Karlsruhe nicht mit Hoffnung verwechseln

Mittwoch, 25. Juli 2012

Karlsruhe ist keine Opposition - das ist wahrlich richtig. Es scheint dieser Tage viel mehr zu sein als das, viel mehr als Kontrollinstanz. Das Bundesverfassungsgericht ist der Statthalter eines Staates, aus dem sich Regierung und Parlament verabschiedet haben. Karlsruhe ist vielleicht keine Regierung, durchaus aber Platzhalter und Korrektiv von einer Regierungsarbeit, die als solche nicht zu bezeichnen ist, weil sie sich strikt weigert, ihre Entscheidungen und Vorhaben an Grundgesetz, sozialen Anstand und Wahrheitsansprüche zu knüpfen.

Dass man sich in Baden der Republik annimmt, ist weder anmaßend, wie man manchmal im konservativen Feuilleton liest, noch ist es heldenhaft, wie das wiederum mancher Optimist verlautbart. Dass es so ist, hat sich einfach so ergeben - aus einer Haltung heraus, die pragmatische Schnellschüsse als Politik verkauft und die die Anpassung an Verfassungsstandards in Karlsruhe erarbeitet und nicht vorher schon in ausgiebigen Ausschüssen. Diesen teils asozialen, teils ignoranten Aktionismus nennt man engagierte oder unbürokratische Politik - und die landet dann in Karlsruhe.

Welche Gesetze wurden denn in den letzten Jahren nicht mindestens von Karlsruhe aus der Überarbeitung überstellt? Ganz ohne Bedenken ging es selten vonstatten. Und genau diese Bedenken sind es, die Karlsruhe für viele so nervig macht. Man kann in diesem Lande nicht mal in gepflegter Ruhe gewissenhafte Regierungsarbeit verweigern, nicht als Schattenregierung höherer Interessen walten, ohne dass die robierten Bedenkenträger ihren Senf dazu auf die armen Würstchen schmieren, die wir Minister nennen.

Das BVerfG ist die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Ohne Karlsruhe ist gewissenhafte, sprich: verfassungskonforme Regierungsarbeit heute nicht mehr denkbar. Es ist die heimliche Kapitale geworden. Und in der wird nicht so aktionistisch gearbeitet, nicht so übereilt verabschiedet und entschieden - was die Clique, die sich Regierung nennt, als einen Affront gegen das Gebot der Eile versteht und als unverantwortlich hinstellt.

Die Karlsbader Beschlüsse waren einst Maßnahmen zur Überwachung und Erstickung liberaler und nationaler Tendenzen - die Karsruher Beschlüsse sind heute überwachende Anweisungen, um zu liberale und zu nationale Tendenzen zu ersticken. Und was haben sie alles beanstandet und kassiert in den letzten Jahren. Arbeitsmarkt- und Sozialgesetze, Überwachungsgesetze, Asylgesetz... immer gibt es etwas zu korrigieren, immer gibt es etwas der Verfassungswirklichkeit anzugleichen.

Karlsruhe ist dabei keine Hoffnung; es ist ja nicht die Heimat des Sozialen und Gerechten, sondern einfach nur die Hauptwache des Grundgesetzes. Die Richter gehen nicht mit der Absicht heran, den Entrechteten und Benachteiligten Entlastung zu erteilen - sie legen Gesetzeswirklichkeit und Verfassungsideale übereinander, prüfen die Deckungsgleichheit, lassen aber auch mal Ränder stehen, weil Ideale ja nicht absolutistisch sein dürfen und sich Wirklichkeiten zuweilen nicht besser arrangieren lassen. In Karlsruhe sitzt nicht der passionierte Gerechtigkeitssinn dem Gerichte vor - das meint man dieser Tage nur oft, weil es das Gebilde, das noch als Regierung und Parlament firmiert, nicht schafft, verfassungskonforme Gesetze zu kreieren. Diese Unfähigkeit, die freilich keine ist, sondern Kalkül und die Erledigung der politischen Drecksarbeit, die das Großkapital einigen in Anzug gesteckten Typen zugewiesen hat... diese kalkulierte Unfähigkeit also, sie verklärt das Bundesverfassungsgericht nachhaltig. Denn neben einem Tölpel sieht jeder zwangsläufig wie ein gebildeter Mensch aus.

Es ist eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, wann eine Regierung die Karlsruher Beschlüsse wegwischt und dennoch durchsetzt, was sie für angebracht hält. Den stillen Verfassungsbruch hat man in der heutigen Zeit als politische Möglichkeit schon enttabuisiert - nur wenn die Richter ihn benennen, duckt man sich noch weg; irgendwann fällt auch dieses Tabu und man wird meinen, es sei zwar schade, wenn es so sei, aber da wir keine Alternative haben, müsse man eben mit gebrochener Verfassung leben. Denn die Politik muß sich schließlich wieder über ihr Primat bewusst werden - und das geschieht voraussichtlich nicht, indem sie Gesetze macht, die dem Geist des Grundgesetzes entsprechen; das geschieht, indem sie die Wacht über das Grundgesetz zur postdemokratischen Einrichtung macht, zu einer Institution, die es gibt, die bezahlt wird, die urteilen darf, deren Urteile aber als warme und unverbindliche Empfehlungen, nicht als Auftrag verstanden werden.



8 Kommentare:

landbewohner 25. Juli 2012 um 07:37  

dem kann ich nur voll und ganz zustimmen.

Anonym 25. Juli 2012 um 08:16  

Am BVerfG zeigt sich die Ausweglosigeit aus dem neoliberalen System. Es hat nämlich keine Sanktionsmöglichkeiten wie ein Strafgericht. Wiederholt hat die Regierung beweisen, dass sie sich einen Dreck um die Urteile, Entscheidungen und Beschlüsse des BVerfG schert. Und das bleibt materiell folgenlos.

Anonym 25. Juli 2012 um 09:18  

ein sehr zutreffender Artikel. Danke

Ich denke, das BverfG wird sich dem Diktat des Kapitals beugen.

Letztendlich sind auch BverfGRichter/richterinnen nur Menschen und sie werden ihren biologischen Überlebenstrieb dem kapitalistischen Diktat unterordnen.

Auf Deutsch: sie werden sich mit tausenden Worten beugen.

Anonym 25. Juli 2012 um 13:03  

Dass das Bundesverfassungsgericht keine Sanktionsmöglichkeiten hat, ist dem damaligen Denken geschuldet.

Niemand konnte sich damals vorstellen, dass eine Partei die so offensichtlich wie heute die Verfassung bricht und das vom Bundesverfassungsgericht bestätigt bekommt, vom Volk weiterhin gewählt wird.

Die Sanktion für einen Verfassungsbruch liegt also bei der Bevölkerung.

Anonym 25. Juli 2012 um 15:58  

Was wir erleben werden, ist, dass sich wirre Wutbürger in protostalinistischen Schauprozessen selbst zerfleischen...

ulli 26. Juli 2012 um 00:06  

Die bürgerliche Demokratie beruht auf der Gewaltenteilung in Judikative, Exekutive und Legislative. Die Gerichtsbarkeit, bis hin zum Verfassungsgericht, funktioniert unabhängig von Regierung und Parlament - in dieser Hinsicht funktioniert die Demokratie noch gut. Das heutige Problem besteht vielmehr darin, dass Regierung und große Teile des Parlaments nichts mehr zu sein scheinen als die Bauchredner von wirtschaftlichen Interessengruppen, von Big Business und Finanzoligarchie. Auch wenn das Parlament von den Bürgern gewählt wurde, vertritt die Regierung keineswegs mehr die Interessen der großen Mehrheit der Menschen.

Anonym 26. Juli 2012 um 13:43  

Kann ich als Privatperson alle Beteiligten der Regierungskoalition oder alle Beteiligten, die das Wahlrecht "geändert" haben verklagen?

Verkalgen auf einen zweiten Verfassungsbruch hin.

Der erste Versuch geschenkt, als Versehen hingestellt.
Bei drei Jahren Korrekturmöglichkeit zu spät zu kommen und das gleiche Ergebnis abzuliefern, dass grenzt an kriminelle Machenschaften.

Wenn ich dann bei der CDU lese:
"Das Urteil bestätigt damit im Kern die von der christlich-liberalen Koalition getroffene Lösung. Das bewährte und dem Bürger vertraute Wahlrecht bleibt bestehen."
http://www.cdu.de/home/index_34780.htm

Oder ist das schon als Drohung zu verstehen, dass man nichts ändern wird?

Kann man wenigstens die CDU für diese offene Lüge anklagen?

Konsequenzen für irgendjemanden?

Anonym 29. Juli 2012 um 00:05  

Geschichte wiederholt sich anscheinend doch; man denke an die jahrelangen Querelen zwischen dem oberstem Gerichtshof des Ancien Regime, dem pariser "Parlement", und den Gesetzesvorlagen des Königs, deren Registratur es oftmals verweigerte, im zeitlichen Vorfeld der Französischen Revolution. Die Bevölkerung stand damals auf Seiten des Gerichtes. Hoffentlich auch dieses mal.

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