Die Variablen des Heiligabend und deren Mehrwert

Freitag, 23. Dezember 2011

Ein ganzes Lebensgefühl ist damit umschrieben: Weihnachten wird unterm Baum entschieden! Was sich liest wie aus einer Schmiede der Werbeindustrie, und auch der derzeitige Schlachtruf einer Elektronik-Kette ist, ist doch nicht weniger als die Wahrheit in nuce. Nichts wird in Suppenküchen oder Bahnhofsmissionen entschieden - ihre Existenz und ihr weihnachtliches Hervorheben zeigt nur, dass man sich gegen die, die sie benötigen, schon lange entschieden hat. Nichts entscheidet sich für Frieden - Frieden auf Erden! ist der hohle Ausruf scheuklappenbegüterter Romantiker. Nur eine Wahrheit gibt es - und die liegt unter dem Baum.

Meine Generation ist im konsumtiven Wohlstand aufgewachsen. Weihnachten war Wettbewerb. Schüler eiferten um den Sieg unterm Tannenbaum. Man protzte hernach, man schnitt auf - an der Größe des Geschenkes ließ sich messen, wie schön das Weihnachtsfest gewesen sein musste. Der eigentliche Ursprung des Festes war ohnehin nur Makulatur - und das, was sich Nachkriegsgenerationen daraus machten, das gemütliche Zusammensein, die besinnliche Andacht und das zugegeben spießige Klima zwischen gesäuseltem "Stille Nacht, heilige Nacht..." und vergilbter Pappmaché-Krippe, dieses Kleinod der nachkriegerischen Ruhe und Zufriedenheit, das galt für uns schon nicht mehr. Wir hatten bereits die nächste Stufe der Evolution erklommen. Unterm Christbaum entschied sich Weihnachten - und es ist bezeichnend für unsere Zeit, dass ausgerechnet die Werbung es vermag, die ganze unerbitterliche Wahrheit, und das in einem einzigen Satz, auf den Punkt zu bringen. Werbung ist häufig punktgenauer als die soziologische Wissenschaft - oder sie ist, was vielleicht besser passt, Soziologie in kurzen Sätzen.

Hier weiterlesen...

Alles wie gehabt...

Exakt heute vor vierzig Jahren erboste sich Heinrich Böll. Als Titelzeile bei der BILD-Zeitung las er, dass die Baader-Meinhof-Bande weitermordete - einen Polizisten habe sie nun erschossen. Der darunterstehende Bericht aber gab sich vorsichtiger. Dort las man, dass man noch keine konkreten Anhaltspunkte habe, wer für die Tat verantwortlich sei. Diese Diskrepanz zwischen Schlagzeile und Bericht, sie machte Böll wütend und er schrieb sein verhängnisvolles Essay, das nach einigen Abwandlungen den Titel "Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" erhielt und am 10. Januar 1972 im Spiegel erschien: "Wo die Polizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist Bild schon bedeutend weiter: Bild weiß.", schrieb er unter anderem.

An diesem 23. Dezember 1971 nahm die Jagd auf Böll seinen Anfang. Sein Essay nahm man ihm übel. Er schalt darin den gesellschaftlichen Umgang mit dem Terror jener Tage, freilich auch die Berichterstattung, die tendenziös und eingleisig verlief und keinerlei Kritik an den rechtsstaatlichen Kniffen übte, die die Politik anwandte. Einerlei. Bölls Fehler war, dass er die Terroristen nicht aus voller Seele beschimpfte, sondern sie verstehen wollte und die Mechanismen, die um sie herum wirkten, scharf kritisierte. Der "linke Biedermann" erntete bürgerliche Wut. Er sollte seine Präsidentschaft beim Internationalen P.E.N. abgeben. meinte Hans Habe. Man hieß ihn einen "Anwalt der anarchistischen Gangster" und einen "salonanarchistischen Sympathisanten". Und der Journalist Gerhard Löwenthal nannte ihn einen "Sympathisanten dieses Linksfaschismus", der "nicht einen Deut besser als die geistigen Schrittmacher der Nazis" sei.

Hier weiterlesen...

In eigener Sache

Donnerstag, 22. Dezember 2011

oder: entschleunigte Festtage allen - auch den Ärschen.

Noch zwei Tage, zwei Texte, dann mache ich Schluss - mit dem Jahr. So wie das alle irgendwie auf ihre Art tun. Nach Samstag keine Worte mehr von mir in 2011. Rückblicke auch keine. Das deprimiert nur. Ausschau halten auch nicht. Das deprimiert nur. Über die Gegenwart berichten auch nicht. Das deprimiert nur.

Gegenwärtiges wie erst gestern: da wurden Jugendliche ausländischer Herkunft, die einen Mann in der U-Bahn verprügelt hatten, empfindlich bestraft. Die Staatsanwaltschaft glaubte, es handle sich um einen Fall von Deutschenfeindlichkeit, womöglich auch, weil das die Presse vorformuliert hatte. Der Richter konnte dieser Deutung allerdings nicht folgen - Strafe ja, aber nicht wegen "Hass auf Deutsche". Die Strafe ist unbestreitbar begrüßenswert - gäbe es ein beweisbares deutschfeindliches Motiv, hätte sie ruhig höher ausfallen dürfen. Kurios ist indes nur, dass Staatsanwaltschaften sich sehr schwer damit tun, rechten Gewalttätern Ausländerfeindlichkeit anzuhängen. Wie gesagt, nichts Aktuelles, nichts Gegenwärtiges heute - das deprimiert nur. Ich wollte damit auch gar nicht erst anfangen...

Hier weiterlesen...

Der Kapitalismus ist schon lange überbaut

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Ob es sich wirklich mit der Resistenz des Neoliberalismus abtun läßt, dass nach und während diverser Krisen dieselben Leitbilder wie vormals vorherrschen, bleibt mehr als fraglich. Linke Positionen rumoren zwar manchmal durch die Feuilletons, aber dort, wo entschieden wird, nimmt man sich ihrer nicht mal ansatzweise an.

Ein Ascheschleier...

Michel Houellebecq berichtet im letzten Kapitel von "Karte und Gebiet" über unsere Zukunft. Er schreibt: "Seit der letzten Finanzkrise, die sehr viel schlimmer als die des Jahres 2008 gewesen war und zum Konkurs der Crédit Suisse und der Royal Bank oft Scotland geführt hatte, ganz zu schweigen von zahlreichen weniger bedeutenden Banken, waren die Bankiers gelinde gesagt ziemlich kleinlaut geworden. [...] Ganz allgemein befand man sich in einer ideologisch seltsamen Epoche, in der jeder in Westeuropa davon überzeugt zu sein schien, dass der Kapitalismus zum Scheitern verurteilt sei - und zwar sogar kurzfristig - und seine allerletzten Jahre erlebte, ohne dass es aber den ultralinken Parteien gelungen wäre, über ihre übliche Kundschaft von gehässigen Masochisten hinaus neue Anhänger zu gewinnen. Ein Ascheschleier schien sich über den Geist der Menschen gelegt zu haben."

Hier weiterlesen...

De auditu

Dienstag, 20. Dezember 2011

Man liest und man hört dieser Tage, dass Bundespräsident Wulff nicht die ganze Wahrheit gesagt habe. Er habe, ob nun wissentlich oder unwissentlich, einige Details seiner privaten Verbandelungen mit der Wirtschaft verschwiegen. Diese Deutung der Ereignisse rund um seine Person sind Allgemeinplatz - das Vertrauen in den Bundespräsidenten scheint erschüttert, weil er nicht die ganze Wahrheit sagte. Diese Floskel, zeugt aber auch davon, dass er doch wenigstens nicht gelogen hat. Er war ehrlich, wenn auch nicht gänzlich. Er druckste herum, stotterte sich ein Geständnis zusammen, war aber vom Mut abgeschnitten, alles auf den Tisch zu bringen. Wulff ist somit kein Lügner, nur eine unentschlossene Person, die ruhigen Gewissens ehrlich sein sollte und auch dürfte - dann würde die Öffentlichkeit ihm seine Tête-à-têtes mit dem ganz großen Geld nachsehen.

Hier weiterlesen...

Den Worten ein Gewissen...

Montag, 19. Dezember 2011

Eine Rezension von Roberto De Lapuentes Buch "Auf die faule Haut"

Eine Rezension von Frank Benedikt. Erschienen am 14. Dezember 2011 im Binsenbrenner und am 15. Dezember 2011 beim Spiegelfechter.

Unbequem! Das ist der erste Gedanke, der dem Leser wohl unwillkürlich in den Sinn kommt, wenn er De Lapuentes Buch erstmalig zur Hand nimmt. So erging es jedenfalls dem Rezensenten, der das Büchlein (es sind ja nur 157 Seiten) zwei Mal – mit einem halben Jahr Abstand – gelesen hat. Und mit "unbequem" ist beileibe nicht nur gemeint, daß die darin enthaltenen Texte dies nun für bestimmte Gruppen dieser Gesellschaft wären. Wer nur das darin zu erkennen vermag, hat weit gefehlt, beschäftigt sich der Autor doch mit unserer ganzen Gesellschaft und ihrer Sprache – also auch mit uns, den Lesern.

In 19 "Skizzen und Essays" (so der Untertitel) setzt sich De Lapuente mit so unterschiedlichen Themen wie Entfremdung und Geworfenheit, den Problemen eines Migrantensohns, dem Antagonismus in der deutschen Kultur oder auch dem Konsumismus als dem "wahren Sieger" der konkurrierenden Systeme Kapitalismus und Kommunismus auseinander. Den eigentlichen Mittel- wie Höhepunkt des Buches bildet ein über 40 Seiten langes Essay zum Thema Sprache, das sich zwischen allgemeiner Linguistik, Sprachphilosophie und Sprachkritik bewegt. Dabei kritisiert der Autor auch deutlich zunehmende Verschleierung oder Beschönigung von Tatsachen und Sachzusammenhängen durch Worthülsen und inhaltsleere 'Neoliberal Speech'. Eine von ihm erwünschte Präzision des Ausdrucks, wie sie in früheren Zeiten noch möglich und üblich war, ist einer Art Orwellschem "Neusprech" gewichen, das ein differenziertes und kritisches Betrachten gesellschaftlicher Zustände kaum noch gestattet.
Hier weiterlesen...

Das große Thema seiner Präsidentschaft

Freitag, 16. Dezember 2011

Das politische Feuilleton ist sich darüber einig: ein Bundespräsident benötigt ein "großes Thema seiner Amtszeit". Eines, dem er während seiner Präsidentschaft stringent folgt, das er immer wieder formuliert und aufwärmt. Das präsidiale agenda setting sei der persönliche und individuelle Stempel, mit dem man die eigene Ära politisch und historisch prägt. Christian Wulff gilt auch deswegen als blass, weil man ihm bescheinigt, noch kein Thema gefunden zu haben. Offenkundig ist das aber falsch - es kristallisiert nun heraus, dass auch er eine thematische Linie gefunden hat.

Von denen nehmen, die haben

Wulffs Leitsatz ruht auf der Teilhabe aller am erwirtschafteten Reichtum. Kommt jemand zu Millionensummen, so läßt sich Wulff selbst von ihm aushalten. Fliegt kostenfrei auf Ferieninseln, läßt sich Mikrokredite mit Mikrozinsen erteilen, wohnt gratis in Villen - das ist gelebte Umverteilung. Nicht zaudern, nicht mosern, sich den Reichtum anderer gut tun lassen. Von denen nehmen, die haben - das ist das große Thema des Bundespräsidenten Wulff. Er spricht wenig darüber, er handelt - kein Mann großer Worte, wohl aber ein Macher.

Hier weiterlesen...

Appell an jene Anarchisten, die es vielleicht gar nicht gibt

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Ich habe keine Ahnung, ob es euch gibt, italienische Anarchisten, die ihr eine Bombe ins Vorzimmer Ackermanns gesandt habt oder eben nicht. Aber falls ja, dann unterlasst diesen Unsinn! Hört auf damit, Leuten vom Typus Ackermanns Sprengsätze zu schicken!

Sicher, es ist auch ein Verbrechen. Und auch der ackermannsche Typus ist Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will, um es mit Albert Schweitzer zu sagen. Das berücksichtige ich auch. Aber es ist nicht nur das kalkulierte Mitfühlen von Mensch zu Mensch, das mich euch bitten läßt, diesen Unsinn zu unterlassen. Dieser Typus hat ja durchaus keine Zuckertorten verdient, ganz eurer Meinung. Er soll belangt werden für seine Gier und seinen Größenwahn. Juristisch aber. Ich will kein Mitleid bekommen müssen, wenn eine Kamera durch das zerbombte Büro eines solchen Egomanen getragen wird, überall Blut, Körperfetzen und zertrümmertes Mobiliar auf Steuerzahlerkosten - bitte verschont mich. Ich will solches Leid nicht sehen...

Hier weiterlesen...

Ridendo dicere verum

Mittwoch, 14. Dezember 2011

"Man kann nicht umhin zu sagen, dass Wien
eine herrliche Stadt voller Charme ist.

Auch London ist schön und Paris an der Seine,
sogar Oslo macht Spaß, wenn’s dort warm ist.
Aber nix bleibt stabil, weil: die Zeit ändert viel.
Die Zeit ändert überhaupt alles.
Im nächsten Jahrhundert bleibt nix, wie’s halt ist.
Ich bin kein Prophet, aber eins weiß ich g’wiß:

Einmal wird der Eiffelturm nicht mehr sein,
und wo jetzt der Louvre steht, wachst der Wein.
Nur der Euro, der bleibt,
weil den nix mehr vertreibt.
Der wird all’s überleb’n, der allein.
Unser Wiener Stephansturm, der fallt um,
und wo jetzt die Oper ist, dort san’s stumm.
Nur der Euro bleibt stehn;
von Berlin bis Athen
tanzt der Euro um alle herum.

Den Prater werdn’s vernichten.
Der Rhein wird gestaut. Florenz wird verbaut.
Auf’n Petersdom werdn’s verzichten.
Wenn der Papst protestiert, wird er g’haut.

Auf die Champs-Élysées wird ka Wert g’legt,
und das Tivoli wird unter d’ Erd g’legt.
Aus Warschau wird Schutt. Die Schweiz ist kaputt.
Die Grachten erfriern. Die Schweden emigriern.
Dann werd’n militant alle Häuser verbrannt
und als Waren- und Bürohäuser neu eingespannt,

nur der Euro wird leb’n,
nur den Euro wird’s geb’n,
nur der Euro wird zeig’n, was er kann.
Und er kriecht mit Humor
aus der Aschen hervor,
und fangt immer von vorn wieder an.

Mozart verraucht, weil man’n net braucht.
Gleich hinter Mozart raucht Goethe.
Bach wird verjazzt, Rembrandt zerkratzt.
Shakespeare hat auch seine Nöte.
Goldoni und Moliere krieg’n ein neu’n Regisseur.
Nur findet auch der kein Theater.
Denn Theater san g’schlossen, die Museen stehen leer.
Und Buchläden gibt es schon lang keine mehr.
Was braucht ein moderner Mensch Lit’ratur?
Auch von Philharmonikern keine Spur!
Nur der Euro bleibt stark!
Den legt niemand in’n Sarg!
Hast du Euro, dann hast du Kultur.
Der kann Kunst imitiern,
der kann die Politiker schmiern,
der baut Banken zu den Sternen,
baut McDonalds, baut Kasernen,
der schmückt’s Fernsehn mit ein’m Glorienschein:
Man ist stolz, Europäer zu sein!
Für den Euro sterb’n die Poeten,
und zum Euro lernt man beten:
Euro unser, der du bist...
Und dann merkt auch der letzte Tourist,
was Europa ist."
- Georg Kreisler, Man kann nicht umhin zu sagen, dass Wien
eine herrliche Stadt voller Charme ist.
Auch London ist schön und Paris an der Seine,
sogar Oslo macht Spaß, wenn’s dort warm ist.
Aber nix bleibt stabil, weil: die Zeit ändert viel.
Die Zeit ändert überhaupt alles.
Im nächsten Jahrhundert bleibt nix, wie’s halt ist.
Ich bin kein Prophet, aber eins weiß ich g’wiß:

Einmal wird der Eiffelturm nicht mehr sein,
und wo jetzt der Louvre steht, wachst der Wein.
Nur der Euro, der bleibt,
weil den nix mehr vertreibt.
Der wird all’s überleb’n, der allein.
Unser Wiener Stephansturm, der fallt um,
und wo jetzt die Oper ist, dort san’s stumm.
Nur der Euro bleibt stehn;
von Berlin bis Athen
tanzt der Euro um alle herum.

Den Prater werdn’s vernichten.
Der Rhein wird gestaut. Florenz wird verbaut.
Auf’n Petersdom werdn’s verzichten.
Wenn der Papst protestiert, wird er g’haut.

Auf die Champs-Élysées wird ka Wert g’legt,
und das Tivoli wird unter d’ Erd g’legt.
Aus Warschau wird Schutt. Die Schweiz ist kaputt.
Die Grachten erfriern. Die Schweden emigriern.
Dann werd’n militant alle Häuser verbrannt
und als Waren- und Bürohäuser neu eingespannt,

nur der Euro wird leb’n,
nur den Euro wird’s geb’n,
nur der Euro wird zeig’n, was er kann.
Und er kriecht mit Humor
aus der Aschen hervor,
und fangt immer von vorn wieder an.

Mozart verraucht, weil man’n net braucht.
Gleich hinter Mozart raucht Goethe.
Bach wird verjazzt, Rembrandt zerkratzt.
Shakespeare hat auch seine Nöte.
Goldoni und Moliere krieg’n ein neu’n Regisseur.
Nur findet auch der kein Theater.
Denn Theater san g’schlossen, die Museen stehen leer.
Und Buchläden gibt es schon lang keine mehr.
Was braucht ein moderner Mensch Lit’ratur?
Auch von Philharmonikern keine Spur!
Nur der Euro bleibt stark!
Den legt niemand in’n Sarg!
Hast du Euro, dann hast du Kultur.
Der kann Kunst imitiern,
der kann die Politiker schmiern,
der baut Banken zu den Sternen,
baut McDonalds, baut Kasernen,
der schmückt’s Fernsehn mit ein’m Glorienschein:
Man ist stolz, Europäer zu sein!
Für den Euro sterb’n die Poeten,
und zum Euro lernt man beten:
Euro unser, der du bist...
Und dann merkt auch der letzte Tourist,
was Europa ist."
- Georg Kreisler, "Der Euro" -

Altersarmut endlich im Griff

Montag, 12. Dezember 2011

Die Regierungen des Zeitgeistes, die jetzige und die vormalige und vorvormalige, dürfen sich brüsten. Reformen gefruchtet. Die Anpassung des Renteneintrittsalters, die Schaffung eines Niedriglohnsektors und zusätzlich die Umsetzung des SGB II, haben Deutschland wieder wettbewerbsfähig gemacht. Die Lebenserwartung von Geringverdienern hat sich in den letzten zehn Jahren nennenswert verschlechtert. Zwei Jahre weniger als damals leben sie durchschnittlich - und sie sollen später in Rente gehen als damals, zum Ausgleich sozusagen.

Zwischen theoretischem Renteneintritt und Ableben lagen 2001 noch zwölf Jahre. Heute haben sich die Zahlen dramatisch verschoben: zwischen angestrebten theoretischem Eintritt und Ableben sind noch etwa acht Jahre zu füllen. Mit Grundsicherung vermutlich. Womit sich zynisch festhalten läßt, dass die oben genannten Reformen ein mildtätiges Programm sind, denn sie halten Senioren nicht in Altersarmut, sondern katapultieren sie aus ihr heraus. Geradewegs in den Tod. Das sind wahrscheinlich die oft zitierten Initiativen aus Sonntagsreden, die effektiv herauskommen: Altersarmut abschaffen, indem man arme Alte abschafft. Ökonomisch verordnete Euthanasie...

Hier weiterlesen...

Lob auf eine Reform, die gar keine ist

Kürzlich fand sich im Stern ein Lob auf die SPD-Bürgerversicherung. Genau betrachtet war dieses Lob aber nichts weiter als die Bestätigung, dass der neoliberale Esprit immer noch genug Befürworter mit Tastatur kennt, die für den Erhalt des status quo schreiben.

Die neoliberale Trias: Wettbewerb, Zwei-Klassen-Medizin und "Pragmatismus"

Dass die Absichten der SPD sind, den "Wettbewerb im Gesundheitswesen" zu schaffen, erschreckt und wird als Prämisse der Sozialstaatlichkeit nicht mal mehr hinterfragt. Wettbewerb zwischen grippalen Infekten und Ödemen, zwischen Krebs und Agina pectoris - Patienten hätten vermutlich wesentlich andere Sorgen, als zum Wettbewerber ihres Leidens werden zu wollen.

Hier weiterlesen...

Das eingeschnappte Lebensgefühl

Freitag, 9. Dezember 2011

Liest man die Diekmännische, und überfliegt man hierbei auch nur die Aufmacher und Überschriften, so kann leicht der Eindruck entstehen, dass Deutschland ein stets verschmähtes, verlachtes, verspottetes, verarschtes, bedrohtes, ausgebeutetes und despektierlich behandeltes Land ist. Und der Deutsche, er ist der verschmähte, verlachte, verspottete usw. Vertreter seines Landes.

Deutschland contra...

Die Diekmännische Tageszeitung meidet das Bindewort - es gibt kein Und, es gibt nur Gegen; kein Deutschland und die anderen, lediglich ein Deutschland gegen die anderen. Deutschland scheint auf diesen Seiten keinen sicheren und anerkannten Platz in der Welt zu haben; es muß beständig gegen die Verdrängung von diesem Platze kämpfen. Bis in jedes kleinste und belangloseste Ressort ist der Furor, die Welt sei gegen das Deutsche, spürbar. So kann es passieren, dass man alleine an einem Tag vorgesetzt bekommt, dass die EU Deutschlands Exportüberschüsse für bedenklich hält ("Warum gönnt man uns den Erfolg nicht?"), eine deutsche Mannschaft im Europacup verpfiffen wurde ("Was hat der Schiri gegen deutsche Mannschaften?"), irgendein deutscher Funktionär auf Europaebene durch einen anderen Funktionär anderer Nationalität ausgetauscht wurde ("Warum wollen die keinen Deutschen mehr im Amt?") und ein peripheres EU-Land Deutschland dazu verpflichten will, auch Flüchtlinge aufzunehmen, um selbst entlastet zu werden ("Müssen denn immer wir bezahlen?").

Hier weiterlesen...

Vergriffen?

Donnerstag, 8. Dezember 2011

Die verschiedenen Verlautbarungsorgane der deutschen Eliten melden: Guttenbergs Buch vergriffen. Nachdrucke in Arbeit. Bitte Geduld, der Weihnachtsschlager 2011 wird auch Ihren Gabentisch zieren. Kein Fest ohne Uns Karl Theodor - versprochen!

Ich war am Wochenende kurz in der Buchhandlung. Nicht wegen Herrn Baron. Andere Leute von Adel, von geistigen Adel, zogen mich dorthin. Und da lag es: das Evangelium nach Karl, diese apokryphe Schrift, die nun gefunden wurde, um dem biblischen Kanon angegliedert zu werden. Da lag dieses hagiographische Wunder, dieses moderne Jesus-Geschichtlein. Und es lag da nicht als letztes Exemplar herum, als vergessener Packen Papier einer ansonsten vollkommen vergriffenen Schrift. Zentnerweise lag es herum; Buch auf Buch, mehrere Stapel. Zwei Tage später. Wieder war ich in einer Buchhandlung. In einer anderen Buchhandlung. Auch dort einige Kilogramm dieses Evangeliums.

Hier weiterlesen...

De dicto

Mittwoch, 7. Dezember 2011

"Die Anti-Atomkraft-und-Anti-Gorleben-Bewegung aber machte mobil gegen den jüngsten Castor-Transport, als betrauerte sie, dass ihr demnächst der Lebensinhalt abhandenkommt."
- Berthold Kohler, Frankfurter Allgemeine vom 29. Oktober 2011 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Hat die Regierung mit dem Atomausstieg auch gleich noch die Nachwirkungen des atomaren Zeitalters beseitigt? Meiler und Strahlung miteinander abgeschafft? Das könnte man vermuten, wenn man Kohlers Ausführungen liest, die um den verlorenen Lebensinhalt der Anti-AKW-Bewegung schwadronieren.

Hier weiterlesen...

Mit der Steinschleuder

Dienstag, 6. Dezember 2011

Letzte Woche legte David seine Steinschleuder nur kurz zur Seite. Auch das ist notwendig, man kann nicht fortwährend Steine in Goliaths Gesicht katapultieren. Mal braucht es auch Besinnung und Rückschau. Und David blickte hinter sich, erkannte acht Jahre und sah, dass es gut war.
Man würde ihn fragen, warum er sich täglich diesem sinnlosen Unterfangen widmet, weshalb er sich sein Scheitern nicht eingesteht. Der aussichtslose Kampf gegen die Maschinerie der Propaganda könne doch niemals gewonnen werden.

Ist man das? Ist man gescheitert, wenn man Goliath nicht stürzen, kaum taumeln läßt? Trifft das zu? Der besagte David, der im weltlichen Leben als NachDenkSeiten angesprochen wird, er schleudert ja nicht alleine Steine gegen Riesenköpfe. Man benutze den achtjährigen Geburtstag der NachDenkSeiten daher auch dazu, um an all die anderen Davids zu denken, die meist noch kleiner sind als jener Achtjährige. Alle mit Steinschleudern - manche zielen gut, manche besser. Davids, die im irdischen Dasein als Weblogs oder kritischer Journalismus gerufen werden. Viele Davids mit vielen Steinschleudern, die dem Riesen wenigstens Beulen machen.

Hier weiterlesen...

Wieder nur schreiben lassen

Montag, 5. Dezember 2011

Er kann es einfach nicht lassen. Nachdem der Freiherr aus dem Amt schied, über den Atlantik machte, kündigte er noch an, er wolle sich nun an einem Buch üben. Die Vakanz von der Politik würde er nutzvoll verwerten, um ein Buch zu schreiben. Polemiker fragten daraufhin: selbst schreiben oder selbst denjenigen bezahlen, der ein Buch für ihn fertigstellt? Einige Monate ist das nun her und siehe da: sein Buchprojekt entblößt sich als ein lahmes Interview, das man zwischen zwei Buchdeckel band - und er hat sich nicht mal selbst interviewt, sondern sich einen erzkonservativen Journalisten engagiert. Seine damalige Ankündigung, abermals ein Betrug - er wird wohl nimmermehr selbst den Füller schwingen...

So übt sich das gegenwärtig "größte politische Talent" dieses Landes im Comeback. Und der Klappentext "seines" Buches prägt dieselben leeren Worthülsen, die auch er einst fabrizierte. Schon alleine die Aussage, der Freiherr sei das "größte politische Talent": was will man damit eigentlich aussagen? Was hat er geleistet? Eloquent eingeschläfert - feiner Zwirn, teure Brille - penibel gebundener Windsorknoten. Reicht das aus, um das "größte politische Talent" zu sein? Über den "schlechten Zustand der deutschen Politik" spricht er auch, verspricht der Klappentext. Als ob er der Erlöser aus diesen Zuständen wäre. Ausgerechnet einer, der in allen seinen politischen Positionen für Skandale und Affären gesorgt hat.

Hier weiterlesen...

Ich denke ihn mir als Buchstaben

Sonntag, 4. Dezember 2011

Sein Gesicht habe ich nie gesehen. Seine Stimme nicht gehört. Für mich hatte er keinen Körper. Er bestand aus Buchstaben, Zeichen, aus erlesenen, aus bemerkenswerten Texten - er bestand aus Informationen, die ich über ihn hatte. Mittfünfziger. Aus Berlin. Postleitzahl. Ich kannte ihn nur als Zahlenwust. In mein Leben trat er als Zeichensalat, nie als Leib.

Zwei Jahre sind vergangen, seitdem dieser Mensch, den ich nie als Menschen kannte, gestorben ist. Viel ist passiert seit jener Zeit; für die Welt, für mich. Ich habe damals einige elektronische Briefe mit ihm getauscht. Über die Welt, wie sie sich wandelte - über den Sozialstaat, wie er darniederlag - manchmal klitzekleine Privatheiten. Wir besprachen Widgets; wir ereiferten uns über Plug-ins - der Soziolekt des Bloggens. Ich wusste wenig über ihn selbst, viel über seine Denkmuster - ich wusste, ich spürte, dass er ein belesener Geist war. Doch nicht mal seinen Nachnamen kannte ich. Obgleich er nur über den Monitor meines Rechners Gestalt für mich annahm, war das Menschliche, das da von der anderen Seite her durch die Leitung kroch, intensiv spürbar. Eine Bekanntschaft unserer Epoche; eine gesichtslose Bekanntschaft, wie sie lediglich die Ära der allseits bereiten, allseits umsetzbaren Kommunikation erfinden kann.

Hier weiterlesen...

Sit venia verbo

Freitag, 2. Dezember 2011

"Bei einer solchen Wetterlage [Anm.: gemeint ist die gleichgeschaltete Medienlandschaft] ist die Volksbefragung eine charmante, symbolische Geste der herrschenden Klassen an ihr untertäniges Volk - mehr ist es nicht, mehr darf es aus Sicht der Machthaber auch gar nicht sein. Veränderung zugunsten der Menschen, die im wahren Leben leben müssen, bringt sie kaum. Sie wird ein Instrument der Machthaber, mit dem sie allerlei Schweinereien aus ihrem Verantwortungsbereich bannen, dem Volk selbst zuschreiben können, Bevor Basisdemokraten heute in referendarischen Träumen schwelgen, muss davon geträumt werden, wie aus dem Alptraum zu entkommen ist, wie man die Allmacht der Bertelsmänner und Springer hemmen, einschränken und beseitigen kann. Erst hat das Meinungsmonopol zu fallen, damit die Volksbefragung auch eine wirkliche Befragung des Volkes sein kann. Bevor man sich emanzipiert, müssen die Ketten durchtrennt werden - Emanzipation an der Kette gleicht dem Atmen im Sarg."
- Roberto J. De Lapuente, "Unzugehörig: Skizzen, Polemiken & Grotesken" -

Die letzte Patrone

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Sich eine, die letzte Patrone für sich selbst aufzuheben: das ist auch Würde.

Es gibt zweierlei Arten menschlicher Würde. Die eine, sie drängt nicht in Ecken. Ins Elend abgegleitet, einen unanfechtbaren Rechtsanspruch auf Hilfe und Fürsorge zu haben: das ist eine solche Gattung von Würde. Hier tritt man der Not würdig entgegen. Vor dem Elend zu stehen, kurz vor dem Moment, da der Häscher sein Opfer greift und in eine unerträgliche Zukunft verschleppt, die letzte Patrone einzulegen, um sich selbst zu beenden: das ist auch Würde. Eine defensive Würde. Sie wird nicht würdig vertreten, sie weicht unwürdigen Zuständen aber mit einem letzten gebotenen Akt der Würde aus.

Hier weiterlesen...

Wenn schon, dann eine konsequente Frauenquote

Mittwoch, 30. November 2011

Die Frauenquote sei "ein Big Bang", findet Managerin Margaret Haase. Sie sei notwendig, weil Deutschland in dieser Frage "einen solchen Rückstand zu anderen Ländern" habe, dass man nun endlich reagieren müsse. Tatsächlich sind Frauen in den Vorständen der DAX-Unternehmen völlig unterrepräsentiert. Wobei das Wörtchen Repräsentieren Quatsch ist, denn dort werden nicht Geschlechter repräsentiert, sondern das dicke Kapital - und das ist tatsächlich so lange geschlechterblind, wie es Profite gibt.

Haase hat jedoch recht. Die Frauenquote wäre womöglich ein Lösungsansatz, um mehr Gleichheit zu schaffen. Was in deutschen Vorständen geschieht, erleben viel stärker noch die Maurer, Anlagenbauer oder Lackierer. Dort sind fast keine Frauen zu finden. Hartnäckig weigert sich die Männerwelt, diese dampfige, schweißmiefige Welt für Frauen zu öffnen. Harter körperlicher Fron, das soll immer noch Männerdomäne sein. Rückständig könnte man das nennen.

Hier weiterlesen...

Meinsmeinsmeins!

Dienstag, 29. November 2011

In Frankfurt geht man ins MyZeil. Bei MeinWeltbild bestellt man sich MySims. Via MyDays bucht man sich Erlebnisgeschenke. Bei MyVideos begafft man Millionen Kurzfilme. Meinsmeinsmeins... die Konsumwelten verinnerlichen die Egomanie nun vermehrt auch im Produktnamen. Wie Pilze schießen MyKaufhäuser und MeinKataloge aus dem fruchtbaren Boden des Reibachs. Sie sättigen sich nicht am Kunden, sie versprechen ihm, er gehöre zum Produkt, wie das Produkt ihm gehöre.

Genosse Kunde

Der Konsument wird sprichwörtlich zum Teilhaber gemacht. Das Produkt oder die Stätte des fortwährenden Glücks, der Konsumtempel letztlich, ausgestattet mit dem Possessivpronomen, es erklärt dem Kunden: hier bist du nicht nur Kunde, die bezahlende Inanspruchnahme eines Gutes, hier bist du nicht nur uns finanzierender Gast - hier gehörst du dazu. Ganz gezielt installiert man das Meinsmeinsmeins in das Produkt oder die dazugehörige Vertriebsstätte. Der Kunde soll nicht glauben, er gehe in das Einkaufszentrum, um dort zu bezahlen und zu verwerten: er soll meinen, seinen eigenen Glückstempel zu betreten.

Hier weiterlesen...

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP