In der Ruhe läg die Kraft

Dienstag, 31. Juli 2012

Warum nur... warum? Vieles spräche dafür, dass auch in diesem Lande endlich die Unzufriedenheit die Schuhe schnürte, um auf dem Asphalt zu demonstrieren, der so unromantisch Straße heißt. Das muß doch möglich sein! Gibt es denn nicht genug Steine des Anstoßes, ja Felsbrocken der Anstößigkeiten? Sind die mehr und mehr aus den geschäftlichen Interessen erwachsenen Spielregeln unserer Gesellschaft nicht anstössig genug? Mensch, es hat doch schon mal friedlich geklappt! Schon mal kippten Massenkundgebungen einen gesamten Gesellschaftsentwurf! Woran hapert es denn jetzt?

Ausgeruht in den Umsturz

Vielleicht ist es doch so, dass die Menschen, die 1989 den Weg der asphaltierten Öffentlichkeit suchten, genug Kraft aufbrachten, um sich neben ihren beruflichen Leben noch politisch, mindestens aber gesellschaftskritisch zu betätigen. Das Berufsleben war, ohne dass man dem homo de-de-er-icus Faulheit nachsagen darf, weitaus weniger stressig aufgetürmt, wie es heute der Fall in diesem Lande ist. Auch im Osten mühte man sich, schwitzte man, stöhnte es sich angestrengt - der körperlichen Arbeit war genug anwesend. Nur deckte man die Arbeiter und Angestellten nicht vollends ein mit all den Nebenschauplätzen, die die heutige westliche Arbeitswelt zu einer Hölle machen. Das Antreiben zu Höchstleistungen und Normen, die niemand schaffen konnte, dürfte mit dem Jahr 1953 ohnehin unterlassen worden sein - aber auch all die Grabenkämpfe, die Angst vor Arbeitsplatzverlust, das sichere Auskommen, die Abwesenheit eines Klimas, in der einzig und ausschließlich der Profit zählt, die fehlende Zahlenarithmetik unternehmerischer Zuchtmeister, die jeden Handgriff im Geldwert umrechnen...

Neulich, Gespräch mit einem Freund, der es empirisch wissen muß. Dass die Menschen ausgeruht aus der Arbeit kamen, ausgeruht in Anführungsstrichen, meinte er, das habe bewirkt, dass sie die Kraft hatten, ihre Unzufriedenheit zu Markte zu tragen. Leider haben sie das wirklich, zu Markte getragen - recht frei, sodass sie gleich zu freiem Markte landeten und nicht selten böse erwachten. Es klingt zu einfach, und vermutlich ist auch dieser Umstand nur ein Faktor vieler verschiedener Indikatoren, die im Zusammenspiel das ergaben, was wir friedliche Revolution nennen, wenn wir gerade wieder pathetischen Selbstbeweihräucherungen nachgehen. Aber im Vergleich zum Jetzt, zum Hier, zu einer Gesellschaft, die sich strikt durch ihre Arbeitswelt definiert, die Beruf und Erwerb für zentrale Bausteine selbst der Unterhaltungsindustrie erachtet, scheint die These doch Berechtigung zu finden.

Bevor der berechtigte Einwand kommt: natürlich waren das keine paradiesischen Zustände dortmals. Aber ausgeblutet, geschächtet geradezu, wurde die Arbeitskraft eben auch nicht. Man erfüllte sein Soll, war aber nicht dauernd in der Angst, ein zu früh erbrachtes Soll würde zur Erhöhung ebendieses Solls führen. Dieses Immer-noch-mehr-fordern, dieses Effektivieren jeglichen Handstrichs, das erlaubte einen entspannten Umgang mit Arbeit.

Der Knecht auf Arbeit

Dieses Land hat nicht die längsten Arbeitszeiten Europas, aber der Druck am Arbeitsmarkt, vielleicht flankiert von einer Mentalität, die durch In-sich-hineinfressen und bis zur Depression neigenden Ernsthaftigkeit zur Geltung kommt, entkräftet diese relativ gekürzten Arbeitszeiten. Dass in der Kürze Würze liegt, trifft hier zu. Man arbeitet weniger als in der DDR, man arbeitet auch technologisierter als dazumal; was einst Hände taten, verrichten jetzt Maschinen und Computer und beides in Kombination - aber das Berufsleben ist nicht einfacher, nicht ruhiger geworden. In Firmen waltet der Profitismus, den man täglich zu spüren bekommt. Die Arbeitslosigkeit und die industrielle Reservearmee sitzen im Nacken und die Arbeitgeber machen sich die dadurch entstandenen Ängste zunutze. Man schaukelt den Angestellten Zahlen vor, die belegen, dass man zwar gut sei, aber noch nicht gut genug - Zufriedenheit, sich einfach mal zurücklehnen, ist in der hiesigen Arbeitswelt undenkbar. Alles kreist um das Erwerbsleben; Glück wird mit Arbeitsplatz synonym. Und der Verlust desselbigen ist auch der Verlust der Lebensfreude - verliert die einer in diesem Falle nicht, forscht man nach, weshalb da jemand nicht gebrochen ist; ganz normal ist das ja nicht, nicht wahr!

Habe ich morgen noch Arbeit? Was, wenn ich lange erkranke - komplimentiert man mich dann hinaus? Und meine Leistungszulage, erreiche ich die, wenn meine Kollegen nicht schnell genug schrauben, hämmern, Dokumente abheften? Man liest Arbeitsmarktspezifika, man lauscht Berufsneuigkeiten, man glotzt Erwerbslebens- und Wirtschaftsnews. Sicher, die Arbeit ist ein Teil des Lebens hinnieden? Aber ausschließlich? Arbeit unsere auf Erden, geheiligt werde dein Name? Das Recht auf Arbeit, aber das wusste schon Lafargue, befreit nicht - jedenfalls dann nicht, wenn Arbeit geheiligt, einziger Sinnerfüller wird - siehe hierzu "Auf die faule Haut". Ein so ausgelegtes Recht macht den Knecht...

Erschöpfung als Sedativum

In einem solchen Klima gedeiht der Mensch zum Geschäftsmann seiner selbst, zum Sachwalter seiner Arbeitskraft. Für Gedankengänge, die ihn mit seiner Unzufriedenheit bekanntmachten, die ihm Fehlentwicklungen, zu denen die absolutistische Arbeitsmoral ja auch gehört, vor Augen führten, ist vielleicht ausreichend Zeit vorhanden, nicht jedoch Kraft. Er erschöpft sich in seiner ihn erschöpfenden Welt. Im oberflächlichen Gespräch gibt er zu, dass es Fehler im System gibt, aber er sei zu müde, um darüber nachzusinnen. Sediert von seiner Arbeit und den Brandherden, die man um sie herum entzündet, narkotisiert davon, seiner Arbeit nicht mehr gerecht zu werden, somit seinem Arbeitgeber nicht mehr gerecht zu werden, lähmt ihn alleine dieser Bereich seines Lebens für andere Aktivitäten, die nichts mit Regeneration und Erholung seiner Arbeitskraft zu tun haben. Wohlgemerkt seiner Arbeitskraft, der Kraft, die er in Arbeit steckt, denn all seine Kraft verspritzt er in seine Arbeit - unausgeruht und ermattet, innerlich instabil und verunsichert fehlt es ihm an Schwung. Etwas wie 1989 ist in einem solchen Klima, in dem die tägliche Arbeit mit Stressoren und Sorgenherden behängt wird, nicht denkbar.

Arbeit dient der kapitalistischen Gesellschaft als Betäubungsmittel. Zwar wachsen die Heere der Arbeitslosen offen und verdeckt, wenn man sie hinter Scheinarbeits- und Niedriglohnverhältnissen verschanzt, aber das gibt der Unzufriedenheit keine Kraft. Denn auch die Arbeitslosigkeit steckt im narkotisierten Schlaf; auch der Arbeitslose grämt sich, ängstigt sich, erliegt dem Druck einer Arbeitswelt, die immer schneller, brutaler und marktkonformer, heißt: menschenabgewandter wird. Seine Integration in Arbeit ist es, was ihm Kraft rauben soll - die Stigmatisierung seiner Erwerbslosigkeit, die Verhöhnung seiner Existenz als Ballast, nimmt ihm die Energie, seiner Unzufriedenheit eine Stossrichtung zu verleihen, die über sein eigenes Dasein hinausgeht.

In der Ruhe läge die Kraft

Der Treppenwitz dieser Geschichte ist, dass es dem Menschen gelungen ist, die meiste körperlich schwere Arbeit auf Maschinen abzuwälzen, die ihn entlasten sollen und können, dass aber gleichzeitig der Stress und die Belastung innerhalb der Arbeitswelt viel größer zu sein scheinen, als in Zeiten, da es solcherlei Abnehmer schwerer Tätigkeiten noch nicht gab. Körperlich war man ausgesaugt, die Beine waren schwer - aber geistig war man nicht völlig durch einen in alle Nischen hineindampfenden Arbeitsfetisch ausgebrannt. In dieser Ruhe läge die Kraft - aber die Meldungen, die man täglich forciert und dramatisiert, sie lähmen, sie sollen die ganze Kraft der Menschen in Arbeit kanalisieren, damit nie wieder, nie wieder, nie wieder passiert, was einst geschah: der Sturz eines Gesellschaftsentwurfes...



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Der ifo-Presseberichtklimaindex

Montag, 30. Juli 2012

Es ist schon ein Trauerspiel, wie die Medien sich monatlich auf den Geschäftsklimaindex aus dem Hause Sinn stürzen und dessen Erhebungsdaten auf dem Leim gehen. Denn sie berichten von einer Kennzahl, die durch tautologische Prophetie entsteht, weniger durch in der Wirklichkeit dokumentierte Daten. Der Indikator basiert auf Hörensagen und Bauchgefühl, bildet also das allgemeine Klima ab, so wie es von den Medien publizistisch interpretiert wurde.

Der ifo-Geschäftsklimaindex funktioniert ungefähr so: Das ifo-Institut schreibt monatlich Unternehmensführungen an, die über allerlei Auskunft geben sollen. Besonders markant ist hierbei die persönliche Einschätzung der Geschäfts- und Nachfrageerwartung. Diese Schätzung ist keinen nachweisbaren Zahlen geschuldet, sondern der persönlichen Meinung. Nun lesen auch Manager Zeitung und können darin lesen, dass die Stimmung schlecht ist, dass der Einbruch der Euro-Zone und des Abendlandes quasi täglich im schweren Einsatz vereitelt wird; dass der Sozialstaat Geld kostet und die Demokratie Hindernisse aufstellt, die man nicht erst umgehen und beseitigen müsste, gäbe es diese Demokratie nicht. Kurzum, der Manager lebt im selben Pressemilieu, in dem alle hierzulande leben, so sie denn Zeitung lesen. Ob man da einen objektiven Eindruck der Lage erhält, darf bezweifelt werden. Ob man vielleicht persönlich zur Panik neigt oder einfach nur unkritisch glaubt, der Journalismus ist über jede wirtschaftliche Interessensverflechtung erhaben: das ist es, was in den Index einfließt. Der ifo-Geschäftsklimaindex ist daher nicht mehr als die Abbildung der charakterlichen Leseeignung und der Lesekompetenz von Unternehmensleitungen.

Kreuzchen bei "Geschäftserwartungen: ungünstiger", denn die Stimmung ist schlecht, ich habe es neulich im Spiegel gelesen und beim Stern einen Aufmacher gesehen, der das bestätigte - das ifo-Institut veröffentlicht daraufhin, dass die Stimmung schlechter ist - der Spiegel und der Stern berichten deswegen besorgt, dass die Stimmung in den Keller sinkt, weil die Unternehmen ängstlich in die Zukunft blickten - das politische Ressort der Magazine analysiert folglich, warum es so mies läuft - Manager lesen diese Berichte und erkennen, dass ihre Einschätzung richtig war - ein Monat verfliegt und sie werden erneut befragt vom Institut - weiterhin "ungünstiger" kreuzen sie an, letztens schrieb doch der Stern davon und Focus auch, haben Sie das denn nicht gelesen?

Diese Tautologie ist endlos. Sie schaukelt sich selbst zur eigenen Wahrheit, sie schmiedet sich eine Realität zurecht, wie es sie zuerst publiziert gab. Oder nicht? Wer war zuerst? Das miese Klima oder der Bericht darüber? Ei oder Henne? Der ifo-Geschäftsklimaindex ist nicht mehr als der ifo-Presseberichtklimaindex...

Man stelle sich vor, plötzlich häuften sich die positiven Meldungen, jedes Magazin wäre zum Sonnenschein verpflichtet - wie würde der Geschäftsklimaindex reagieren? Als Abbild der Stimmungen suggerierte er Anpackerzeiten und Aufschwung. Die wirtschaftliche Wirklichkeit sieht aber zuweilen anders aus, als es das agenda setting dokumentiert. Das sieht man bei den Berichten des Arbeitsmarktes, die voller positiver Energien sind, während die prekäre Ausbeutung auf dem Vormarsch ist. Überhaupt könnte man einwenden, dass ja durchaus nicht medial verbreitet würde, es gehe alles den Bach runter. Man liest doch so oft, dass Reformen fruchteten und es Lichtblicke gibt. Diese Meldungen beziehen sich jedoch nicht auf die Fragen der Unternehmen selbst. Denn für Unternehmen sieht es immer schlecht aus. Zu wenig Profit, zu wenig Fachkräfte, zu hohe Steuern und bürokratische Barrieren. Unternehmen reiben sich schrecklich auf, sagt uns die täglich publizierte Legende. Darüber zu berichten, wie schlecht es um die Zukunft von Unternehmen steht und die Schönfärbung sozialstaatlicher Beschneidungen zu gelungenen Reformen: das gehört zusammen, das ist eine Brühe.

Nun darf man das freilich nicht falsch verstehen. Die Aussichten sind vermutlich wirklich trübe - eine Politik, die Sparen als Parole immer dann kennt, wenn Investionen nötig wären, schafft nicht Zuversicht, sondern traurige Aussichten. Damit hat der ifo-Geschäftsklimaindex recht - wenn er das auch anderen Prämissen zuschreibt. Nur ist die tautologische Erhebung einer solchen Kennzahl, die sich auf Presseberichte, auf den publizistischen Abklatsch der Welt stützt, völlig unnötig, weil tautologisch, weil nicht mehr als ein grobmotorisches Doppelpaßspiel zwischen Publizistik und Wirtschaft. Theoretisch wäre es denkbar, eine florierende Wirtschaft durch reges Niederschreiben in "schlechte ifo-Index-Stimmung" zu versetzen.

Dabei ist natürlich noch zu betonen, dass es nicht der Wirtschaft schlecht geht - sie ist ja als sächliches Etwas total anspruchslos. Es sind die Menschen, denen es zunehmend schlechter geht, weil der Neoliberalismus in eine radikale Phase eingetreten ist. Der ifo-Index sieht dieses Stadium aber nicht als Grund schlechter Stimmungen. Gelänge es Sinns Haus, anhand seines Index' Schlagzeilen zu generieren, die da lauteten: "Regierung erwägt zur Ankurbelung Lockerung des Kündigungsschutzes!" oder "Betriebliche Mitbestimmung für Arbeitnehmer eingeschränkt!" oder "Paritätisches Gesundheitssystem auf dem Prüfstand!", dann würde der nächste Index auch positiver ausfallen - dann wäre die Stimmung anhaltend gut, obgleich es keinen Grund dafür gäbe.



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J'accuse!

Freitag, 27. Juli 2012

Ich klage diese Regierung an! Ich klage sie an, weil ihr Kurs mich als Linken dazu nötigt, mit Gruppen und Spinnern "gemeinsam" gegen den Wahnsinn anzurennen! Ich klage sie an, weil sie die politische Linke dazu animiert, für einen Nationalstaat aufzustehen, für den üblicherweise irgendwelche rechtsnationalen Irrgeister marschieren! J'accuse!

Ausgerechnet die NPD vergleicht den Europäischen Stabilitätsmechanismus mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Ausgerechnet! Und was kann man dagegen sagen? Gegen die Aussage selbst, meine ich... nichts kann man dagegen sagen; sie ist richtig! Diese Partei macht es freilich nicht freundlicher. Es demütigt mich als Mensch, in einer solchen Zeit leben zu müssen! Es demütigt mich, dass selbst die Hohlköpfe einsehen, dass der ESM eine Diktatur des Kapitals sein wird - und es demütigt mich, dass ich "patriotische Anklänge" zeigen muß. In Zeiten zu leben, da der Faschismus mit dem Ermächtigungsgesetz warnt - was für eine Kränkung!

Ich klage diese Regierung dafür an, dass sie den Schwachköpfen Losungen in den Mund legt, die man überhaupt nicht beanstanden kann! Dass sie solchen rasierten Quadratschädeln Reputation erteilt, indem die aussprechen, was nicht zu widerlegen ist!

Natürlich, es sind verfassungspatriotische Anklänge, die sich nicht auf das patriotische Gewimmel derer beziehen, die das ja passioniert immer schon taten; kein Patriotismus von Blut und Boden und Volksgemeinschaft. Einer, der die Gemeinschaft der Bevölkerung unter einer Verfassung, die sich als hin und wieder anständig erwiesen, die nach ihrer Lesart ein wenig von der Aufklärung übernommen hat, verschreibt. Verfassungspatriot zu sein bedeutet ja nicht, in der traurigen Verfassung zu sein, nicht mehr als nur Patriot sein zu können - aus Mangel an Einsicht, Bildung und Selbstwert. Er ist ja wesentlich mehr als Ethnie - er ist Ethik.

Ich klage an, dass ich mit Leuten wie Berlusconi auf einer Linie liegen muß, wenn die meinen, sie wollten kein deutscheres Europa! Dass Faschistoide aus dem Ausland den Zugriff "deutscher Tugenden" fürchten und es formulieren und damit richtig liegen, das kann man nicht nur beklagen, das muß man anklagen! Selbst Konservative und Reaktionäre haben erkannt, dass ein Europa des Kapitals ante portas steht; eines mit protestantischer Frugalität ausgestattet - eines, das noch kapitaler kapitalistisch ist, wie es ja unter dem Lissaboner Vertrag ohnehin schon war. Ein sonderbarer Kapitalismus zudem, der das Sparen predigt - will er seinen Motor, den Konsum, abschalten und sich bescheiden als Eremit in die Berge zurückziehen?

Ich klage an, dass ich mit Gestalten wie Dobrindt in einen Kessel gerührt werde, obgleich der gegen eine kapitalistische Union von Europa natürlich wenig hat, wenn sie nur unter deutscher Regie und unter Abwendung von Schaden für das deutsche Steuerzahlervolk abgewickelt wird. Und ich fühle mich gedemütigt, mit Gruppen wie dem Bund der Steuerzahler "einer Meinung" gemacht zu werden - oberflächlich betrachtet jedenfalls.

Ich müsste sie auch anklagen, dass sie eine konservative und selbstgerechte Regierung wie jene des Kohl, wie einen Hort des Glücks aussehen läßt. Nur daran habe ich mich bereits gewöhnt. Die Politik im Kohl-Deutschland wirkt mit dem Wissen von den Zeiten, die nach ihm kamen, fast sozial und ausgleichend. Und der Vorgänger der Merkel, ein Sozialdemokrat immerhin, hat mit seinem asozialen Wirken Kohl auch schon zum Sozialisten verklärt...

Kann ich die Regierung nicht wegen Rufmord drankriegen? Ist es etwa kein Rufmord, wenn ich, wenn die politische Linke, mit ihren politischen Kontrahenten rhetorisch und medial zusammengebracht wird, um gegen die Absichten eines sich zersparenden Europas aufzubegehren? Ist es nicht eine Ehrverletzung, dass man als Linker auf das Bundesverfassungsgericht hoffen muß? Sicherlich verbindet die Gegner des ESM nur wenig, nur die Ablehnung - aber die Öffentlichkeit im Zeitalter der Oberflächlichkeit interessiert sich nicht für die jeweiligen Positionen der Gegner, sie sieht nur die Gegner und kategorisiert sie unter diesem Stichwort. So werden sie zu einem Brei. Und diese schlampige Betrachtung firmiert dann unter der Losung, dass sich Rechts und Links auflöse, weil sie nun mehr verbindet, als sie je trennte... so ein Unsinn!

Der Unterschied für mich: Rechte und Linke verfolgen hin und wieder, manchmal glaubt man gar, stündlich mehr, dieselben Ziele. Die Linke versucht diese "gemeinsamen Ziele" allerdings stets so zu verwirklichen, dass möglichst wenige Menschen, im besten Fall gar keine, hinten runterfallen; die Rechte hingegen nimmt in Kauf, dass Menschen auf der Strecke bleiben – das ist nicht ungewollt, denn die politische Rechte hegt ein Weltbild, in dem es Opfer, Ausgebeutete, Verdammte dieser Erde, um es mit Fanon zu sagen, geben muss. Wer machte sonst die Dreckarbeit, wer robbte denn weiterhin unter Tage und schürfte Ressourcen? Wer putzte Toiletten und hütete Kinder? Die politische Rechte wünscht diesen geschröpften Schicksalen sicherlich kein schlimmes Leid, kein Leben in Trauer – aber sie braucht nun mal Opfer, um das eigene Weltbild und die darin verbürgten Pfründe zu erhalten. Für die politische Linke ist dieses Zurücklassen von Opfern ein Sündenfall; lässt sie skandalöserweise doch Opfer bewusst zurück, wie dies bei New Labour und im Schröderismus geschehen ist, so verliert sie ihren elementaren Anspruch darauf, als linke Politik betitelt zu werden.

Ich fühle mich gedemütigt und schäme mich, dabei zu sein. Darin hat diese Regierung ja gut Übung. Man ist in merkelinischen Zeiten als progressiver Mensch geschult darin, auch Typen zu verteidigen, die einem politisch überhaupt nicht zusagen. Ich denke da an Wulff, den ich, obgleich links, obgleich weit entfernt von seiner Denke und seiner Klientel, irgendwie doch immer verteidigen wollte. Nicht weil ich dessen Mitnahmementalität lobenswert fand, sondern weil der Umgang mit ihm zum Kotzen war - ich hielt es ja auch für sowas wie Anstand, nicht in den Hohn- und Wutchor einzustimmen. So in etwa ist es doch jetzt auch mit den Gauweilers und Dobrindts und Steuerzahlerbündlern - im Affekt möchte man sie loben, aber wenn man genauer hinsieht...

Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der schwarz noch nicht weiß war und andersherum? Klingt so, ich gebe es ja zu. Ist es aber nicht! Sehnsucht nach einer Zeit, die nicht so oberflächlich begutachtete, die genauer hinsah, die nicht ständig nur in Kategorien dachte, um die Denkmechanismen und cerebralen Sortierprozesse zu simplifizieren - das trifft es eher! Dobrindt ist keine Wagenknecht und ich bin nicht die NPD, nur weil ich wie die den ESM für ein Ermächtigungsgesetz halte!

Ich klage an, dass diese Regierung und ihre Weigerungshaltung eine Politik zu gestalten, die sich am Allgemeinwohl orientiert, Zustände verfestigt, in der die allgemeine Oberflächlichkeit weiterhin widerstandslos grassieren kann. Ich klage an, dass diese Haltung mich persönlich angreift, weil sie mich in eine Opposition mit Typen schubst, mit denen ich nichts zu tun haben will. Ich klage an, dass Lobbyisten und Neonazis und Reaktionäre als Widerstandkämpfer und anständige und aufrichtige Charaktere gezeichnet werden können, weil man ihnen mit dieser Politik für Finanz- und Großkonzerne ein Betätigungsfeld schenkt, das eigentlich der politischen Linken vorbehalten war.

Wenn man es allen recht macht, weiß ein Sprichwort, dann hat man etwas falsch gemacht - wenn man es allen nicht recht macht, ist es bestimmt nicht besser...



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De dicto

Donnerstag, 26. Juli 2012

"Zwangsanleihen bei Reichen, die verzinst zurückgezahlt werden, sind als Lastenausgleich eine vernünftige Maßnahme."
- Michael Sommer, Interview in der BILD-Zeitung vom 25. Juli 2012 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Geld leihen, nicht einziehen! Zum Pfandleihhaus, nicht zur mehr steuerlichen Regulierung eines Gemeinwesens, das derart dereguliert wurde, dass es kaum mehr dem Verfassungsauftrag eines sozialen Staates gerecht werden konnte. Der Weisheit letzter Schluss ist es also, dass sich Geld zur Ankurbelung des Allgemeinwohls geliehen werden soll - höhere Abgaben ohne Rückzahlungsvereinbarungen verlocken offenbar nicht. Dieser Vorschlag stammt vom DGB-Vorsitzenden, von einem Gewerkschafter. Wenn selbst die nicht die Notwendigkeit sehen, die Ungleichheit durch gezielte Umverteilungsmaßnahmen zu mindern, dann ahnt man, wie weit die ideologische Bearbeitung bereits fortgeschritten ist. Die Aussage zeigt, dass die Arbeitnehmer von Funktionären vertreten werden, die gleichfalls die andere Seiten vertreten könnten, würde dort ein Posten frei.

Sommer will einen Staat, der sich Geld von denen leiht, die genug haben, um höhere Beiträge für die Gesellschaft zu leisten. Er will diesen Reichtum noch mehren, indem er ihn verzinst zurückbezahlt. Gleichwohl geißelt er immer mal wieder die Kluft, die sich zwischen Reichtum und Armut auftut, die immer gewaltiger wird. Diese Diskrepanz gilt es zu überwinden, wissen Gewerkschaften bei Maikundgebungen zu predigen. Eine Steuerpolitik, die den Reichtum in die Pflicht nimmt, starke Schultern durchaus stärker, vielleicht sogar sehr viel stärker belastet, ist das Mittel hierzu. Davon spricht Sommer aber wenig. Er will, dass sich der Staat das Geld leiht, das er den Reichen vormals geschenkt hat, als er Steuern senkte und Schlupflöcher einrichtete.

Mit geliehenen Geld will er die Krise in Europa bekämpfen. Mit dem Geld, das die Staaten Europas in ihrem neoliberalen Deregulierungswahn bewusst liegen und auf den Konten Vermögender vermodern ließen. Man sprach von verschuldeten Staaten und senkte gleichzeitig die Steuern, machte die sozialen Auffangmechanismen unbezahlbar und senkte nochmals Steuern und Abgaben, um Anreize für Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen zu setzen. Weniger Staat sollte es geben, was auch hieß: weniger Steuern. Und die Spitzensteuersätze kippten. Dieses fehlende Geld soll nach Michael Sommer nicht zurückgeholt werden, er will es nur leihen und dann verzinst zurückbezahlen, dem Geldkreislauf also wieder entziehen.

Wenn das der Bund der Steuerzahler oder ein Arbeitgeberverband vorgeschlagen hätte! Ja dann! Aber doch kein Gewerkschafter! Wie tief New Labour doch bereits verankert ist...



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Freundschaftsdienst als Protest

"Javier Bardem demonstriert in Madrid, Günther Jauch in Potsdam", titelt Deutschlands größtes Revolverblatt und schlussfolgert: "Protest-Promis"! Wie kommt man eigentlich dazu, den Snobismus Jauchs, den er in Potsdam exerziert, mit den essentiellen Protesten auf Spaniens Straßen zu vermengen? Wie kann man Jauchs Einsatz für die Kultur in Anführungszeichen, mit den vor Angst getriebenen Kundgebungen in Spanien gleichsetzen wollen?

Jauch geht es zu Potsdam um ein Kunsthalle, die inmitten seiner Stadt gebaut werden soll, die nun jedoch von einem Teil der Bevölkerung abgelehnt wird. Initiator ist der Milliardär Hasso Plattner, für dessen Institut Jauch schon tätig war, als er in Sachen "soziale Kompetenz" und "Erfolg" las. Klar, dass er da auf den Marktplatz geht, seine Prominenz in die Waagschale wirft für diesen alten Bekannten. Vielleicht hätte auch er etwas davon, wenn vor seiner Haustüre Plattner-Engagement stattfände; hin und wieder ein Motivationstraining für einen auserwählten Kreis, das wäre doch verlockend. Über etwaiges Salär spricht man nicht...

Bardem geht es zwar auch um Kultur. Er ist gegen die beabsichtigte Anhebung der Mehrwertsteuer, die auch den Kulturbetrieb empfindlich treffen wird. Aber er spricht sich gleichzeitig auch vehement dagegen aus, die Last der Krise auf die Schultern derjenigen fallen zu lassen, die nichts mehr stemmen können. Dass das Spardiktat Arbeitslose, Kranke und Rentner trifft, hält er für untragbar. Bardem marschiert mit den existenziellen Sorgen der Menschen, die Opfer der Sparauflagen werden sollen und schon sind.

Ist es irgendwie, selbst mit viel Phantasie, denkbar, dass ein Jauch für die Opfer neoliberaler Politik demonstrierte? Findet er die Privatisierungen im Gesundheitssektor nicht auch skandalös genug, um zu protestieren? Ist es ihm kein Bedürfnis, den ins Hintertreffen geratenen Sozialstaat demonstrierend zu verteidigen? Als er einst mitläuferisch Du bist Deutschland! fabulierte, sprach er im Rahmen eines Interviews von der Jammerei, die er gerade unter Arbeitslosen vernehme. Anpacken, nicht lamentieren, dann hievt man sich von alleine aus dem Tief, so sinngemäß seine Rede. Die existenziellen Nöte betroffener Menschen waren ihm scheißegal.

Wie kommt man dazu, Jauch nun mit Bardem gleichzusetzen? Was hat der Kultursnob mit dem solidarischen Künstler zu tun? Protest-Promis! Ha! Dieser Feststellung ist ja zum Schreien! Herr Jauch mag ja vieles sein, aber zu irgendeiner obskuren Riege von Protest-Prominenten gehört er sicherlich nicht - eher ist es ein Freundschaftsdienst, den er dem Plattner erfüllt. Er bekennt nicht Farbe gegen auferlegten Hunger und Zukunftsaussichten ohne Hoffnung; er will popularisierte Kultur in feiner Halle. Er gibt hierbei das Bild eines Intellektualismus ab, der darin besteht, arrogant die Geschehnisse der Welt unter dem Mief bürgerlichen Kulturbetriebs zu ersticken. Er demonstriert nicht - außer seine eigene Wichtigkeit.

Nichts, gar nichts haben diese beiden Herren gemeinsam, mögen sie auch noch so oft nebeneinander in einer Überschrift stehen...



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Karlsruhe nicht mit Hoffnung verwechseln

Mittwoch, 25. Juli 2012

Karlsruhe ist keine Opposition - das ist wahrlich richtig. Es scheint dieser Tage viel mehr zu sein als das, viel mehr als Kontrollinstanz. Das Bundesverfassungsgericht ist der Statthalter eines Staates, aus dem sich Regierung und Parlament verabschiedet haben. Karlsruhe ist vielleicht keine Regierung, durchaus aber Platzhalter und Korrektiv von einer Regierungsarbeit, die als solche nicht zu bezeichnen ist, weil sie sich strikt weigert, ihre Entscheidungen und Vorhaben an Grundgesetz, sozialen Anstand und Wahrheitsansprüche zu knüpfen.

Dass man sich in Baden der Republik annimmt, ist weder anmaßend, wie man manchmal im konservativen Feuilleton liest, noch ist es heldenhaft, wie das wiederum mancher Optimist verlautbart. Dass es so ist, hat sich einfach so ergeben - aus einer Haltung heraus, die pragmatische Schnellschüsse als Politik verkauft und die die Anpassung an Verfassungsstandards in Karlsruhe erarbeitet und nicht vorher schon in ausgiebigen Ausschüssen. Diesen teils asozialen, teils ignoranten Aktionismus nennt man engagierte oder unbürokratische Politik - und die landet dann in Karlsruhe.

Welche Gesetze wurden denn in den letzten Jahren nicht mindestens von Karlsruhe aus der Überarbeitung überstellt? Ganz ohne Bedenken ging es selten vonstatten. Und genau diese Bedenken sind es, die Karlsruhe für viele so nervig macht. Man kann in diesem Lande nicht mal in gepflegter Ruhe gewissenhafte Regierungsarbeit verweigern, nicht als Schattenregierung höherer Interessen walten, ohne dass die robierten Bedenkenträger ihren Senf dazu auf die armen Würstchen schmieren, die wir Minister nennen.

Das BVerfG ist die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Ohne Karlsruhe ist gewissenhafte, sprich: verfassungskonforme Regierungsarbeit heute nicht mehr denkbar. Es ist die heimliche Kapitale geworden. Und in der wird nicht so aktionistisch gearbeitet, nicht so übereilt verabschiedet und entschieden - was die Clique, die sich Regierung nennt, als einen Affront gegen das Gebot der Eile versteht und als unverantwortlich hinstellt.

Die Karlsbader Beschlüsse waren einst Maßnahmen zur Überwachung und Erstickung liberaler und nationaler Tendenzen - die Karsruher Beschlüsse sind heute überwachende Anweisungen, um zu liberale und zu nationale Tendenzen zu ersticken. Und was haben sie alles beanstandet und kassiert in den letzten Jahren. Arbeitsmarkt- und Sozialgesetze, Überwachungsgesetze, Asylgesetz... immer gibt es etwas zu korrigieren, immer gibt es etwas der Verfassungswirklichkeit anzugleichen.

Karlsruhe ist dabei keine Hoffnung; es ist ja nicht die Heimat des Sozialen und Gerechten, sondern einfach nur die Hauptwache des Grundgesetzes. Die Richter gehen nicht mit der Absicht heran, den Entrechteten und Benachteiligten Entlastung zu erteilen - sie legen Gesetzeswirklichkeit und Verfassungsideale übereinander, prüfen die Deckungsgleichheit, lassen aber auch mal Ränder stehen, weil Ideale ja nicht absolutistisch sein dürfen und sich Wirklichkeiten zuweilen nicht besser arrangieren lassen. In Karlsruhe sitzt nicht der passionierte Gerechtigkeitssinn dem Gerichte vor - das meint man dieser Tage nur oft, weil es das Gebilde, das noch als Regierung und Parlament firmiert, nicht schafft, verfassungskonforme Gesetze zu kreieren. Diese Unfähigkeit, die freilich keine ist, sondern Kalkül und die Erledigung der politischen Drecksarbeit, die das Großkapital einigen in Anzug gesteckten Typen zugewiesen hat... diese kalkulierte Unfähigkeit also, sie verklärt das Bundesverfassungsgericht nachhaltig. Denn neben einem Tölpel sieht jeder zwangsläufig wie ein gebildeter Mensch aus.

Es ist eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, wann eine Regierung die Karlsruher Beschlüsse wegwischt und dennoch durchsetzt, was sie für angebracht hält. Den stillen Verfassungsbruch hat man in der heutigen Zeit als politische Möglichkeit schon enttabuisiert - nur wenn die Richter ihn benennen, duckt man sich noch weg; irgendwann fällt auch dieses Tabu und man wird meinen, es sei zwar schade, wenn es so sei, aber da wir keine Alternative haben, müsse man eben mit gebrochener Verfassung leben. Denn die Politik muß sich schließlich wieder über ihr Primat bewusst werden - und das geschieht voraussichtlich nicht, indem sie Gesetze macht, die dem Geist des Grundgesetzes entsprechen; das geschieht, indem sie die Wacht über das Grundgesetz zur postdemokratischen Einrichtung macht, zu einer Institution, die es gibt, die bezahlt wird, die urteilen darf, deren Urteile aber als warme und unverbindliche Empfehlungen, nicht als Auftrag verstanden werden.



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Obergrenzen sind individuell festzulegen!

Dienstag, 24. Juli 2012

Wo ist eine Obergrenze für Managergehälter erreicht, mit der jeder - Manager wie Gesellschaft - leben kann? Der Markt regelt das ja nicht anständig, auch wenn einige orthodoxe Markt-V-Frauen diesen Quatsch gerne mehrmals wöchentlich vorbeten. Dabei wäre die Grenze ganz einfach zu bemessen. Die Obergrenze sollte schlicht dort sein, wo die Untergrenze der Überheblichkeit des einzelnen vermanagten Gehaltsempfängers beginnt. Diese kann freilich von Mensch zu Mensch, von Manager zu Manager variieren - diese Untergrenze, die die Obergrenze festmachen soll, gilt es zu ermitteln.

Seien wir doch mal ein wenig wissenschaftsgläubig - wir sind es doch sonst auch mit guter Laune! Und sei's drum, dass es sich um eine ungenaue Wissenschaft handelt. Wie genau eine Wissenschaft letztendlich ist, befehligen ohnehin diejenigen, die an sie glauben und sich nicht abbringen lassen von ihren Analysen und Resultaten. Unterwerfen wir einfach diejenigen einem ausgiebigen psychologischen Gutachten, die da oberbegrenzt werden müssen; eine Überweisung zu einem Psychologen, mit Vorliebe zu einem Verhaltens- und Tiefenpsychologen, um die Untergrenze der Überheblichkeit, der Arroganz, des Geltungsbedürfnisses und des Dünkels festzustellen.

Sie sollen sich seelisch entblättern; als Seelennackte vor einem stehen, der den monetären Schwellensatz zur Arroganz festlegt; sie sollen von sich und ihrer Herkunft erzählen, von Ereignissen aus ihrem Alltag - und endlich zum gläsernen Gehaltsempfänger werden. Das ist eine gar widerliche Vorstellung, ein Gedanke Huxleys vielleicht gar, aber in Zeiten, da man Sozialhilfeempfängern selbst noch in Unterhosen grapscht, um dort zwischen Hodensack und Schenkel geklemmte Geldbündel zu erhaschen, da ist die ärztliche Transparenzmachung eines Gemüts, welches gerne Millionen einsacken möchte, doch nur eine humane Vorgehensweise. Alles wissenschaftlich korrekt und mit Nutzen für die Allgemeinheit - das wird man doch wohl einsehen können!

Der Psychologe ist routiniert genug, um aus den Erzählungen seines Patienten, der ja auch Patient von uns allen, von der Gesellschaft nämlich ist, herauszufiltern, wess Geistes Kind dieser ist. Neigt er zu Geiz? Ist er angeberisch? Läßt er seinen möglichen Geldadel heraushängen? Rafft er? Oder schlimmer, rafft er für sich und spart bei anderen? Verklärt er die Nöte der Armut, weil sie seinen Reichtum bedeutet? Das sind Sachen, die man von jemanden wissen sollte, der für sich in Anspruch nimmt, ein besonders wichtiges Mitglied der Gesellschaft sein zu wollen - denn mangelt es daran, sind seine Qualitäten nur egoistischer Machart, so ist er eine Gefahr für die Allgemeinheit. Man möchte doch schon gerne wissen, wem man hohe Geldsummen überweist; man möchte doch die Grenzen kennen, wo aus einem Gehaltsempfänger ein Snob herauswächst.

Die eine Führungskraft übt bei 200.000 Euro Jahresalär schon Höhenflüge und spottet über den Bodensatz der Gesellschaft; andere sind bei einer Million Euro im Jahr noch relativ zugänglich für die Probleme ihrer Umwelt, für die Sorgen der Habenichtse. Daher brauchen wir keine universelle Obergrenze von Managergehältern - wir müssen individuelle Obergrenzen errechnen, auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnittene Obergrenzen. Sicherlich, es wird auch solche geben, die schon bei 10.000 Euro jährlich Oberwasser bekommen, weil es ihnen womöglich reicht, dass sie nun eine prestigeträchtige Position eingeheimst haben - dann sind eben 10.000 Euro schon zu viel für so einen Typen! Dann eben weniger oder gar nichts, damit er gar nicht erst auf die Idee kommt, sich für so einen Posten zu bewerben. Rücklagen wird er doch wohl haben, nicht wahr!

Wir sind heute dazu fähig, Menschen zu durchschauen - jeden Gewalttäter überstellen wir einem psychologischen Gutachter. Warum nicht auch jene Gewaltmenschen, die Arbeitsplätze zersetzen, den Sozialstaat zertrümmern und sich in gegönnter Dekadenz in Interviews ehrabschneidend über diejenigen äußern, die keinen ererbten oder erkorrumpierten Besitz auf der Habenseite haben? Und warum solche Gewaltmenschen erst dann auf die Couch schicken, wenn sie schon Gewalt verübt haben? Dann schon lieber vorher, dann schon lieber zuerst jene monetäre Untergrenze finden, die als individuelle Obergrenze dienen sollte, um der Überheblichkeit gar nicht erst zur Chance zu verhelfen...



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Sit venia verbo

Montag, 23. Juli 2012

"Ich wurde in der Nähe von Tripolis in einem Lager interniert, in dem man mehr unter Durst und Entbehrungen schlechthin litt als unter grausamer Behandlung. Ich will es Ihnen nicht weiter beschreiben. Wir Kinder dieser Jahrhundertmitte brauchen keine anschaulichen Schilderungen, um uns derartige Orte vorstellen zu können. Vor hundertfünfzig Jahren brachten Seen und Wälder das Gemüt zum Schwingen. Heute stimmen Lager und Gefängniszellen uns lyrisch. Ich überlasse die Ausmalung also vertrauensvoll Ihrer Phantasie. Fügen Sie nur noch ein paar Einzelheiten hinzu: die Hitze, die senkrecht herabbrennende Sonne, den Wassermangel, die Fliegen, den Sand." 
- Albert Camus, "Der Fall" -

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Der Richter beschnittene Vernunft

Freitag, 20. Juli 2012

Ich bin Atheist. Ich möchte nicht, dass man mir Religion aufdrängt. Aufgezwungene Religionsakte empfinde ich als Beleidigung an meiner Persönlichkeit. Religion darf keinen persönlichen, keinen körperlichen Schaden verursachen. Dennoch spreche ich mich dafür aus, die Beschneidung junger Männer aus religiösen Gründen nicht als Straftatbestand anzusehen. Wer dies im juristischen Eifer tut, wer dergestalt religiöse Akte unterbinden möchte, vielleicht auch, um die Religiosität als Lebensinhalt zu brechen, der züchtet sich keine profanisierten Bürger heran, sondern kriminalisiert Menschen, die sich unverstanden und in die Ecke gedrängt, sich ihren Gewohnheitsrechten beraubt fühlen. Sollte man meinen, mit der Entscheidung des Kölner Landgerichts würde man nun Muslime (und indirekt Juden) zu einer weltlicheren Sichtweise drängen, sie aus der muslimischen Gewohnheit und Tradition reißen, so dürfte eher das Gegenteil der Fall sein. So integriert man nicht, so exkludiert man. Nebenbei werden im Sinne ihrer Erziehung, Sozialisation und ihres Brauchtums unschuldige Eltern kriminalisiert.

Die Gründe, die zu einem Verbot der Beschneidung von Jungen führten, kann ich ja sogar nachvollziehen. Ohne Einwilligung den Körper eines Menschen anzutasten, ihn zurechtzustutzen und Teile, sei es selbst nur ein Häutchen, zu amputieren, ist vom rationalen Standpunkt aus nicht nur grenzwertig, sondern ein radikaler Eingriff in die körperliche Autonomie eines Menschen und daher tatsächlich zu hinterfragen.

Doch auch die religiöse Seite verstehe ich, so gut ich sie als Atheist überhaupt verstehen kann. Ich bin kein Maßstab für die Empfindungen, die ein gläubiger Mensch gleich welcher Frömmigkeit, für die Pflege seiner Kultur hegt. Ich kann mir nicht anmaßen, zu denken, weil ich so gottesleer, so religionsöde bin, könnten das andere auch erlernen, wenn sie sich nur nicht so anstellten. Die Haltung des Atheismus, wonach ebendieser eine fortschrittlichere Haltung sei als das Religiöse, ist nicht nur falsch, es ist schrecklich arrogant und entspricht dem entgöttlichten Selbstanspruch nicht. Homo homini deus - der Mensch sei des Menschen Gott, um frei nach Feuerbach zu sprechen. Das heißt für mich, dass der Mensch dem Menschen mit Respekt und Verständnis entgegentreten muß - egal, welcher Weltanschauung er anhängt; solange jedenfalls, wenn es sich um eine Anschauung handelt, die ethischen Kategorien entspricht und niemanden zu Schaden bringen will - auch wenn ich natürlich weiß, dass Religion immer auch zu Schaden geführt hat. Aber das hat der Atheismus letztlich auch und wird er in Zukunft weiterhin tun, wenn er diese Arroganz nicht ablegt gegenüber religiösen Menschen. Doch darum soll es an dieser Stelle nur peripher gehen; aus jener Überheblichkeit gegenüber religiösen Ansichten resultiert jedoch vermutlich das Urteil der Richter zu Köln - daher sei auf sie verwiesen. Ich will nicht hoffen, dass das Urteil der allgemeinen Islamophobie entsprungen ist, kann mich jedoch des Eindruckes nicht erwehren, dass dem so ist - als der Zentralrat der Juden in Deutschland eingriff, das jüdische Leben in Deutschland für beendet erklärte, da schwante den Richtern wahrscheinlich erstmals, was sie da verabschiedet hatten. Stimmt ja, Juden beschneiden ja auch...

Was weiß ich denn darüber, welche Seelenqualen jemand erleiden mag, der muslimisch oder jüdisch religiös ist und seinen männlichen Nachwuchs nicht beschneiden lassen darf? Das arbeitet in muslimischen oder jüdischen Eltern vielleicht so sehr, dass sie daran wirklich leiden müssen, dass sie zerbrechen. Selbstgefällig könnte man sagen, Stell dich nicht so an! Ist ja nur ein Stückchen Haut! - aber ich weiß doch nichts darüber, wie diese Menschen ihre Welt wahrnehmen, welche Gefühle sie haben, beim Betrachten einer Sache, die bei mir wiederum ganz andere Gefühle wachrütteln mag. Ich bin nicht der Zollstock für die Empfindungen anderer.

Es ist ja auch nicht so, dass die Beschneidung ein so grober, so archaisch brutaler Eingriff in die körperlichen Rechte eines Kindes ist, dass man wirklich von Verstümmelung sprechen müsste. Beschnitten werden Säuglinge und Kinder in allen Kulturen mehr oder weniger. Das britische Königshaus trägt seit der viktorianischen Epoche keine Vorhaut mehr - die englische Oberschicht tat es ihm gleich. Und hätten jene Juden, die sich damals als messianische Sekte vom Judentum abgrenzen wollten, jene, die sich Christen nannten, vermehrt an Vorhautverengung gelitten, so hätten sie die Beschneidung als Unterscheidungsmerkmal zum Judentum, das sie in seiner damaligen Form überwinden wollten, niemals getilgt - sie wären beschnitten geblieben und wir, das christliche Abendland und die Kölner Richter, wären es vielleicht heute noch. Die Tragik des Gerichtsurteils, so könnte man polemisch sagen, ist es, dass die Phimose kein Massenphänomen jener neutestamentarischen Zeiten war - vielleicht hätten sich die jungen Christen zur Unterscheidung, als Initiationsritual quasi, dann dazu entschlossen, als Zeichen ihrer Abkehr vom Judentum, etwas anderes zu tun, wenn sie auf die Beschneidung schon nicht verzichten können. Vielleicht hätte das Kölner Landgericht dann heute darüber befinden müssen, ob man es verantworten könne, männliche Säuglinge nur deshalb nicht beschneiden zu lassen, weil der egoistische Selbstverwirklichungstrieb mancher Eltern sich dagegen versperre.

Nein, der Eingriff ist, wenn man es sich als Mann so vorstellt, natürlich schon dergestalt, dass man sich unbewusst in den Schritt fasst, instinktiv sein Glied schützen möchte - aber mit etwas Vernunft betrachtet, ist er doch relativ harmlos und unter hygienischer Ausführung so gut wie folgenlos. Wenn sich Eltern dazu entschließen, ihrem Jungen aufgrund einer Phimose beschneiden zu lassen, mag das ein medizinischer Anlass sein. Aber hätte nach Lesart des Kölner Landgerichts nicht die absolute Autonomie über den Körper zu entscheiden? Wäre die Beschneidung statthafter, wenn des Jungen Eichel nicht freiliegen kann, weil die Vorhaut nicht oder nur unter Schmerzen zurückgezogen werden kann? Oder reichte nicht auch die konservative Methode, zu salben und zu dehnen also? Entschieden sich Eltern für die operative Variante, weil sie sicherer und weniger zeitaufwändig wäre, würden sie sich nicht im Sinne des Kölner Landgerichts schuldig machen? Wahrscheinlich würden es da eine Ausnahmesituation einräumen, weil man aus Gründen einer medizinischen Maßnahme "verstümmelte". Ist es aber nicht auch eine Form medizinischen Aktes, wenn man prophylaktisch beschneidet, wie es Moslems und Juden ja eigentlich tun? Hygienischer soll es ja sein; man soll sich so einige Infektionen sparen, die man als männlicher Mensch so kriegen kann.

Manche Verteidiger der Beschneidung loben diesen Eingriff auch, weil er so rücksichtsvoll gegenüber den späteren weiblichen Sexualpartnerinnen dieser beschnittenen Jungs sein soll. Denn beschnittene Geschlechtspartner, so will es die Legende, minimieren den Gebärmutterhalskrebs - dabei bezieht man sich auf eine Studie aus den Fünfzigerjahren, bei der man glaubte festgestellt zu haben, dass Frauen von jüdischen Männern seltener an dieser Form des Krebses erkrankten. Spätere Studien konnten diese Ergebnisse nicht bestätigen und kassierten sie wieder. Doch das Gerücht hält sich wacker. Ich finde jedoch, man kann Pro und Contra nicht an Nutzerscheinungen festmachen, so argumentieren nur Kaufleute - ein Dafürhalten bei einem solchen Eingriff kann nicht damit erklärt werden, denn mit derselben Logik könnte man Kastrationen rechtfertigen, wenn sich dadurch Erbkrankheiten vereiteln lassen würden. Die Beschneidung als funktionellen Akt herauszuputzen, ist letztlich die Kehrseite jener Medaille, die einst andere Eingriffe am Individuum erlaubte, weil sie angeblich dem allgemeinen Volkswohl dienten.

Manchmal gibt es Situationen, in denen man beide Seiten verstehen kann. Kritikern und Befürwortern verständig gegenübersteht. Und dann kann man sich als Neutraler zurückziehen und so tun, als ginge es einen nichts an. Wenn aber eine Entscheidung her muß, dann wägt man ab. Ich tue des insofern, dass ich die Beschneidung von männlichen Säuglingen und Kindern nicht kriminalisieren würde, auch wenn sie einen ungefragten Eingriff in die körperlichen Rechte des Kindes darstellen. Die Gründe sind hierbei ganz gesellschaftspragmatisch. Um den religiösen und gesellschaftlichen Frieden zu wahren, um kulturelle Vielfalt zu erhalten, um die betroffenen Familien vor Kriminalisierung und Stigmatisierung und inneren Dilemmas zu schützen. Es ist weniger Leid für einen beschnittenen Jungen, als es Leid für die religiöse Kultur und für die Elternwelt innerhalb dieser Kulturalität wäre. Wenn man überhaupt von Leid sprechen kann, denn wer nie mit Vorhaut lebte, wird vermutlich nichts vermissen. Die Vorhaut ist kein elementarer Bestandteil männlichen menschlichen Lebens - das Trauma, das Gegner der Beschneidung, den Jungen nun lebenslang anhängen wollen, dürfte kaum der Wirklichkeit entsprechen; wahrscheinlich ein pseudo-freudianischer Affekt, der in der erlebten Entfernung der Vorhaut irgendwas wie ein Auslösen sexuell unbewusster Verlustängste hineininterpretiert; der dekapitierte Phallus als Symbol für ein gebrochenes Männerleben...

Das Urteil des Kölner Landgerichts mag juristisch nachvollziehbar sein - unter gesellschaftlichen Aspekten, unter Gesichtspunkten des Zusammenlebens, der Pflege von Brauchtum und Kultur, ist es das sicherlich nicht. Die Richter litten möglicherweise selbst an einer Beschneidung - der ihrer Vernunft nämlich...



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In schlechter Verfassung

Donnerstag, 19. Juli 2012

Verfassungen läßt man sich am besten nach gigantischen Leiden schreiben. Nachdem ein großer Teil der Bevölkerung und ihrer Delegierten am eigenen Leib erlebt haben, wie es ist, existenzielle Sorgen zu erleiden, am Rande des Todes, mitten in Hunger und Schutt zu vegetieren. Das traf für die Väter der Weimarer Verfassung teilweise, für die Eltern des Grundgesetzes gänzlich zu. Nur in solchen Phasen beatmet man eine Konstitution mit humanistischem Geist - zu wissen, wie es ist Mangel zu leiden, ist die Grundvoraussetzung dafür, eine Verfassung mit sozialen Komponenten zu bestücken.

Aus diesem Grunde ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, wie man das derzeit liest, nicht wünschenswert - zwar ist der Neoliberalismus Krise und Leiden für viele Menschen, aber als Grundgefühl für eine neuen Verfassung taugt der sicher nicht.

Für eine neue Verfassung geht es den potenziellen Verfassungseltern viel zu gut

Immer mehr Menschen kommen dieser Tage zwar in Bedrängnis, leiden Mangel, erleben eine schlechtere Gesundheitsvorsorge, werden ihrer Zukunftsaussichten beraubt, erfahren was es bedeutet, nicht zu wissen, was man am nächsten Tag isst. Doch ausreichend ist diese Notlage vermutlich nicht, um es als Massenerfahrung eines ganzen Volkes, einer Bevölkerung zu deklarieren. Ohnehin geht es dem gesellschaftlichen Teil, der zur Ausarbeitung einer Verfassung herangezogen würde, immer besser. Woher sollte er die Sensibilisierung dazu erworben haben, ein Rechtsdokument zu entwerfen, welches die Belange aller Gesellschaftsgruppen erfasst und somit alle Interessen befriedigt? Welches Interesse könnte der Reichtum daran haben, einen Sozialstaat verfassungsmäßig zu garantieren? Wegen dem sozialen Frieden etwa? Um den herzustellen, scheint es, braucht es keine Umverteilung mehr, sondern nur dumpfe Medienunterhaltung - vielleicht baut man ja das Recht auf Zerstreuung auch als Artikel ein.

Nach einem Krieg stehen wir ja nicht, so wie das schon zweimal der Fall gewesen ist. Düster eigentlich, wenn es eine Gesellschaft nur in Zeiten absoluten Niedergangs vermag, Normen zu verabschieden, die integrativ wirken, die Teilhabe und Umverteilung sichern sollen. Rechtsnormen aber, die Reichtum in die Pflicht nehmen und Armut integrieren, sind nicht in Zeiten Kassenschlager, da sich derselbe Reichtum immer reicher macht - auf Kosten der Armut.

Wer soll uns denn welche Werte vorverfassen?

Die Weimarer Verfassungsväter und die Eltern des Grundgesetzes konnten auf Werte zurückgreifen, die in der unmittelbar vorherigen Zeit mit Füßen getreten wurden. Die Abwesenheit von Idealen machten diese Ideale ja gerade so augenfällig. Man konnte daher in der Verfassung festhalten, dass bestimmte Ideale unbedingt notwendig seien, gerade weil sie ja abwesend waren. Sollte sich dergleichen nie mehr wiederholen, so müsse die Verfassung nicht nur Ordnung sein, sondern auch Verhaltens- und Sittenkodex einer Gesellschaft. Gerade dem Grundgesetz ist das - mit Abstrichen und bei aller Kritik - blendend gelungen. Auf was sollten wir heute denn bitte Rückgriff nehmen, wo uns doch täglich vorgemacht wird, dass Werte sich nicht mehr lohnen. Eine Zeit, die fremde Kulturen und gesellschaftlich Ausgeschlossene wie Bodensatz behandelt, kann keine universellen und zeitlosen Ideale mit humanitärer Grundlage zum Verfassungsauftrag machen - da spielt schon die neoliberale Elite nicht mit.

Es ist nämlich nicht so, dass wir keine Werte mehr hätten - das wäre vielleicht einfacher, dann könnte man sagen, dass es an diesen mangele und wir denen zukünftig Verfassungsrang einräumen sollten, wenn wir eine bessere Gesellschaft werden wollen; es ist eher so, dass wir eine Umwertung aller Werte erleben - und wenn man schon mal eine Verfassung schreibt, warum nicht gleich einbauen, warum nicht übernehmen, was zu einem Lebensgefühl wurde?

Profitismus und Marktkonformität wären vielleicht so umgewertete Werte, die Einzug fänden. Und wer solcherlei Werte einbaute, dürfte klar sein: Denkfabriken und Arbeitgeberverbände, die sich in den Konvent drängten, die die Parteien schmieren und unterwandern würden. Und welche Partei hätte sich in den letzten Jahren als so sehr humanistisch, so sehr sozial hervorgetan, als dass man hoffen könnte, sie würden einer neuen Verfassung den Sozialstaat aufzwingen? Die Hartz IV-Eltern etwa als soziale Verfassungsschmiede? Da wird einen ja ganz flau im Magen! Entschlösse man sich heute, bei diesen Eliten, bei diesem Zeitgeist für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, dann wäre der Sozialstaatsgedanke wohl perdu.

Ganz oder gar nicht

Wenn der Populismus rund um eine mögliche verfassungsgebende Versammlung jetzt kundtut, er würde den neuen Text gerne dem Volk vorlegen, dann klingt das stark demokratisch. Dabei bleibt allerdings nur die Möglichkeit, entweder Ja oder Nein zu sagen - über einzelne kritische Punkte kann jedoch nicht befunden werden. Das Volk hat die Wahl, eigentlich so gut wie keine Auswahl zu haben. Ein gestalterischer Volksentscheid, in dem über einzelne Passagen befunden werden könnte, wird kaum geplant sein. Der wäre organisatorisch kaum zu bewältigen und auch viel zu teuer. Nicht wegen dem Papier und dem Druck und dem Versenden und Organisieren und Auszählen - er käme teuer, weil unter Umständen doch Aspekte in die Verfassung einflössen, die im Rohentwurf nicht vorgesehen waren, die die neoliberalen Verfassungskonstrukteure absichtlich weggelassen haben würden.

Überhaupt: Sollten nicht auch Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die aber schon lange hier leben, darüber befinden dürfen, welche Verfassung das Land haben soll, in dem sie schon lange leben und weiterhin leben werden?

Und wer sollte eigentlich kritische Stellen im Verfassungstext dem Volke nahebringen? Wer sollte aufklären, was diverse Verfassungsartikel bedeuten, welche Folgen sie hätten, wie sich das Leben im Geltungsbereich dieser Verfassung veränderte? Etwa RTL? Oder die BILD-Zeitung? Vielleicht Publizisten, die "Im Zweifel links" als Motto nennen, um ihr New Labour-Linkischsein auszutoben? Erklärt uns dann die INSM oder der Bund der Steuerzahler, was die dem Volk angebotene Verfassung bedeutet? Alle anderen, was werden die dann sein? Nörgler und Schwarzmaler etwa?

Das Grundgesetz ist als staatlicher Fürsorgeauftrag deutbar

Wir brauchen keine neue Verfassung - das Grundgesetz reicht aus. Wir müssen nur darauf achten, dass es als das gelesen wird, was es ist. Als ein Leitfaden für eine bessere Gesellschaft, als ein Wegweiser des Nie wieder!-Gedankens nach dem Krieg. Der Sozialstaat ist darin nicht fixiert, weil es ein Gnadenakt der Eltern des Grundgesetzes war, sondern weil man erkannte, dass allgemeiner Frieden nur durch Teilhabe, nur durch Umverteilung und Inpflichtnahme des Reichtums hergestellt werden kann. Aber genau diese Gefahr, dass der Neoliberalismus in Deutschland eine Schrift beachten muß, die man auch als staatlichen Fürsorgeauftrag deuten kann, ist es doch, die eine neue Verfassung für jene so verlockend macht. Die soll dann eindeutiger sein, bestimmte Aspekte gleich ganz weglassen, damit die Schrift nur auf neoliberale Art lesbar ist...



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Dem Ende entgegen

Mittwoch, 18. Juli 2012

Die Demokratie ist verdammt nochmal nicht nur einseitig in Gefahr! Nicht nur die Politik, diese Erweiterung der Wirtschaft mit anderen Mitteln, ist Gefährder. Das sollte man schon mal deutlich sagen! Der Blick fällt auf allerlei Stimmungen in diesem Lande - und alle sagen sie einem: Das Demokratische ist aus der Mode. Sagen sie einem: Wir haben das lange genug gehabt, funktioniert hat es nicht. Hat mehr Probleme bereitet als Segnungen gebracht, Entwicklungen erschwert und Rechtslagen verkompliziert, weil sie Rechte und Ansprüche verteilte, wo man aus rationalem Gespür heraus etwas zögerlicher mit Rechten und Ansprüchen hätte um sich schmeißen sollen. Weil man nicht nur den Leistungsträgern Rechtsansprüche schenkte, sondern auch all den anderen Kreaturen, die eine Gesellschaft so abwirft. Das Demokratische scheint nicht nur für das big business und seine Handlanger ein Wuchs zu sein, den man auf Marktkonformität kupieren muss, sondern generell in einem schlechten Ruf zu stehen.

Ein Volk, ein Streich, Verführer

Sicher, da sind Tendenzen und Pläne aus dem mandatierten Flügel der Wirtschaft, den wir der Einfachheit halber gerne Politik oder Regierung nennen. Da sind die Entdemokratisierungsversuche in Inland und Europa, ESM und Troika-Überwachungen, der Merkelismus - und man jammert über die Demokratie, die den Fortschritt hemmt. Man bedauert öffentlich, dass der Wähler leider Wahlen entscheide und nennt deren Urnengang zuweilen Tyrannei der Masse. Es simmert zweifelsohne ein antidemokratischer Dünkel und Elan vor sich hin - nicht speicheltropfend aggressiv, sondern beredt und vernünftelnd köchelt dieser trübe Sud vor sich hin und schwappt immer wieder mal über.

Die Klasse der mandatierten Widerdemokraten wirkt als Verführer, sie macht den Streich gegen zu demokratische Verhältnisse zu einem Faible der bürgerlichen Mitte. Die plädiert mehr oder weniger offen für den Abbau von Bürgerrechten bei Straftätern, Kriminellen oder Terroristen. Sie findet nichts Verwerfliches daran, Arbeitslosen weniger Sozial- und Bürgerrechte zukommen zu lassen. Ausländern wird die Gleichheit als demokratisches Kriterium nicht gerne zuerkannt, denn ohne Integration keine Belohnung. Man sähe gerne Rentner wahlentrechtet und Jugendliche diszipliniert - Kinderreichtum oder Kinderlosigkeit sollte irgendwie gesetzlich reglementiert werden, die goldene Mitte des Kinderkriegens ist das Ideal. Gegen die Überwachung hat man wenig, man hat ja doch nichts zu verbergen. Und Demokratie sei etwas, was sich die verarmten Südeuropäer derzeit nicht leisten könnten, womit ein hartes Diktat seine Berechtigung habe.

Künstler aller Couleur bekennen sich zu nichts. Keine Gestalt des öffentlichen Lebens, die stur auf Demokratie schaltet und dafür Einsatz zeigt. Allgemeine Unzufriedenheit herrscht nicht mit dem neoliberalen Kurs, der im Parlament sitzt und aus Vorstandsbüros instruiert wird - sie herrscht mit der Demokratie. Sie verwechselt man mit einer Ideologie, die das Demokratische pervertiert und missbraucht hat für Zwecke, die ins Diktatorische weisen. Nicht der Extremismus gefährdet die Demokratie - es ist die Mitte, die sich vor Veränderungen fürchtet und den halbwegs noch erhaltenen Wohlstand sichern möchte, gerne auch mit einer Abkehr von der Demokratie, wenn es nötig wird.

Der Sinn steht nach mit der Demokratie unvereinbaren Normen

Wie zwischen den Kriegen scheint es ein Drängen auf starke Führung zu geben, das Vertrauen in demokratische Strukturen verwischt - es scheint abermals eine Zeit heraufzuziehen, die fruchtbar ist für Trommler und Schreihälse, für halbesoterische Heilslehrer und Blender. Die Parolen dürfen nur nicht gegen die Strippenzieher der Macht gerichtet sein, denn das wäre dann Neiddebatte und Sozialismus und darauf steht der Demokratieskeptizismus genauso wenig, wie einst der Demokratieenthusiasmus als Gegenentwurf zum Sowjet-Kommunismus. Der Niedergang der Demokratie ist nicht ausschließlich das Produkt der Herren und Wächter der amtierenden Wirtschaftspolitik - sie ist das Fabrikat einer Gesellschaft, die sich von dieser Ökonomie je und je korrumpieren und kaufen und schmieren ließ. Geiz ist geil! spart nicht nur Cent - es ist auch über Umwege ein Geiz an den Werten und Idealen demokratischen Zuschnitts, es ist Knauserigkeit am Grundgesetz. Zwischen den Mühlsteinen des Konsumismus und Profitismus hat es die manchmal sehr frugale Besonnenheit der Demokratie nicht einfach - sie bereitet wenig Freude und ist nicht immer rentabel; sie gestattet schlechten Menschen Rechte und sie kostet Geld. Ein offenbares Verlustgeschäft für Menschen, die in einer Gesellschaft sozialisiert wurden, in der man Kosten mit Nutzen verrechnete...

Demokratische Normen und das Pathos, das die Demokratie theoretisch verströmt, sind nicht die Direktiven dieser Zeit in Zäsur. Der Sinn steht heute mehr nach Rache, nach Vergeltung, nach Etwas-sein-in-der-Welt, nach Besser-sein-als-andere-um-jeden-Preis, nach Sündenböcken und Zielscheiben, nach Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit, nach Arroganz, nach Härte gegen sich selbst und noch härtere Härte gegenüber anderen. Man-muß-da-mitleidlos-sein-Rhetorik und verrohte Sprache sind auf dem Vormarsch; Schlachten allerorten: Merkel zieht bei EU-Gipfeln in Aufmachern in die Schlacht, die DFB-Elf auch - und der Bundespräsident hält Friedensliebe für Glückssucht. Teilhabe ist Luxus! ist Parole, Rückanpassung auf angeblich vernünftigere Standards sind erwünscht. Viel Befreiungsgequatsche, vornehmlich von Steuern, macht sich breit. Der Sinn steht nach Abgrenzung zu anderen, nach mehr Rechtsansprüchen für einen selbst und weniger Rechte für andere, nach Eiseskälte und Herzfrost. Der Sinn steht danach, das demokratische Zeitalter endgültig zu beschließen...



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Facie prima

Dienstag, 17. Juli 2012

Heute: Der ertappte Konservative, derzeit Stefan Mappus

Von Zeit zu Zeit geschieht es doch, dass der anständige Teil des politischen Alltags, irgendein Protagonist dessen, was man heute so humoristisch Konservatismus nennt, dabei ertappt wird, wie er sich Vorteile verschafft. Dann ermittelt die Justiz gegen ihn - wie aktuell im Falle Mappus'. Vergleicht man die Bebilderung von konservativen deutschen Affären und ihren Mimen, so wird augenfällig, dass es entstellte Fotographien, unvorteilhaft abgelichtete Konterfeis oder Aufnahmen, die den Beschuldigten die stereotype Mimik eines Verbrechers verleihen, nicht gibt. Die gibt es nur für Politiker unliebsamer Parteien oder Anschauungen - oder für Fälle, die die Medien emotional ausschlachten, wie im Falle Strauss-Kahns beispielsweise.


So lächelt ein teils fröhlich wirkender, teils visionär glotzender Mappus aus der Presse. Er wirkt keineswegs angeschlagen, sondern versucht sich als Staatsmann, vermittelt Seriosität und Anstand. Der Betrachter wird noch vor dem Lesen des Artikels dazu verführt, mit der Person Mappus etwas Positives zu verbinden; eine übel gaffende Gaunermimik bewirkte das Gegenteil, würde schon vor Erlesen der Sachlage schuldig sprechen. Als vor über einem Jahr Guttenberg ertappt wurde, verhielt es sich ebenso. Auch er Mann des Konservatismus, fand hübsche Bebilderung - kein Bild von ihm, das ihn unvorteilhaft wie einen Betrüger hätte hinstellen können. Stattdessen ganz Mann des Lächelns, dynamisch aufgeladen, wie im hier gezeigten Bild, das einen Artikel flankierte, der sich seinerzeit mit des Freiherrn Betrug befasste. Guttenberg ist schnellen Schrittes, sein Stab eilt mit. Hier soll suggeriert werden, dass dieser Mann, auch wenn er wahrscheinlich betrogen hat, doch weiterhin Qualitäten besitzt. Er ist so voller Energie, voller Tatendrang, dass ihn selbst seine Mitarbeiter kaum halten können. Ein solcher Mann kann zwar schuld sein - das bedeutet aber nichts, denn fehlbar sind wir alle. Ein konservativer Politiker bleibt anständig, auch wenn er unanständig war. Er bleibt immer noch die beste Wahl.

Anders verhielt es sich bei Klaus Ernst, als gegen ihn wegen Untreue und Betrug ermittelt wurde. Private Flüge soll er über den Bundestag abgerechnet haben - und dazu reicht man uns ein Bild, auf dem Ernst wie ein Imperator zu sehen ist. Ausgestreckte Hand, als wolle er sagen, Ich war es! und So hoch bin ich auf eure Kosten geflogen! Dazu unvorteilhafte Gesichtszüge, die ins Antlitz erstarrte Gier scheint seine Körpersprache noch zu verstärken. Was für ein windiger Kerl!, soll der Leser sich sagen, bevor er sich mit den konkreten Vorwürfen befasst hat. Ernst ist bildlich schon seiner Schuld überführt. Ein neutrales Bild hätte die Ermittlungen gegen seine Person neutralisiert.


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Nein zu FRA!

Montag, 16. Juli 2012

Die Region Rhein-Main erleidet derzeit eine Plakatkampagne der Initiative "Ja zu FRA!", die von der Lufthansa, Fraport und Condor getragen wird. Ihr Ziel ist es, die Landebahn Nordwest des Frankfurter Flughafens aus der Kritik zu nehmen und weiteren Ausbauprojekten vorzubauen. Der Tumult um Fluglärm, den die Anrainer ertragen müssen, soll durch die Plakataktion eingedämmt werden. Dabei wird gut sichtbar, wie solcherlei wirtschaftliche Initiativen vorgehen: Sie machen den Kritiker der Zustände untragbar, weil der scheinbar gegen jede ökonomische Vernunft polemisiert.

Jedes der Plakate kennt nur eine Stoßrichtung: Der Frankfurter Flughafen ist gut zu uns - er sichert uns wirtschaftlichen Wohlstand; macht die Hotelbetten der Region voll, leert Restaurantküchen und macht Taxifahrer weniger einsam. Ohne den Flughafen suchte Sicherheitspersonal auch nicht nach Sprengstoff - und Hasso nicht nach Kokain. Er sichert Wohlstand, besser gesagt: Beschäftigung, denn das Heer an Niedriglöhnern, das auf dem Flughafen arbeitet, kommt natürlich auf den Plakaten nicht zur Geltung. Eine Win-Win-Situation also; ohne den Flughafen gäbe es keine Beschäftigung, würde die Armut blühen. Und ein Ausbau des Flughafens, so impliziert die Initiative, würde noch mehr Menschen daran teilhaben lassen. Weitere Landebahnen bedeuteten noch mehr gefüllte Restaurants, noch mehr volle Betten und noch mehr Freier für Frankfurts Milieu. Wachstum macht Wohlstand...

Vom Lärm, den die Anlieger erleiden müssen, liest man auf den Azurplakaten nichts. Die Protestbewegung und die gesundheitlichen Folgeerscheinungen, die über die Kranken- und Pflegekassen sozialisiert werden, werden totgeschwiegen. "Ja zu FRA!" sieht nur die wirtschaftlichen Vorteile - allgemeine Nervosität, Schlaflosigkeit, Schwerhörigkeit, chronisch erhöhter Blutdruck, Magengeschwüre, Herz-und-Kreislauf-Probleme und Infarkte, und somit in letzter Instanz auch der Tod, werden als Motive zu einer drastischen Einschränkung der künftigen Bauvorhaben und weiterer Reglementierung der Flugzeiten, nicht zugelassen.

Bei den Legionen an Beschäftigten, die der gute Flughafen und seine segenspendenden Landebahnen versorgen, ist natürlich derjenige, der Kritik am Lärm, an der politischen Unterstützung des Ausbaus und der Arroganz der Betreiber, nicht nur ein Nörgler, er ist außerdem missgünstig und unvernünftig. Schließlich nimmt er in Kauf, dass wirtschaftliche Einbußen erfolgen; immerhin fordert er ja, dass weniger Ausbau und weniger Flugzeiten wahr werden, womit es weniger zu tun gäbe, man also weniger beschäftigt wäre - der Kritiker des Fluglärms wird so zum Wohlstandsneider, zum Dieb, zum Befürworter steinzeitlicher Strukturen, weil er nichtige Kollateralschäden der Beschäftigung vorzieht.

"Ja zu FRA!" sagt als Plakatkampagne nicht, dass der Frankfurter Flughafen wirtschaftlich wichtig ist - es sagt, dass man unvernünftig und dumm ist, wenn man nicht dazu bereit ist, für diesen wirtschaftlichen Erfolg Opfer in Kauf zu nehmen. Der Kritiker wird unmöglich gemacht, weil er sich nicht strikt zur wirtschaftlichen Bedeutung bekennt. Priorität hat das Wirtschaftliche zu haben - das Allgemeinwohl, von dem ein großer Teil die Gesundheit ist, hat nur dahinter zu stehen. Dabei wäre Allgemeinwohl viel mehr als nur die Summe wirtschaftlicher Aspekte...



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Weitere Eindrücke aus soetwas wie Heimat

Freitag, 13. Juli 2012

Ich lebte in einer Struktur, die absolutistisch katholisch sozialisiert war. Nicht praktizierend katholisch, betend, gottesdienstlich versiert - nein, nur sozialisiert. Und auch nur in dieser Sozialisation war jener Katholizismus absolutistisch - seine irdische oder auch himmlische Macht hatte er schon lange verloren. Der Katholizismus, konfessioneller Hegemon in Bayern, wirkt bis heute in alle Lebensbereiche hinein. Nicht mal besonders penetrant - doch er hat über Jahrhunderte die Denk-, Fühl- und Umgangsweise der Menschen miteinander beeinflusst und geformt. Ich kam aus einer Struktur, die den Islam in dieses Geflecht einbaute, weil er kein wesentlicher Fremdkörper war, sondern gewiss ganz gut ins "katholische Konzept" passte. Nicht alles davon - aber vieles. Was Politiker aus der CSU an aufgestauten Aggressionen gegen den Islam ablassen, deckt sich mit der Lebenswirklichkeit im katholisch Sozialisierten eher selten. Jedenfalls passt das Islamische besser in katholisch sozialisierte Strukturen als in protestantisch beschulte. Das merke ich jetzt, da ich in einer eher protestantisch formierten Gegend lebe, besonders stark.

Es soll hier keine Verherrlichung stattfinden. Weder das Katholische noch das Islamische ist ausgesprochen paradiesisch; nichts von beiden in Reinkultur empfinde ich für besonders attraktiv. Man muß schon viel Phantasie aus seiner Kindheit übrig behalten haben, um die jeweiligen aufgeheiligten Schriften für bare Münze nehmen zu können. Jedoch hat beides Strukturen hervorgebracht, die so tödlich wie lebensbejahend waren, so kriegerisch wie pazifistisch, so fürsorglich wie gefühlskalt. "Die Christenheit, die Christenheit. Sie hat gute Krankenschwestern hervorgebracht und ebenso tüchtige Mörder", schrieb Dürrenmatt in Der Verdacht - er hat vergessen hinzuzufügen, dass das für das Islamische gleichfalls gilt, jedoch für das Protestantische, das ja auch Christenheit ist, teilweise nicht so stark. Der hatte statt Nächstenliebe calvinistische Prädestination zu bieten - man merkt das teilweise bis heute; aus dieser Tradition entspringt manche protestantisch dressierte Region. Stammlande des neoliberalen Lebensentwurfes, nannte ich das unlängst - die Lehre von der Auserwähltheit als Heilsagenda für alle, als Massenartikel: das ist die neoliberale Folgeerscheinung Calvins und seiner Parteigänger.

In gewissem Sinne wohnt auch jenen Moslems, die nicht nach Allahs Geboten leben, die aber doch islamisch sozialisiert sind, die Umma inne. Dieser gemeinschaftliche Gedanke, der Rücksichtnahme und Fürsorge begründet, der familiäre und freundschaftliche Bande stärkt und die Hilfe an Schwachen für ein göttliches Gebot hält, findet sich bruchstückhaft durchaus in katholisch beschulten Gegenden auch. Manchmal mit religiösen Tand nebenher, manchmal auch ohne. Im Protestantischen scheint dieser Halt durch die Prädestinationslehre gänzlich verhunzt - und natürlich, bevor Einwand kommt: auch im Katholischen hat die programmatische Egomanie unserer Zeit schon lange Anhänger gefunden.

Gleichwohl gehen einer Gegend, die doch seit Jahrhunderten protestantisch ist, Attribute ab, die man vielleicht andernorts noch kennt. Es fehlt eine gewisse Demut, was als Freiheit eines Christenmenschen definiert wird und die schließt manchen Egoismus und manche Ich-Bezogenheit mit ein - das ist nicht grundsätzlich schlecht, denn sich selbst leiden zu können, sich selbst Gutes zu wünschen, ist Grundlage dafür, auch andere zu schätzen, ihnen Gutes zu wollen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, rührt als biblisches Bonmot aus dieser Einsicht. Nur ist dieses Hier stehe ich, ich kann nicht anders! in extremo dann das Gegenteil dessen. Der Katholik kniet sich hin vor seinen Gott - der Protestant tut das nicht, er ist mit seinem Gott auf Augenhöhe; er persifliert somit ungewollt Meister Eckhart und dessen Aufzäunung von hinten, dass nämlich Gott nichts wäre ohne ihn - was feuerbachianisch und atheologisch betrachtet auch richtig ist. Nicht falsch verstehen, ich verlange keinen Kotau vor einen Gott, den es vermutlich gar nicht gibt. Nur habe ich da manchmal den Eindruck, dass diese mangelnde Ehrfurcht das Protestantische dazu verleitet, sich selbst als die Göttlichkeit auf Erden zu betrachten. Es ist nämlich durchaus ein Unterschied, wie der Katholizismus mit der modernen Welt umgeht und wie es die Evangelischen Kirche in Deutschland tut. Lehnt das Katholische drastische Eingriffe in die Schöpfung ab, weil sie den Menschen in eine Rolle des Lebensschöpfers und -nehmers bugsieren - man denke hier an irgendwelche Genphantasmagorien, die es erlauben würden, zwischen lebenswerten und lebensunwerten Leben zu scheiden, bevor dieses Leben überhaupt begonnen hat -, so tut das Protestantische pikierter, launischer, sagt Einerseits, sagt Andererseits. Mit Bauchschmerzen ist man dann nicht dafür, aber auch nicht dagegen. Denn man solle auch Bedenken, der Herr habe dem Menschen diese Gabe ermöglicht, vielleicht hat er sich dabei was gedacht - aber bitte, liebe Schäfchen, tut das mit Maßhaltung, mit Respekt und übertreibt es nicht. Aber dafür sind wir trotzdem nicht! Eine Theologie der Eigenverantwortung, die keine moralischen Grenzwerte anerkennt. Ähnlich verhält es sich mit den sozialen Fragen unserer Zeit. Auch da kein eindeutiges Bekenntnis, sondern ein Sichannähern an neoliberale Positionen - die sicherlich auch im Katholizismus Einzug finden, dort aber gelinder, mit Widerspenstigkeit in petto. Dieses "sich mit Bauchschmerzen winden" erklären auch die Grünen stets; die sind moralisch nie dafür, realpolitisch sagen sie dann aber trotzdem Ja und zeigen auf ihren schmerzenden Bauch, der ihrer Zustimmung geschuldet ist. Mag sein, dass das auch an der parteilichen Zusammensetzung liegt, daran, dass mehr Mitglieder aus protestantischem denn aus katholischem Hause stammen.

Natürlich ist das protestantisch Sozialisierte kein Joachim Gauck, der sich gerade als Synonym für das Unkritische bewirkt - und es ist nicht Wolfgang Huber, der wie ein Gerhard Schröder der EKD fungierte - und auch kein Peter Hahne, der seine von Großmama inspirierte Das-gehört-sich-nicht!-Theologie bei Springer verbeitet. Aber es hat dennoch etwas von dieser Art von "Theologie" übernommen - vor einem Gott geht man gottesdienstlich nicht auf ein Kniebrett; vor der weltlichen Macht allerdings schon. Ich merke das dieser Tage ganz häufig. Als ich zuletzt schrieb, dass ich in den Stammlanden des Neoliberalismus gelandet bin, da ließ ich mitklingen, dass es durchaus auch am protestantischen Fundament liegt, dass es sich hier so entwickelt hat, wie es sich entwickelt hat. Ich will aber auch gar nicht so tun, als sei ein protestantisch sozialisiertes Umfeld etwas gar Schreckliches - auch das hat Vorzüge; in so einer Gesellschaft gilt das individuelle Leben mehr, man funkt niemanden hinein, alles ist distanzierter. Manchmal braucht man das ja! Es gibt keine Umma, vor der man Rechenschaft ablegen müsste, Nächster ist man sich nur selbst - sonntags legt sich die Gemeinde lediglich Rechenschaft über die Kollekte ab, und dann ist auch schon gut, mehr muß nicht sein. Distanz ist manchmal praktisch, aber für einen gesunden Zusammenhalt selten förderlich. Es ist schon wahr, dass das Anderssein in Bayern, katholischer Flecken das es ist, nicht immer einfach ist - der Rahmen ist abgesteckt und darin sollte man sich bewegen, will man als Mensch glaubhaft bleiben. Das ist der Nachteil der Geschichte. Denn es entsteht dieses Mia-san-mia-Gefühl, dieses Herabschauen auf andere. Das wiederum gibt es hier in Hessen weniger, wenngleich man natürlich auch nicht zu anders sein soll - wie anders man sein darf, sah man ja, als Ypsilanti mit einer Gruppe "ganz besonders Anderer" koalieren wollte. Dieser Stoizismus birgt natürlich auch Nachteile, denn er ist es auch, der soviele Entwicklungen hinnimmt, nicht dagegen ankämpft. Thomas Mann schrieb über Luther, er sei die "riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens" gewesen, dessen "antipolitische Devotheit [...] für die Jahrhunderte die unterwürfige Haltung der Deutschen vor den Fürsten und aller staatlichen Obrigkeit geprägt" habe. Man muß es halt hinnehmen, ist die schüchterne Redewendung.

Dass der Bundespräsident seinen Amtsvorgänger revidierte, dass er den Islam für nicht zu Deutschland und dem Abendland zugehörig empfahl, ist natürlich kein Wunder. Als protestantischer Theologe wohnt ihm die natürliche Distanz zu einer Gruppe, die weniger distanziert zwischen ihren Mitgliedern wirkt, inne. Für ihn ist der Islam so fremd, weil ihm Gruppenkohäsion fremd ist. Er ist der Präsident des deutschen Neoliberalismus, weil er aus einer Tradition kommt, die ihm diese Rolle auf den Leib schneiderte. Das heißt wiederum nicht, dass dieses Amt nicht auf jemand erfüllen könnte, der katholisch sozialisiert wurde - und es heißt auch nicht, dass jeder protestantisch erzogene Mensch grundsätzlich neoliberal ist. Aber bei auserwählten Menschen mit Sendungsbewusstsein erleichtert es die Aufgabe doch ungemein.

Ich gebe zu, eigentlich betreibe ich Themenverfehlung. Wieviel aus meiner neuen Heimat steckt in diesem Text? Hätte er nicht einfach ganz lapidar Das Katholische und das Protestantische heißen können? Er erzählt ja nicht explizit aus der Gegend, in der ich nun lebe. Nicht direkt, da stimme ich schon zu - aber das Hiersein hat nochmal nachgezeichnet, was ich schon vormals ahnte, was ich darüber las und nie so richtig glauben konnte. Hier laufen so viele Entwicklungen auf Landesebene schief. Das Bildungswesen ist marode; die Gesundheitspolitik mit ihrer Freude daran, Krankenhäuser zu privatisieren, nimmt hier überhand; Bürgerinteressen wie die um die neue Landebahn am Frankfurter Flughafen, kümmern nicht; die unbegrenzten Ladenöffnungszeiten setzen den Angestellten im Handel drastisch zu; dazu der Filz zwischen Landesverband der Union und Wirtschaft; eine relativ unkritische Medienlandschaft - das Programm des HR als eines der wenigen Dritten Programme, das überhaupt keine kritischen Magazine oder Reportagen fabriziert. So viele Schlachtfelder - und noch viel mehr. Das neoliberale Lebensgefühl hat die hessische Gesellschaft ergriffen - das protestantische Fundament nutzte dieser Entwicklung. Wobei: Die hessische Gesellschaft gibt es übrigens gar nicht, sie wird gekünstelt inszeniert - demnächst mehr hierzu.



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Internationalismus der Strohköpfe

Donnerstag, 12. Juli 2012

Alles klar, die politische Linke verrät sich dieser Tage selbst, wie man das momentan hie und dort liest. Schwört sie doch seit einem Jahrhundert auf den Internationalismus - und jetzt, da der ESM einen verwirklichen wird, da verteidigt sie den Nationalstaat. Die Linke sei somit politisch am Ende, weil sie sich selbst überflüssig macht! Weil Leute wie Gauweiler und Dobrindt, beide ausgewiesen reaktionär, beide bestechend national, dasselbe erzählen wie Wagenknecht! Wer so argumentiert, wer ein solch verstammtischtes Scheinargument in einen Diskurs mengen will, der ist nicht einfach nur linkophob bösartig, der ist vermutlich auch total geistesgestört.

Hat denn die politische Linke je einem Internationalismus das Wort geredet, in dem für das Kapital zentralisiert und gleichgeschaltet wird, in dem es Demokratieabbau für das big business geben soll? Hat sie nicht stets die Zentralisierungspolitik des real existierenden Sozialismus und dessen Bestrebungen, kominternistisch Einfluss auf ihre Brüderstaaten zu nehmen, kritisiert?

Die Idee, Europa noch besser zu verweben, es zu einer Art von Internationale zu machen, ist ja nicht falsch, ist ja nicht schlecht - und auch die politische Linke strebte dies an. Dabei war stets die Rede davon, das Europa der Konzerne, wie man es in der EU sah, abzumelden, um einem Europa der Bürger Platz zu machen. Ein Europa, das per ESM das Haushaltsrecht einsammelt, um es zentral anzuleiten, taugt nicht - ein Europa, das gleiche oder doch wenigstens annähernd gleiche Lebensbedingungen schafft, das verbindliche Kündigungsschutz- und Arbeitssicherheitsgesetze von seinen Mitgliedsstaaten verlangt, das wäre was! Wir brauchen kein Europa, das nur Zollfreiheit für Konzerne herstellt, sondern eines das Mindestlöhne garantiert und eine gemeinsame Strukturierung des Kontinents nach humanistischen Gesichtspunkten entwirft. Denn dieser Humanismus ist es, der abendländisches Erbe ist - das Christentum, wie das abendländische Konservative oft erklären, kann es nur teilweise sein; kann es nur sein, wenn man die Fürsorge Kranker neben Scheiterhaufen stellen will.

Gauweiler und Dobrindt und Wagenknecht sagen dasselbe! Ist das ein Beweis? Ein Beweis dafür, dass die politische Linke so nationalstaatlich denkt, wie es die Rechte immer tat? Klar war doch bei allem internationalistischem Traum immer, dass die Verwaltung eines internationalen Projektes nie von einer Zentrale aus geleitet werden konnte - nicht bei der Größe dieses Kontinents. Es bedarf föderalistischer Untereinheiten - das wären die jeweiligen Staaten. Entwürfe man eine gemeinsame europäische Sozial- und Arbeitsmarkt-Agenda, so könnte man auch vorerst nicht dieselbe Mindestlohnhöhe in Lettland einführen, wie es sie in Frankreich bereits gibt. Wer sollte denn dort so einen Lohn bezahlen können? Die Bereitschaft zu gleichen Prämissen ist zentralistische Aufgabe; die Ausführungen dieser Prämissen sind allerdings föderalistisch zu gestalten.

Was kann denn die politische Linke dafür, dass auch im rechten Lager Menschen gegen den ESM sind? Vielleicht sind sie es aus anderen Gründen - aber ist das irgendein Beweis für eine Linke, die rechtslastiger geworden ist, weil sie den Nationalstaat verteidigt, den sie angeblich immer abschaffen wollte? Wollte sie das jemals? Hat sie ihn nicht als historische Gegebenheit erfasst und ihn akzeptiert? Nur die Affekte, den Chauvinismus, die Überheblichkeiten, die sich aus ihm ergaben, die hat sie angegriffen und wollte sie verschwunden sehen!

Die politische Linke ist erschöpft, seit Jahren kämpft sie dagegen an, dass soziale Errungenschaften abgesetzt werden - sie hat kaum Zeit, eigene Konzeptionen zu entwerfen, weil sie beständig auf das reagieren muß, was der Neoliberalismus einzustampfen droht. Sie wird zu Maßnahmen gedrängt, die auf den ersten Blick gar nicht links wirken - so wie jetzt, da sie sich für das Primat des Staates einsetzt.

Es wird so viel falsch verstanden, falsch ausgelegt und vermengt, dass man als einzige Internationale, die immer funktioniert hat, eine Internationale der Strohköpfe sehen kann. Die halbgare Dummheit, die sich aus Halbwissen, Bauchgefühlen und ideologischen Umdrehungen der Tatsachen destilliert, hat in jedem Land ihre Anhänger - eine andere Internationale des Kapitals macht sich nun auf, noch mächtiger zu werden, wie sie ehedem schon war - nur die humanistische europäische Internationale, das Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!, ist immer noch nicht absehbar. Wenn überhaupt, so kann man der politischen Linken Europas nur das vorwerfen: nicht emsiger für ein humanistisches Europa der Bürger gearbeitet zu haben...



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Ridendo dicere verum

"Der geschickte Journalist hat eine Waffe: das Totschweigen - und von dieser Waffe macht er oft genug Gebrauch."
- Kurt Tucholsky in "Die Weltbühne" -

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Nicht totzukriegen!

Mittwoch, 11. Juli 2012

Manch trübe Aussicht ergibt sich. Eine ist das Leistungsschutzrecht, so wie es kommen soll. Böse Verleger wollen, dass "das schon Zitieren kurzer Textpassagen im Internet kostenpflichtig" werde. Böse Zungen meinen: Verlage werden gegenseitige Zitationen und Verlinkungen unter Absprache nicht beanstanden. Wie handhaben sie das aber bei kleinen Publizisten und Bloggern? Wie können die sich an den Kampagnen und den agenda settings festbeißen, wenn sie weder verlinken noch ausgiebig zitieren dürfen? Denn machen wir uns nichts vor: achtzig Prozent allen bloggenden Alltages orientiert sich an dem, was die Medien setzen. Der Rest ist Kür. Bloggen ist nicht, wie das mancher Schwärmer gelegentlich schreibt, eine separate, über allem schwebende Branche - es ist eine Variation der Publizistik, es ist manchmal, wenn denn politisch gebloggt wird, ein Kontroll-, Überwachungs- und Berichtigungsinstrument, das jedoch relativ schwach ausschlägt. Was also, wenn es dergestalt radikal kommt, wenn selbst kurze Zitate und Links auf Onlineangebote verschiedener Medien zu Abmahnungen führen könnten?

Ein befruchtendes Hindernis

Man könnte Panik bekommen. Auf was stützen? Was zerpflücken und richtigstellen, wenn man das Sujet nicht zitieren, nicht klickbar machen darf? Bei aller Sorge: Das bietet viele Chancen! Sich verkappen zu müssen, um nicht verknackt zu werden, hat schon manchem verschmitzten Geist eine notwendige Raffiniertheit, eine zeitlose Pfiffigkeit eingebracht. Das Kabarett lebte selbst in Zeiten fort, in denen die Meinungsfreiheit viel direkter beschnitten war - es gebar Charaktere, die nichts direkt ansprachen, Namen nicht nannten, Umstände verkleideten, die unhaltbaren Zustände so grotesk ins Gegenteil verkehrten, dass sie unglaubhaft wurden, dass man sie hinterfragte. Man denke an Werner Finck, wie er ohne direkten Verweis auf die Zustände seiner Zeit, diese Zeit doch kritisierte - wie spät ist es, fragte ihn eine Frau seinerzeit; gnädige Frau, ich darf über die Zeit nicht sprechen, antwortete er. Er versicherte seinem Publikum, man dürfe natürlich lachen heutigentags, nur der Einzelne dürfe nicht mehr lachen, alle zusammen wollen wir lachen - falls einer an der falschen Stelle lache, sei er nicht dafür verantwortlich. Ohne punktgenauen Worte hatte er die braune Gemütlichkeit und ihre volksgenössische Zusammen-und-Miteinander-Kultur angegriffen - mit etwas Pfiff findet die Wahrheit immer Schlupflöcher.

Oder man denke an das Kabarett im anderen Deutschland oder an die dortige Musikindustrie, in der es auch kritische Bands gab, die aber verklausuliert schmetterten, die Wortspiele nutzten, Verdrehungen anstellten, Umschreibungen zu Personen und Funktionen erfanden, die die ganze Komik und die ganze Verschlagenheiten des Systems viel besser wiedergaben, als es die bloße Abbildung der Wirklichkeit je gekonnt hätte. Immer dann, wenn man die Artikulation freier Meinung erschwerte, befruchtete das die Phantasie des Intellektualismus, der Kunst und Kultur. Das Diktat der Kirche hat manchen Kritiker theokratischer Strukturen dazu gebracht, ein zeitloses Werk zu hinterlassen, indem er versteckt beschrieb, was direkt nicht für Beschreibung bestimmt war. Ein Zensur und Strafe verteilender Sittenkondex war zwar Hindernis - aber nicht selten eines, das befruchtet, das angeregt und das die hiesigen Schweinereien in metaphorischer Form verständlich und zeitlos gemacht hat.

Spreu vom Weizen

Dann zitiert man nicht mehr, man beschreibt, man habe gehört oder irgendwo gelesen, dass jemand, den man nicht nennt, sondern umschreibt, etwas gesagt habe, das ungefähr so lautete. Das ist nicht journalistisch, klingt auch nicht seriös - aber es bietet die Möglichkeit der Überspitzung, der Herausarbeitung der Tendenz einer Aussage. Die Kunst wird sein, ohne Ross und Reiter zu nennen, alles zu sagen, ohne alles gesagt zu haben. Das ist keine Sache für jedermann, hier wird sich die Spreu vom Weizen trennen. Der kreative Blogger, der erfinderische Geist wird seine Nische halten können, sein künstlerisches Potenzial entfalten.

Immer dann, wenn man Kunstformen an die Leine nehmen will, entwickelt die Kunst spezifische Formen des Widerstandes und der autonomen Haltung. Dort wo sie es nicht tut, herrscht keine Kunst mehr. Dieser Kniff, sich kreativ aus der Affäre zu stehlen, könnte als Selbstheilungskraft des Künstlerischen verstanden werden. Zeiten der Zensur oder der Einschränkung können daher für die Kreativität durchaus reizvoll sein - gleichwohl ein Leistungsschutzrecht, das die "kleinen Endverbraucher" hemmt und drangsaliert, inakzeptabel ist, kann man doch behaupten, dass die Bloggerei nicht totzukriegen ist. Sie wird sich verändern und das Feld wird schmaler werden. Aber sie wird überleben und weiterhin gegen den Mainstream anrennen. Für journalistische Blogger werden sich Probleme ergeben - und auch um manch spannende Linksammlung wäre es schade. Daher kann man nur hoffen, dass die leistungsschutzrechtliche Anfachung der Kreativität nicht Wirklichkeit wird...



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