Flecken das es ist, nicht immer einfach ist - der Rahmen ist abgesteckt und darin sollte man sich bewegen, will man als Mensch glaubhaft bleiben. Das ist der Nachteil der Geschichte. Denn es entsteht dieses Mia-san-mia-Gefühl, dieses Herabschauen auf andere. Das wiederum gibt es hier in Hessen weniger, wenngleich man natürlich auch nicht zu anders sein soll - wie anders man sein darf, sah man ja, als Ypsilanti mit einer Gruppe "ganz besonders Anderer" koalieren wollte. Dieser Stoizismus birgt natürlich auch Nachteile, denn er ist es auch, der soviele Entwicklungen hinnimmt, nicht dagegen ankämpft. Thomas Mann schrieb über Luther, er sei die "riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens" gewesen, dessen "antipolitische Devotheit [...] für die Jahrhunderte die unterwürfige Haltung der Deutschen vor den Fürsten und aller staatlichen Obrigkeit geprägt" habe. Man muß es halt hinnehmen, ist die schüchterne Redewendung.
Dass der Bundespräsident seinen Amtsvorgänger revidierte, dass er den Islam für nicht zu Deutschland und dem Abendland zugehörig empfahl, ist natürlich kein Wunder. Als protestantischer Theologe wohnt ihm die natürliche Distanz zu einer Gruppe, die weniger distanziert zwischen ihren Mitgliedern wirkt, inne. Für ihn ist der Islam so fremd, weil ihm Gruppenkohäsion fremd ist. Er ist der Präsident des deutschen Neoliberalismus, weil er aus einer Tradition kommt, die ihm diese Rolle auf den Leib schneiderte. Das heißt wiederum nicht, dass dieses Amt nicht auf jemand erfüllen könnte, der katholisch sozialisiert wurde - und es heißt auch nicht, dass jeder protestantisch erzogene Mensch grundsätzlich neoliberal ist. Aber bei auserwählten Menschen mit Sendungsbewusstsein erleichtert es die Aufgabe doch ungemein.
Ich gebe zu, eigentlich betreibe ich Themenverfehlung. Wieviel aus meiner neuen Heimat steckt in diesem Text? Hätte er nicht einfach ganz lapidar Das Katholische und das Protestantische heißen können? Er erzählt ja nicht explizit aus der Gegend, in der ich nun lebe. Nicht direkt, da stimme ich schon zu - aber das Hiersein hat nochmal nachgezeichnet, was ich schon vormals ahnte, was ich darüber las und nie so richtig glauben konnte. Hier laufen so viele Entwicklungen auf Landesebene schief. Das Bildungswesen ist marode; die Gesundheitspolitik mit ihrer Freude daran, Krankenhäuser zu privatisieren, nimmt hier überhand; Bürgerinteressen wie die um die neue Landebahn am Frankfurter Flughafen, kümmern nicht; die unbegrenzten Ladenöffnungszeiten setzen den Angestellten im Handel drastisch zu; dazu der Filz zwischen Landesverband der Union und Wirtschaft; eine relativ unkritische Medienlandschaft - das Programm des HR als eines der wenigen Dritten Programme, das überhaupt keine kritischen Magazine oder Reportagen fabriziert. So viele Schlachtfelder - und noch viel mehr. Das neoliberale Lebensgefühl hat die hessische Gesellschaft ergriffen - das protestantische Fundament nutzte dieser Entwicklung. Wobei: Die hessische Gesellschaft gibt es übrigens gar nicht, sie wird gekünstelt inszeniert - demnächst mehr hierzu.
14 Kommentare:
Ferdos Forudastan (sie hat iranische Wurzeln) ist übrigens die neue Sprecherin von Joachim Gauck. Eine fürwahr überraschende Personalie, handelt es sich doch um eine Islam-affine Persönlichkeit und eine der schärfsten Sarrazin-Kritiker/innen.
www.tagesschau.de/inland/gaucksprecherin100.html
Das beweist natürlich alles!
Um die Quintessenz deines Artikels zu nennen, Roberto:
Das Protestantische ist die freiheitlichere Grundlage gegenüber dem Katholischen, aber der protestantisch geprägte Mensch ist im allgemeinen nicht ganz so gefestigt gegen die weltliche Manipulationsmaschinerie.
"Ihr habt alle Dinge verstanden, die ich euch gesagt habe, und ihr habt sie im Glauben angenommen. Wenn ihr sie erkannt habt, dann sind sie die Eurigen. Wenn nicht, dann sind sie nicht die Eurigen."
Jesus von Nazareth (Nag Hammadi Library / Dialog des Erlösers)
Weil die halbwegs zivilisierte Menschheit an wahrer Nächstenliebe nicht interessiert war, wurde die originale Heilige Schrift des Urchristentums (Gnosis = Wissen) von der "heiligen katholischen Kirche" im vierten Jahrhundert verbrannt. Das folgende Zitat aus dem "neuen Testament" ist so ziemlich das einzige, dessen ursprüngliche Bedeutung noch erkennbar ist,…
"Ihr habt gehört, dass gesagt ist: "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei."
…wenn wir es mit dem folgenden Zitat des bedeutendsten Ökonomen der Neuzeit vergleichen:
"Man sagt es harmlos, wie man Selbstverständlichkeiten auszusprechen pflegt, dass der Besitz der Produktionsmittel dem Kapitalisten bei den Lohnverhandlungen den Arbeitern gegenüber unter allen Umständen ein Übergewicht verschaffen muss, dessen Ausdruck eben der Mehrwert oder Kapitalzins ist und immer sein wird. Man kann es sich einfach nicht vorstellen, dass das heute auf Seiten des Besitzes liegende Übergewicht einfach dadurch auf die Besitzlosen (Arbeiter) übergehen kann, dass man den Besitzenden neben jedes Haus, jede Fabrik noch ein Haus, noch eine Fabrik baut."
Silvio Gesell (Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, 1916)
Solange das Wissen noch nicht zur Verfügung stand, um das Geld an den Menschen anzupassen, musste der Kulturmensch an ein darum bis heute fehlerhaftes Geld angepasst werden. Das war (und ist noch) der einzige Zweck der Religion:
http://opium-des-volkes.blogspot.com/2011/07/die-ruckkehr-ins-paradies.html
Mein Mann ist vor einigen Jahren von der Evangelischen Kirche in die Katholische Kirche gewechselt. Ich bin mit 20 Jahren aus der Katholischen Kirche ausgetreten und im Jahr 2006 wieder eingetreten.
Man kann natürlich wunderbar über die Katholische Kirche streiten, mir passt auch vieles nicht, aber was mich und meinen Mann an den Evangelen so stört, ist dieses Sowohl-als-auch, es gibt keine innere, unverhandelbare Haltung wie bei den Katholiken. Ich glaube, dass die SPD ebenfalls daran krankt, dass sie evangelisch dominiert ist.
Die Evangelische Kirche war mir in den 80er Jahren sehr sympathisch, inzwischen ekelt sie mich an. Woran liegt das? Nun, da sich die Evangelische Kirche gerne dem Zeitgeist anpasst, war sie in den 80ern so, wie Kirche in meiner Vorstellung eigentlich sein sollte. Inzwischen ist sie voll auf den neoliberalen Zug aufgesprungen. Lieber bin ich Mitglied der Katholischen Kirche, die eine Haltung zeigt, die manchmal an Borniertheit grenzt, als Mitglied einer Kirche, die sich dreht wie das Fähnchen auf dem Dach.
Luther wollte in meinen Augen der bessere Katholik sein - er würde vermutlich kotzen, wenn er die heutige evangelische Kirche sehen müsste, die nur noch dem goldenen Kalb hinterher rennt.
Die katholische Kirche entlässt jahrzehntelange, verdienstvolle Mitarbeiter wenn bekannt wird dass Diese geschieden sind oder homosexuell - sie goutiert und deckt, ob in Deutschland, Irland, USA oder sonstwo den systematischen innerkirchlichen Kindesmissbrauch. Sie war über eineinhalb Jahrtausende und ist in der dritten Welt noch immer einer der schlimmsten Ausbeuter. Ihr Kampf gegen Verhütung und Geburtenkontrolle in Afrika, Südamerika und ebenso stark katholisch dominierten Ländern wie den Philippinen hat bereits Millionen Menschen ihr Leben gekostet und hält weitere Zehnmillionen in Unmündigkeit und Armut.
Ausgerechnet von dieser Organisation Humanismus und Sozialstaatlichkeit zu erwarten halte ich für absurde Realsatire.
Dem Protestantismus mögen seine eigenen Probleme innewohnen, eine Alternative ist der Katholizismus für den humanistischen Menschen aber dennoch nicht.
Egal in welcher Ecke diesen unseren jetzigen Landes und seiner Vorgänger, wie immer sie auch hießen: Zumindest die Kirchenoberen, egal ob evangelisch oder katholisch, haben sich bis auf einzelne "Ausreißer" wie z.B. von Galen (dass er ein "Konservativer" und ein "Patriot" war soll hierbei jetzt keine Rolle spielen) zu allen Zeiten lieber mit den "Reichen und Mächtigen" arrangiert als sich mit ihnen anzulegen.
Dem "gemeinen Volk" wurde und wird sowohl von der evangelischen als auch der katholischen Kanzel herab dafür schon immer gepredigt, dass es für sein darben während seiner Lebzeiten auf Erden dann später im Himmelreich schon noch reich entlohnt werden würde. So hatte "Mutter Kirche" von beiden Seiten her stets ihre Ruhe und konnte ungestört ihr Eigenleben führen bzw. immer weiterentwickeln.
In meinen Eingeweiden macht sich bei aller Schwafelei über die verschiedenen religiösen Geschmacksrichtungen ein ekelhaftes Geblubber breit.
Ob man die Visagen, die derzeit religiöses oder religionsbezogenes Geseier absondern, ernst nehmen soll, muss doch stark bezweifelt werden.
Jeder kocht sein eigenes Süppchen und verfolgt damit Absichten, die dem jeweilig anderen Suppenkoch gegen sein Gusto gehen.
Mir wird kotzübel, wenn ich Windeier wie Hahne oder Gauck herumsalbadern höre, Ratzingers faschistoide Attitüden beobachte und Menschen sich an diesen Scharlatanen orientieren.
Religiotie grassiert wieder und darf sich ungehemmt darstellen - und wird wieder salonfähig.
Das Selbst-Denken soll den Menschen wieder abgenommen werden....
Anton Chigurh
Bademeister, genauso könntest du die Vergehen der Menschen insgesamt auflisten und folgern: Von diesen Wesen Humanismus und Sozialstaatlichkeit zu erwarten halte ich für absurde Realsatire.
Trotzdem wird hier darum gerungen. Warum nur?
In Deiner Auflistung steht nicht, was Religion und Kirche für Milliarden Einzelne positiv bewirkt und geleistet haben.
Man braucht kein schlechteres Gewissen, um religiös zu sein oder in Kirche zu gehen, als man braucht, um Mensch zu sein.
Ich bin Mitglied der Heilsarmee, eine christliche Freikirche mit ausgeprägter sozialer Tätigkeit...
http://de.wikipedia.org/wiki/Heilsarmee
Ich habe mir dafür nichts vorzuwerfen.
Ich glaube, dass weder der Bademeister noch ich das soziale Engagement von kirchlichen Hilfsorganisationen auch nur ansatzweise in den Dreck ziehen würden. Was der "Glaube", die "Kirchen" oder jegliche anderen Religionsgemeinschaften an Verbrechen zu verantworten haben, hat NICHTS mit den Leistungen derer zu tun, die sich Tag für Tag die Knochen wund schuften, um Anderen zu helfen. Was im Namen von Religion angerichtet wird, ist diesen wunderbaren Menschen in keinster Weise anzulasten.
Anders aber sieht es aus mit den falschen Propheten, den Overbecks, Hahnes, Gaucks, Meißners, islamischen Haßpredigern u.v.m., die die Menschen mit ihrem Geseier verblöden und fehlleiten, ihren Absolutheitsanspruch vor sich hertragen und sich wie selbstverständlich gewichtvoll überall einmischen wollen.
Für mich sind das Kasper, die ich genau so ernst nehme wie Ureinwohner eines Dschungelstammes, die noch Baumwurzeln anbeten.
Der ständige und absolute Bezug auf einen von Menschen geschriebenen Märchenschinken wie die Bibel ist ebenso lächerlich und gefährlich wie die Ernstnahme von den Moralvorstellungen eines Silvio Berlusconi...
Anton Chigurh
Zu diesem sehr schönen Artikel möchte ich auch meine Eindrücke aus Hessen benennen:
Ich lebe seit etwas mehr als 10 Jahren in Hessen und komme ursprünglich aus Sachsen.
Drei Punkte möchte ich ansprechen:
1. Der hessische Landesverband der CDU ist der widerlichste und korrupteste CDU-Landesverband in der Bundesrepublik.
2. Der hessische Rundfunk besticht durch ein niveauloses Fernseh- und Radioprogramm, welches höchstens noch vom MDR unterboten wird.
3. Das hessische Bildungssystem ist grandios schlecht, was sicherlich mit der Landespolitik zusammenhängt.
Heimat ist für mich dort, wo meine Lieben sind und deshalb fühle ich mich auch hier wohl. Es gibt viele wunderbare einheimische und zugezogene Hessen.
Anton Chigurh, gehen Sie mal in eine hiesige Kirche und nehmen Sie an Gemeindeleben sein.
Von "ständigem und absoluten Bezug auf ... die Bibel" kann da üblicherweise keine Rede sein.
Und eine Frage: Was bedeutet Ihnen Spiritualität?
@ Holger
Spiritualität ?
NICHTS, rein gar nichts.
Spiritualität ist für mich (persönlich - ich spreche da NUR von mir!) Selbstverarschung.
Wenn ich "Spiritualität" brauche, öffne ich eine Flasche Talisker, dann habe ich genug "Spiritualität" für einen ganzen Abend....
Anton Chigurh
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