Verplantes Leben

Samstag, 18. Juni 2011

Wenn ich so lese, wie sich junge Menschen ein Leben vorstellen, kann ich nur den Kopf schütteln. Alles soll glatt gehen, jeder Stolperstein soll vermieden werden und falls das nicht sichergestellt werden kann, so versichert man sich gegen solche Stolpersteine. Man imaginiert sich ein Leben, das lediglich auf der Sonnenseite stattfinden soll, und die Industrie und Gesellschaft unterstützt diese Einstellung, mach Lebensplanungssicherheit zur obersten Maxime des modernen Daseins. Der endlos gesunde Mensch, den man allerorten reklamiert, ist so ein Produkt aus den Gesunderhaltungsschmieden. Dabei meint Gesunderhaltung jedoch nur, um Nietzsche zu zitieren, dasjenige Maß an Krankheit, das es noch erlaubt, wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen. Das meint heute noch konkreter, so wenig krank zu sein, dass man weiterhin beschäftigt bleiben kann - wer noch beschäftigt ist, der ist auch gesund genug. Das ist die Verdrehung der Vernunft, die früher fragte: Sind Sie gesund genug, um noch zu arbeiten?

Das Alter ist ein anderer Stolperstein, den man heute ausmerzen möchte. Man will zwar alt werden, aber nicht alt sein. Ortega y Gasset schrieb mal, dass das Alter immer noch das einzige Mittel ist, das man entdeckt hat, um lange leben zu können. Diese Weisheit ist heute allerdings aus der Mode, man würde gerne jünger alt. Dieselben Köpfe, die Krankheit als Hemmschuh für einen reibungslosen Lebenslauf auszumerzen versuchen, wollen auch das Alter aus der Welt befördern. Gebrechlichkeiten passen nicht ins moderne Leben, sie halten auf, erzeugen Kosten, kosten Nerven, nerven den Produktionsablauf. Man will den Menschen nicht vergesunden, damit er glücklicher ist - wer das glaubt, der unterliegt einem Irrtum. Man möchte nur, dass der monotone Alltag aus Plackerei und Schufterei ohne Reibungsverluste vonstatten geht.

Und Kinder erst, die behindern ungemein. Kindertagesstätten, in die selbst schon Säuglinge einquartiert werden können, das sehen die Ökonomisierungskapitäne mit großem Wohlwollen. Kinder hemmen, entziehen der Gesellschaft wertvolle Arbeitskraft. Gäbe es zu viele Kinder, so würde manche Branche in Stagnation verfallen. Die Urlaubsindustrie würde jedenfalls dicke Backen machen, denn Kinder sind teuer und lassen nicht viel Spielraum für Hotels mit Zugang zum Strand. Ohnehin empfinden Menschen Kinder immer häufiger als Ballast für ihre Lebensplanung, als Stolperstein für ein Leben, wie man es, manipuliert durch Reklame, gerne leben möchte. Alles will man erleben, alles haben - und die Irrungen und Wirrungen des Lebens, wie sie ganz von alleine entstehen, die sollten bitte bestmöglich vom Leib gehalten werden. Auch ein Grund dafür, warum heute Beziehungen austauschbar sind, wie einst nur Unterwäsche - bei hygienischen Menschen, versteht sich.

Wir leben in einer Zeit, da alles, was nicht konform ins moderne Leben passt, als lebenplanungsschädlich verstanden wird. Der homo oeconomicus und der homo supermercatus wollen Sicherheit haben, sie wollen Pläne hegen, Vorstellungen entwerfen dürfen. Krankheit, Alter, Kinder, Beziehungszwist und so weiter, das stört den Ablauf. Seine zwei Schienen müssen gut geölt und gewienert sein, sonst klemmt der Ablauf. Schiene Beruf und Schiene Privatheit, manchmal auch beide Schienen ineinandergezwirbelt, sollen frei von Hindernissen bleiben. Der Lebensplan darf nicht zu Schaden kommen, alles soll mit Kalkül über die Bühne gehen. Für jedes unliebsame Lebensereignis gibt es eine Lösung, suggeriert dabei die Industrie. Wir können alles passend machen! Und dann liegen sie eines Tages mit Knochenkrebs in der Klinik und können sich kaum mehr rühren, Chemo schlägt nicht an, mindert nicht mal den Wucherungsgrad und sie bekommen zu hören, dass die Allmacht des Menschen über seine Lebensplanung doch nicht hundertprozentig ist. "Unheilbar" gab es in diesem Leben vorher nicht, "nichts zu machen" war ein Spruch für Verlierer - "unheilbar" war aus dem Soziolekt ramschiger Ärzteserien.

Natürlich will ich kein Plädoyer auf Krankheit und Gebrechen halten. Wer ist schon gerne krank? Zum Leben gehört Krankheit aber trotzdem. Wir kennten Gesundheit nicht, wenn wir keine Krankheit hätten. Was ich allerdings verurteile ist, wie man in dieser Gesellschaft mit den Unabwägbarkeiten des Lebens umgeht. Man tut so, als könnte man die Lebensplanungsschädlichkeiten kalkulieren, sie ausschalten und kontrollieren. Kein Bekenntnis dazu, dass der Mensch, gefangen in seinem Schicksal, nichts weiter als eine ganz arme Sau ist. Vorsorge treffen! ist das Schlagwort - wer vorsorgt, der ist hernach abgesichert, den ereilt das Schicksal nicht auf falschem Fuß. Doch genau das geschieht, denn zum Menschsein gehört Krankheit, Alter, gehört es, Verantwortung für andere, seien es Kranke, Alte oder Kinder, zu übernehmen. Das sind natürlich "Stolpersteine", die das schöne und angenehme Leben nach Plan erschweren. Aber genau ein solches Dasein nach Schablone ist nicht der vorgesehene Fall, es ist nicht mal die Ausnahme, es ist schier nicht machbar. Doch unsere Zeit meint, genau so hat Leben stattzufinden, durchgeplant bis unter die Zehennägel.

Und alles was Lebensplänen schadet, wird als Hindernis betrachtet. Wir können noch so viel Mildtätigkeit einfordern im Bezug auf diejenigen, die Hilfe benötigen. Wenn man den Menschen nicht wieder beibringt, dass das Leben nicht durchstrukturiert werden kann, dann wird sich der eisige Zeitgeist, der in Alten, Kranken und Kindern Ballast hineininterpretiert, nicht abflauen, sondern ganz im Widerspruch dazu, er wird nochmal runterkühlen. Nur wenn man von klein an begreift, dass das Leben keine Planwirtschaft ist, sondern voller Entwicklungen, die wir bestenfalls marginal beeinflussen können, dann öffnet sich vielleicht auch das Bewusstsein dafür, dass es ungeplante Momente im Leben geben kann, in die wir alle hineinstolpern könnten. Dann wird uns offenbar, dass wir alt, krank, behindert, arbeitslos oder dergleichen werden können - wenn uns bewusst wird, dass wir selbst der Unabwägbarkeit ausgesetzt sind, dann erkennen wir vermutlich auch wieder den Wert in solchen Menschen, die wir heute noch als Ballast für die Gesellschaft bezeichnen.



16 Kommentare:

Hartmut 18. Juni 2011 um 11:33  

Danke für diese Zusammenstellung in treffenden Worten über offene und versteckte "Lebenspläne", die sehr genau den "Zeitgeist" darstellt.

Dieser Geist "Don´t worry, be happy..." ist eine Folge des utilitaristischen Denkens.

Man kann sein Leben derart verplanen, dass man darüber vergisst, zu leben.

Das Menschenverachtende und Erniedrigende ist an der "Verplanung" des Lebens, dass die Herrschenden den Beherrschten ihren Willen aufzwingen !
- Wer nicht pariert, hat mit Sanktionen zu rechnen...basta (Kanzlersprache)!

Zu diesem Thema möchte ich auf Erich Fromm hinweisen, besonders auf zwei Bücher von ihm zu diesem Thema:

Die Pathologie der Normalität
und
Authentisch leben

Ich hoffe auf anregende Gedanken und ein gutes "Echo" zu diesem sehr aktuellen Thema !

Trojanerin 18. Juni 2011 um 12:30  

Die Entwicklung, die hier sehr schön beschrieben wird, sorgt ja gerade dafür, dass die Menschen gehetzt durch ihr Leben rennen. Das einzige was sicher ist im Leben ist, dass Krankheit oder Behinderung jeden Menschen zu jeder Zeit treffen können. Gesundheit und ein langes Leben kann man auch mit Geld nicht Kaufen, obwohl es den bekannten Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und materiellen Ressourcen natürlich gibt.

Vielleicht ist der Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit für heutige moderne Menschen sehr schwierig, so dass Ideen von einem durchgeplanten Leben auf besonders fruchtbaren Boden fallen.
„Was ich allerdings verurteile ist, wie man in dieser Gesellschaft mit den Unabwegbarkeiten des Lebens umgeht.“ Risiken, wie Krankheit, Behinderung, Arbeitslosigkeit werden als kontrollierbar und ausschaltbar angesehen.
Bekommen Eltern ein behindertes Kind, müssen sie sich leider die Frage anhören, ob so etwas heutzutage noch hätte sein müssen. Manchmal graut es mir vor der gesellschaftlichen Entwicklung und ich habe wenig Hoffnung darauf, dass der Wert kranker, alter, behinderter, arbeitsloser Menschen erkannt wird, wenn dieser Wert nicht in Euros aufgewogen wird.

PeWi 18. Juni 2011 um 13:26  

Lebensplanung an und für sich ist nicht schlecht und gehört einfach zu einem Leben dazu. Gerade die wird einen heute verweigert. Lebensplanung hat nichts mit Versicherungen zu tun, sondern damit, dass man sich Ziele setzt und diese verwirklichen will. Ich meine damit keine Konsumziele. Und gerade heute hat kaum ein junger Mensch die Gelegenheit, sich Lebensziele zu setzen, da sein Leben meist prekär verläuft. Ich denke dabei an Studienziele, ander Lernziele, lebenslanges Lernen und Wissensaneignung, ohne auf den Geldbeutel schauen zu müssen. Ich lehne es auch ab, zu sagen, dass Kindergärten Teufelszeug und nur für das Parken der Kindern nütze wären, weil diese störten. Ich habe bis 1989 ein erfülltes Leben gelebt. Unser Kind war gut untergebracht und hat von seiner arbeitenden und lernenden Mutter ideel viel gelernt und mitbekommen. Man muss kein Kind von hinten und vorn in jeder Stunde selbst bemuttern. Wichtig ist, dass man für ein Kind richtig da ist. Eine Mutter, die zu Hause ist, hat auch nicht immer Zeit für ihren Sprößling. Schade. Ich mag Ad Sinistram sehr, finde aber manches Mal die Ansichten sehr gestrig, zumal wenn diese auf eine emanzipierte Ostfrau trifft, was nicht mit westlichem Feminismus verwechselt werden darf.

Anonym 18. Juni 2011 um 15:11  

Das erste mal bin ich mit 16 über diese Art des Gedanken machens gestolpert, als mir mein Versicherungsvertreter eine "Lebensversicherung" aufschwatzen wollte.

Über diesen Begriff "Lebensversicherung" amüsiere ich mich immer wieder. Er ist so derartig absurd, dass man sich fragen muss, ob unsere Gesellschaft eigentlich noch alle Tassen im Schrank hat :)

Ulli 18. Juni 2011 um 15:39  

Zu dieser völligen Ökonomisierung des gesamten Lebens hat Max Horkheimer viel Interessantes geschrieben, etwa das Kapitel "Aufstieg und Fall des Individuums" in der "Kritik der instrumentellen Vernunft".

Anonym 18. Juni 2011 um 16:11  

Wunderbarer Text, der mir - wie immer - aus der Seele spricht.

Was Lebenslauf angeht, da gibt es ein Wort, dass genau auf den Punkt bringt wie undemokratisch der Lebenslauf geworden ist:

L e b e n s l a u f r e g i m e

...diese Wortvokabel sollte weite Verbreitung finden....

...damit jedem klar wird wir leben in einer Lebenslaufdiktatur, und zwar - wie es einst die Nazis in ihrer brutalen Sprache ausdrückten:

"Von der Wiege bis zur Bahre"

Trauriger Gruß
Bernie

Anonym 19. Juni 2011 um 10:00  

.....wer vorsorgt, der ist hernach abgesichert.....
Nöö. Wer das tut, minimiert nur sein Risiko.

Zit.: Da habe ich mein Leben lang täglich Mengen an Knoblauch gegessen und zur Strafe wurde ich 100 jahre alt.

Oder, um es mit Adorno zu sagen: "Gesundheit ist nicht alles, wenn man ansonsten ein Blödmann ist."

ad sinistram 19. Juni 2011 um 10:28  

Haha, hat das Adorno wirklich gesagt?

Anonym 19. Juni 2011 um 12:58  

Roberto: Hatter. Guckst Du hier:
http://www.zitate-datenbank.service-itzehoe.de/zitat-spruch-von/theodor-adorno/seite/1/limit:10/

Simon 19. Juni 2011 um 14:50  

"Alles soll glatt gehen, jeder Stolperstein soll vermieden werden und falls das nicht sichergestellt werden kann, so versichert man sich gegen solche Stolpersteine. Man imaginiert sich ein Leben, das lediglich auf der Sonnenseite stattfinden soll"

Was daran verwerflich sein soll verstehe ich nicht? Soll ich mir wünschen, dass mein Leben den Bach runter geht?!

ad sinistram 19. Juni 2011 um 15:48  

Du verstehst mehr nicht, habe ich das Gefühl... aber macht nichts.

Arbo Moosberg 19. Juni 2011 um 16:19  

In meinen Augen besteht das Problem grundlegend darin, dass Zukunftsplanung von Leuten gefordert wird, denen gar keine Möglichkeit zur Zukunftsplanung gegeben wird. Den (vorläufig) perversen Höhepunkt erreichte das in meinen Augen, als die Idee aufkam, u.a. die Riesterrente zur Pflicht machen zu wollen ...

Abgesehen davon: Zur Zukunftsplanung gehört auch eine Zukunft, eine Perspektive. Die gibt es für viele Leute nicht.

Was "wir" davon mitbekommen, ist im Regelfall das Gequatsche und Fordern einer dekadenten Elite, die alles andere um sich herum ignoriert.

Arbo

Anonym 19. Juni 2011 um 18:13  

Die Kernaussage ist:

Die Wirtschaft versucht der
Gesellschaft einzureden, dass die Zukunft planbar sei und das man sich gegen "alles" versichern kann.

Ist natürlich grober Unfug, wird aber seitens der Konsumgesellschaft gerne geglaubt. Das wichtigste ist aber die Kapitalrendite der Versicherungskonzerne!

Anonym 20. Juni 2011 um 15:08  

"[...]Die Wirtschaft versucht der
Gesellschaft einzureden, dass die Zukunft planbar sei und das man sich gegen "alles" versichern kann[...]"

Kein Wunder, dass z.B. die Coaching-Branche (!: ein neues Berufsfeld mit jeder Menge Scharlatanen, die am Elend der Menschen Geld verdienen wollen), ebenso blüht wie die Karriere-Macher-Branche - manchmal sogar Arbeitsagentur-gefördert.

Es kann eben nicht sein, was nicht sein darf - Normalarbeit ist ein rares Gut geworden, und genau hier setzen die Lügen der oben erwähnten Branchen an.

Frei nach dem Motto:

"Keine Arbeit? Verkorkster Lebenslauf? Selber schuld!"

Gruß
Bernie

Anonym 20. Juni 2011 um 16:07  

Kosten, kosten Nerven, nerven...
köstlich, meine Freude heute.
Schablonenleben ist nichts schlechtes. Mehr Platz hier, wo "man" nicht hergehen kann.

Grüße von der Wiese

redlope 21. Juni 2011 um 23:50  

Ein sehr schöner Artikel, danke.
Ich würde nur noch gern ergänzen, dass heutzutage dieses Lebensplanungsbedürfnis deshalb so groß ist, weil man uns ständig Angst vor dem Sturz ins Bodenlose macht, wenn wir nicht brav sind - oder nicht mehr "funktionieren".
Vor 20/30 Jahren sind junge Leute noch fröhlich planlos studieren gegangen, oder haben mal ein Jahr in Indien die Erleuchtung gesucht, oder sind durch die Welt gereist, auf der Suche nach dem Glück... wer tut das heute schon?
Zwischen Turboabitur, Bachelor-hetz-Studium, Praktika und Bewerbungsmarathon?
Die jungen Leute heute trauen sich ja nicht mal mehr, alberne Fotos von sich ins Internet zu stellen.
Sie haben alle die Hosen gestrichen voll. Sie haben nichts zu gewinnen und alles zu verlieren. Sie wissen, das sie den Lebensstandart ihrer Eltern kaum werden halten können. Sie sind verzagt und fürchten sich vor Hartz4-Entrechtung, Jobverlust, Krankheit und Altersarmut. Denn niemand wird sich um sie kümmern. Die Gesellschaft ist kalt geworden, Schwäche zu zeigen oder schwach zu sein ist ein Fehler. Es hat niemand mehr Mitgefühl, sondern es wird nachgetreten, bis der Schwache über die Klippe stürzt. Und dann heißt es nur "einer weniger. Der nächste bitte".
Sorry, aber so stellt sich vielen die Welt heute dar. Und dagegen hilft ihnen nur eine Art "Unverwundbarkeit" und die Hatz nach Geld. Denn Geld ist anscheinend das einzige, was einen davor bewahrt.

Hätten wir eine Kultur des Sozialen Miteinander, des umeinander Kümmerns und der gegenseitigen Hilfe, dann könnte man getrost im Kreise seiner Lieben alt werden und sich auch Schwäche und einen suboptimalen CV leisten.
Die Industrie freilich lebt von unserer Angst. je mehr Angst, desto besser die Umsätze.

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