Eilig! Bitte schnell lesen!

Mittwoch, 1. Juni 2011

Winston S., Abteilungsleiter im Miniwahr (Ministerium für Wahrheit), ist ein Whistleblower. Er spielte mir heute Nacht Papiere zu, die belegen, wie mit der Wahrheit in der Bundesrepublik verfahren wird. Die gute Nachricht: man lügt nicht, das heißt, man negiert die Wahrheit nicht! Man passt sie einfach nur den gegebenen Zuständen an! Winston S. reichte mir zudem die neueste Anordnung, die er kurz zuvor erhielt. Dabei handelt es sich um die Anpassung der Wahrheit zum Atomausstieg.

Er habe die Aufgabe erhalten, sämtliche Erinnerungen verblassen zu lassen, die mit der letzten, erst kürzlich verkündeten Laufzeitverlängerung zu tun hatten. Winston S. ist für die Koordinierung zuständig und hat einige Angestellte unter sich. Drei seiner Mitarbeiter sind dafür zuständig, dass die Journalisten der bürgerlichen Presse keine kritischen Fragen zur neueren Vergangenheit stellen. "Daher würde sich die Presse mit Lob überschlagen und Merkel und ihre Entourage als Energiewendler feiern", erklärte mir Winston S. kurz angebunden und schlaftrunken am Telefon. Man habe Journalisten angewiesen, ihre Berichte vorab ins Miniwahr zu senden, damit diese begutachtet und nötigenfalls überarbeitet werden könnten. Winston S. erklärte weiter, dass dieselben Herrschaften, die sich nun für den Atomausstieg feiern lassen, vor einigen Monaten noch das Gegenteil verkündeten - ich selbst konnte es kaum glauben, denn ich habe, wie womöglich alle Bürger dieses Landes, bereits vergessen, was uns gestern noch beschäftigte.

Weitere Mitarbeiter, so versicherte mir Winston S., würden in Kürze dazu übergehen, Berichte und Artikel aus der Zeit, da die Laufzeitverlängerung Programm war, aus dem öffentlichen Gedächtnis zu tilgen. Auf Band aufgezeichnete Interviews mit Leuten wie Markus Söder oder Angela Merkel, in denen sie pro längere Laufzeiten geiferten, wird es dann nicht mehr geben - bei Söder ist man sich noch nicht sicher, ob man nur seine damaligen Aussichten löscht oder ihn selbst gleich mit. Unzeitgemäße Aussagen würden aber in jedem Falle im Orkus verschwinden. Schriftlich festgehaltene Interviews würden umgeschrieben. Winston S. klammerte an die mich weitergereichten Papiere ein Fallbeispiel: Söder sagte damals in einem Interview, dass "Laufzeitverlängerungen dringlich" seien, dass es "keine Alternativen" gäbe - in der neuen Version wird es dann heißen, dass Söder bereits vor einem Dreivierteljahr sagte, dass "Laufzeitverlängerungen auf keinen Fall dringlich" seien und wir "ein Meer an Alternativen" hätten. Das sei Standard, meint Winston S. und plauderte aus dem Nähkästchen. Die Kanzlerin, so erklärte er mir hinter vorgehaltener Hand, habe mal eine streng sozialistische Jugend verlebt und sozialistische Werte geatmet - sie wäre sogar mal eingeladen gewesen nach Moskau, ins Herz des Kommunismus. Darüber werde man aber heute nichts mehr finden. Winston S. war damals selbst Mitglied jenes Teams, dass die Vergangenheit der Kanzlerin anpasste und beseitigte.

Zeitungsbilder aus der Zeit der Laufzeitverlängerungen würden in den Archiven aufgestöbert und mit neuen Untertiteln versehen. Da sitzen dann Röttgen, Merkel, Westerwelle und Konsorten an einem langen Tisch und drunter steht nicht "Sind sich einig: Laufzeitverlängerungen sind notwendig und werden gewährt" sondern "In trauter Einigkeit: Atomkraft ist gefährlich und muß beendet werden" - überhaupt, so schreibt Winston S. in einer Anmerkung, würde das Wort "Laufzeitverlängerung" verschwinden. Man könne es bereits jetzt getrost vergessen - würde man vor 2021 doch nochmal revidieren, würfe die Regierung den Begriff allerdings wieder auf den Markt der Worte und dann wäre es so, als wäre der Begriff nie weg gewesen. Die "Laufzeitverlängerung", so Winston S., brauche momentan überhaupt kein Ersatzwort, weil sie ja nie stattgefunden hat - weder real, noch als Absicht. (Anmerkung des Autors: Nachdem ich diesen Text der Rechtschreibprüfung unterzog, musste ich feststellen, dass das Rechtschreibprogramm die "Laufzeitverlängerung" schon nicht mehr kennt!) Und der "Atomstrom" würde noch eine Weile existieren dürfen, in Zukunft aber wahrscheinlich mit "uneffiziente, aber eigentlich relativ harmlose Energie" umschrieben werden. Worte wie "Doppelplusungut-Strom" würde man in Zukunft nicht benutzen - das sind die Verhunzungen, die man bis 1984 gebrauchte, heute würde man bekömmlichere Termini schaffen. Das Kanzleramt wird sich vermutlich eines Tages dahingehend entscheiden, fuhr Winston S. fort, um nicht unter den Verdacht zu geraten, eine gefährliche Energie auf die Bürger losgelassen zu haben.

Mittlerweile kursieren Fotos in der Öffentlichkeit, auf denen Politiker mit grüner Krawatte zu sehen sind. Winston S. erklärte mir, dass das farbliche Anpassungen seiner Behörde seien. Ein Mitarbeiter habe die Aufgabe übertragen bekommen, Bilder farblich abzugleichen. Es sei jetzt dringend notwendig, die Energiewende und ihre Protagonisten farblich auszustaffieren - unterlegt man alle Fotos zudem mit einem leichten, für das Auge kaum sichtbaren Grünstich, so würde der Betrachter unbewusst in die richtige Richtung gelenkt. Das habe sich auch damals bewährt, als man Bilder Lafontaines mit leichtem Braunton unterlegte und Sarrazins Konterfei mit einem weißen Stich, um dessen Unschuld zu unterstreichen.

Die schreibende Zunft sei eine sehr vergessliche Bande, erklärte mir Winston S. Manche von denen, die ihre Artikel bei Miniwahr einreichen, wissen gar nicht mehr, was sie ein halbes Jahr zuvor geschrieben haben. Manchmal leugnen sie sogar, dass sie plötzlich vom Gegenteil überzeugt sind. Dies wäre auch im aktuellen Fall so. Es gäbe Journalisten, die haben die Regierung vor einem halben Jahr gelobt, weil diese sich weitblickend für Atomstrom einsetzte - und nun loben sie die Regierung, weil sie weitblickend dagegen anmarschiert. Solche Schreiber ersparen einem Arbeit, denn bei denen muß man nicht anpassen und überarbeiten. Die langjährige Arbeit seiner Behörde, so vermutet Winston S., habe Subjekte geschaffen, die auf Vergessen programmiert sind. Das Leben in einer Gesellschaft, in der Miniwahr heimlich, still und leise Wahrheiten abgleicht, konditioniert manche Menschen drastisch. Das sei nicht nur sehr hilfreich, das sei ja die eigentliche Absicht von Miniwahr. Wahrheit sollte nie individuell sein, heißt es im behördeninternen Handbuch. Sie sollte stets für alle gleich sein und kontrolliert werden, damit es nicht zu unnötigen Reibungen und Störungen kommt. Es ist doch für alle leichter, wenn man in Merkel und Co. nun standfeste Ökologen der ersten Stunde erkennt - die diametrale Vergangenheit würde nur Unmut erzeugen und die Diskussion erschweren.

Nachdem ich Winston S. mehrfach aus dem Bett klingelte, um nochmal und nochmals nachzufragen, nachdem ich die Dokumente, die er mir zukommen ließ, durchforstet hatte, stellte ich mir die Frage, warum er eigentlich so freimütig und unbeschwert, ja so mutig plauderte. Dies ließ mir keine Ruhe, also rief ich ihn noch einmal, ein letztes Mal an. Ich fragte: Warum? Er antwortete: Weil es mich bedrückt! Ich: Haben Sie die Folgen bedacht? Er: Welche Folgen denn? Ich: Na, morgen werde ich darüber schreiben! Er: Glauben Sie das wirklich?
Daher der Rat an die Leser: Schnell lesen, bevor Winston S. seine Bluthunde auf dieses Textchen ansetzt - bevor hier, bei ad sinistram zu lesen sein wird, dass Merkel immer schon eine Gegnerin der Atomenergie war...



8 Kommentare:

Anonym 1. Juni 2011 um 08:16  

Ich unterstelle mal, dass ad sinistram kein Schonraum für B90/Grüne darstellt, denn die kmmen hier im Text gar nicht vor.

Die “Freitag” schrieb gestern unter anderem:
“Der rot-grüne Ausstieg war deshalb auch nicht bis zum Jahr 2020, 2021 oder 2022 befristet. Es war ein Ausstieg mit offenem Ende. Merkels (aktuelle) Laufzeitverlängerung hat die Reststrommengen einfach vergrößert, das System blieb. Und auch in der aktuellen Diskussion deutet alles darauf hin, dass es keine festen Abschalttermine geben wird.

Die Folgen sind fatal, denn die Reststrommengen können von einem AKW auf das andere übertragen werden. Die acht abgeschalteten Reaktoren bescheren den übrigen neuen Anlagen dadurch ein längeres Leben. Hinzu kommen Strommengen aus dem AKW Mülheim-Kärlich, das bereits 1988 abgeschaltet wurde. In der Summe können alle neun übrigen Kraftwerke noch mindestens zehn Jahre weiterlaufen.”

Mehr Text hier: http://www.freitag.de/politik/1122-10-jahre-laufzeitgarantie

Wenn nichts “dazwischen” kommt, würde das letzte AKW dank Vorarbeit der Grünen plangemäß 2032 vom Netz gehen.

Der Bundesvorstand der Grünen nimmt noch gerne Hassbriefe äh Dankschreiben entgegen.


Eine satirisch Bemerklung zu Deiner Passage "..................und Sarrazins Konterfei mit einem weißen Stich, um dessen Unschuld zu unterstreichen...............

Ich würde eher dafür ülädieren, "mit einem breiten, schwarzen senkrechten Strich unter der Nase, um dessen Faible für historische Unholde zu domumentiern."

C.Joke 1. Juni 2011 um 08:20  

1984 ist das Ideal das angestrebt wird...

O. aus M. 1. Juni 2011 um 10:44  

(Anmerkung des Autors: Nachdem ich diesen Text der Rechtschreibprüfung unterzog, musste ich feststellen, dass das Rechtschreibprogramm die "Laufzeitverlängerung" schon nicht mehr kennt!)

Ich hab dir doch schon hundertmal gesagt, daß du das Netzwerkkabel abziehen sollst, wenn du schreibst!
Mensch, Roberto... ;)

Und das Schlimme dabei ist, daß die mediale Aufmerksamkeitsspanne des gemeinen Nussschalenbewohners, Orwells Dystopie erst möglich macht.
So wird das womögliche Ende des deutschen Atomzeitalters, in die Geschichtsbücher als "Merkels große historische Leistung" eingehen. In 20 Jahren wird sich keiner mehr mit solchen Details wie dem "Ausstieg aus dem Ausstieg"
beschäftigen.
Wenn ich mich nicht täusche, müssen die Berichte über die Laufzeitverlängerung auf den Öffentlich-rechtlichen in ein paar Monaten ja schon wieder depubliziert werden, oder?
Mit dem damaligen Rundfunkstaatsvertrag wurden auch gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Was wurde eigentlich aus den Jungs und Mädels um depub.org? Sind ja irgendwie auch sang- und klanglos von der Bildfläche verschwunden.

Aber das sind ja auch alles wieder VTs. ;)

Anonym 1. Juni 2011 um 13:00  

1984 geht zur Zeit dermaßen durch das Netz, dass schon allein das Grund für mich ist hoffnungsvoll in die zukunft zu schauen

meint polifisch.blog.de/

Anonym 1. Juni 2011 um 22:52  

Bei "Winston S." denke ich an Frank Luntz(USA). Ein Wortschmied der Republikaner, der mit seiner Wortschöpfung von der Todessteuer(death tax)die Erbschaftssteuer madig machte.

Atomdreck wird zwischengelagert, entsorgt. Aber die Sorgen bleiben.

Mit Wortschöpfungen wird Politik gemacht und Wahrheit vernebelt!

Anonym 1. Juni 2011 um 22:59  

immerhin beschäftigen sich mittlerweile doch einige mit George Orwell.Was er uns so mitteilen wollte,kann man ja wohl nicht mehr leugnen.
Er war Mitglied in der Fabian society und wusste wovon er redet.Man kann ihm heute noch dafür dankbar sein,daß er nicht geschwiegen hat.
Eugenik hat mit dieser Bewegung auch sehr viel zu tun.
http://de.wikipedia.org/wiki/Fabian_Society

Trojanerin 1. Juni 2011 um 23:05  

„1984“ von George Orwell gehört zu den besten Büchern, die ich in der Schule gelesen habe. „Eilig, bitte schnell lesen ....“ ist ein sehr, sehr guter Text.
Angela Merkel und ihre CDU sind schon immer für den Atomausstieg gewesen. Das ist so absurd und abwegig, aber ich halte vergleichbare Manipulationen dank der Macht bestimmter Medien für gegeben.
Warum sollten Teile der Bevölkerung nicht glauben, dass die CDU schon immer eine ökologische Partei gewesen ist, glaubt man doch auch, dass der Abbau des Sozialstaats alternativlos ist, das Alice Schwarzer irgend etwas fundiertes zum Prozess gegen Kachelmann zu sagen hat, dass, wenn die Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit entsolidarisiert werden, es die Gesellschaft voranbringt usw.

Granado 3. Juni 2011 um 13:26  

Man sollte generell nie von Abfallentsorgung/beseitigung reden - immer nur von Abfallbehandlung.

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP