Die letzte Patrone

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Sich eine, die letzte Patrone für sich selbst aufzuheben: das ist auch Würde.

Es gibt zweierlei Arten menschlicher Würde. Die eine, sie drängt nicht in Ecken. Ins Elend abgegleitet, einen unanfechtbaren Rechtsanspruch auf Hilfe und Fürsorge zu haben: das ist eine solche Gattung von Würde. Hier tritt man der Not würdig entgegen. Vor dem Elend zu stehen, kurz vor dem Moment, da der Häscher sein Opfer greift und in eine unerträgliche Zukunft verschleppt, die letzte Patrone einzulegen, um sich selbst zu beenden: das ist auch Würde. Eine defensive Würde. Sie wird nicht würdig vertreten, sie weicht unwürdigen Zuständen aber mit einem letzten gebotenen Akt der Würde aus.

Menschenwürde, wie sie die manchmal zu theoretische Demokratie versteht, ist ein Rechtsanspruch - Menschenwürde, wie sie die Kräfte des freien Marktes verstehen, ist ein Revolver mit einer letzten Patrone, den man für den Fall der Fälle in der Schublade aufbewahrt. Sinnbildlich. Aber auch als konkrete Vorstellung in den Gedankengängen mancher neoliberaler Missionare und Markttheologen. Sie empfänden es als würdige Handlung, wenn Menschen, die aus der Produktivität fielen, noch einmal einen produktiven Augenblick hätten. Wie auch immer sie sich dann auch wegmachen - man ist ja liberal, man kann sich aussuchen, wie man verschwindet. Revolver oder Madagaskar, Schlinge oder unter die Brücke. Würde, wie sie sie verstehen: keine Unkosten erzeugen.

Von spätrömischer Dekadenz haben sie ja bereits gesprochen. Römischen Bürgern, die gesündigt, die empfindlich gegen den Kodex der römischen Gesellschaft verstoßen haben, wurde eine letzte Chance erteilt. Der Sünder konnte sich das Leben nehmen und sein Ansehen bleibt erhalten. Würde, die sich durch geöffnete Pulsadern schleicht. Frei nach Mario Puzo wissen wir, dass auch die Mafia dieses würdevolle Verhalten honorierte. Damals, im zweiten Paten, als Tom Hagen Frank Pentangeli eröffnete, dass seine Würde und die seiner Familie erhalten bliebe, wenn er sich nicht weiter erhalten würde. Ob die, die römische Dekadenz in der staatlich verordneten Armut witterten, ob diese sozialdarwinistischen Romanisten wohl auch an die blutige Würde römischer Bürgersleut' dachten? Es steht doch außer Frage für diese Leute, dass Personen, die ihre Arbeit verlieren und damit ihre Würde, die schwerste aller Sünden begangen haben. In einem System, das Arbeit adelt und für den götzenhaft verbrämten Lebenssinn schlechthin erachtet, da ist es schon mehr als eine Ordnungswidrigkeit, plötzlich ohne Arbeit zu sein. Blasphemie!

Ist nicht die alte japanische Tugend, jene, die sich im Bushido nachblättern läßt, etwas, das wir auch hier verinnerlichen sollten? Verliert man die Würde, die einem nur durch den Verlust der Arbeit abhanden kommen kann, so verliert man sein Gesicht nicht, wenn man es von der Erde tilgt. Bei Arbeitslosigkeit: Selbsttötung - in Japan soll das nicht selten vorkommen. Hier noch zu selten; sehr zum Leidwesen der neoliberalen Weltenlenker.

Daher die Sozialwesen und die Fürsorgen so gestalten, dass man nicht zu würdig lebt. Das wäre ja kontraproduktiv. Mehr Beschäftigung schaffen, damit diejenigen, die ins soziale Loch fallen, auch wieder Hoffnung haben: auch das wäre nur kontraproduktiv. Wie lassen sich denn Börsengewinne notieren, wenn nicht durch Abbau von Arbeitsplätzen? Wer personell aufstockt, der stockt auch Verluste auf, der macht, dass die Anleger mehr als verstockt reagieren. Der neoliberale Eifer weiß, dass er staatlich finanzierte soziale Auffangbecken, wenn schon nicht abschaffen kann, so doch modifizieren. Sie dürfen nicht in Würde leben lassen, sondern die Option attraktiv machen, sich würdevoll aus dem Leben zu verabschieden. Kein Rechtsanspruch sollen sie sein, sondern letzte Patrone. Der Sozialstaat soll aktivieren, meinen die neoliberalen Stimmen. Verständlich gemacht heißt das, dass er so verstümmelt werden muß, dass er zum Selbstkostenpreis läuft. Er soll den Leistungsberechtigten bildhaft machen, dass ein letzter würdevoller Schuss, ein wenig von diesem römischen Stolz, sich bei Sünde gleich selbst mit dieser aus der Welt zu verabschieden, eine annehmbare Option ist. Aktivieren soll er: die letzte Patrone...



13 Kommentare:

Anonym 1. Dezember 2011 um 10:44  

vielen dank für den schönen text.

Trojanerin 1. Dezember 2011 um 12:23  

„Ins Elend abgegleitet, einen unanfechtbaren Rechtsanspruch auf Hilfe und Fürsorge zu haben: das ist eine solche Gattung von Würde. Hier tritt man der Not würdig entgegen.“

Genauso sollte es sein. In der Realität wird dem neoliberalen Zeitgeist entsprechend, immer mehr Menschen die Würde abgesprochen. Die Würde des Menschen ist unantastbar verkommt zu einer Floskel. Die Entscheidung, sterben zu wollen, ist eine höchst persönliche Entscheidung und darf niemanden aufgezwungen werden. Wenn man Menschen, die aus welchen Gründen auch immer von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, das Leben so unerträglich wie möglich macht, indem man beispielsweise die Krankenbehandlung nicht finanzieren will, indem man keine existenzsichernden Unterhaltsleistungen gewährt, indem man die Menschen im Pflegefall dahinvegetieren lässt usw, dann ist das unwürdig.
Wenn solche Menschen dann keinen anderen Ausweg sehen, als herbeizusehnen, ein solches Leben zu beenden, dann weil ihnen das Leben so unerträglich wie möglich gemacht wird. Zumindest denke ich das. Es gibt ja auch Erkenntnisse der Hospizbewegung, die besagen, dass die meisten Patienten keine lebensverkürzenden Maßnahmen wünschen, wenn die Schmerzen ausreichen therapiert werden und die psychosoziale Betreuung angemessen ist.
Die Frage nach der Würde in einer bestimmten Situation ist häufig eine Frage der Betrachtungsweise. Da ich selbst schon einmal im Koma gelegen habe, an Schläuchen angeschlossen von meinen Angehörigen als unheimlich leidend wahrgenommen wurde, habe ich meine Situation jedoch nie als Würdelos empfunden.
Was bringt die an den Kräften des freien Marktes orientierte Menschenwürde? Das Sterbehilfeautomaten in den Eingangsbereichen von Pflegeheimen stehen, das arbeitslosen Menschen die existenzsichernden Leistungen auf null gekürzt werden dürfen, das Eltern sich rechtfertigen müssen, warum sie ein behindertes Kind nicht abgetrieben haben.

Anonym 1. Dezember 2011 um 13:42  

Wenn es "neoliberale Weltenlenker" gäbe, würden sie die Kurse ja unaufhaltsam nach oben lenken. Dass das nicht stattfindet, zeigt nur, dass es sie nicht gibt, die neoliberalen Weltenlenker. Möchtegern-Weltenlenker allenfalls.

Sozialverträgliches Ableben finde ich nicht völlig verkehrt, wenn man bedenkt, dass im letzten Lebensjahr durchschnittlich soviele Mittel zur Lebenserhaltung aufgebracht werden müssen wie im gesamten Leben zuvor. Wenn man sich nur sicher sein könnte, über den sicheren Abtrittszeitpunkt, dann könnte man die teueren letzten Wochen oder Monate schon mit gutem Gewissen zum Wohle der Menschheit abkürzen.

Anonym 1. Dezember 2011 um 13:47  

Bin seit zwei Jahren arbeitslos und habe mit fast 54 Jahren sicher keine Aussicht mehr auf einen befriedigenden Arbeitsplatz. Ich bin wie Viele, nur noch ein Restposten auf diesem "Markt", der zum "Verwursten" auch nicht mehr geeignet ist.

Meine Psyche würgt mich Tag für Tag und ich denke oft an die erlösende Patrone, um u.a. auch der Garotte des Mobbcenters zu entkommen!

mann_von_nebenan 1. Dezember 2011 um 14:13  

Ein gruselig schöner Text, ganz nah
an der Realität, die er abbildet!

Wie oft schon habe ich in Online-Kommentaren den schaurigen Satz lesen müssen: >… ein Arbeitsloser hat keine Würde …<.

Er ist geradezu zur (spät)römischen Sigle geronnen …

Und diese Haltung trägt Früchte:
wieviele ALG II-Betroffene haben sich schon die letzte Patrone auf die eine oder andere Weise einverleibt!

Anonym 1. Dezember 2011 um 16:34  

Bitter, der Text, ist ein bitteres Thema, die angeblich unantastbare Würde des Menschen.

Er soll den Leistungsberechtigten bildhaft machen, dass ein letzter würdevoller Schuss, ein wenig von diesem römischen Stolz, sich bei Sünde gleich selbst mit dieser aus der Welt zu verabschieden, eine annehmbare Option ist. Aktivieren soll er: die letzte Patrone...

Eigentlich ist es so, dass man ihnen damit auch noch die "letzte Kugel" aus der Hand nimmt, so man die Würde, welche einigen noch geblieben sein mag, nicht gönnt.

Man verdammt sie dazu langsam zu sterben (an Körper, Geist und damit der Würde), oktroiert ihnen eine "fremde letzte Kugel, damit nicht ein Zipfel von der Würde des Menschen übrig bleibt.

Nicht umsonst schrieb man in Art. 1 Abs. 1 GG:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Ist sie doch stetig Angriffen ausgesetzt. Sie mag häufig als letzte Bastion wohl fallen, doch eigentlich ist sie erstes Angriffsziel. Alles andere ist nur der Weg dorthin.

@Anonym 1. Dezember 2011 13:47:
"Meine Psyche würgt mich Tag für Tag und ich denke oft an die erlösende Patrone, um u.a. auch der Garotte des Mobbcenters zu entkommen!"


Kann es verstehen, doch tun sie es nicht. Es ist nicht Ihre Kugel, die sich dort bietet, es ist eine, die ihnen "die Gewalt" in die Hand drückt.

Wir sind es nicht gewöhnt, uns anders als Menschen zu definieren. Man erzog die Menschen der Industrienationen derartig, uns nur über die äußere, gesellschaftskonforme Betrachtungswelt zu definieren und nur darin unsere Sinn der Existenz zu sehen. Und wir bleiben zu häufig allein, um uns da von selbst heraus zu ziehen bzw. heraus ziehen zu können. So kreisen unsere Gedanken immerfort nur um dieses Thema.

Man braucht andere Gedanken, einen anderen Sinn. Wohl wahr, sicher nicht leicht, einen solchen zu finden (unter solchen Umständen schon gar nicht). Zumal man sich so alleine (zumindest dürfte man sich so fühlen) selten dazu aufraffen kann, einen solchen zu suchen.

Kann nur darum bitten, was kann ich von diesem Ort aus auch mehr tun ...

Um den Blick für anderes zu öffnen hilft es einigen - das ist natürlich völlig individuell, charakterbedingt und nach entsprechender Emotionslage ausgerichtet (soll wohl aber überzählig funktionieren können ... auch wenn es platt, simpel und mehr wie eine Phrase klingt), sich an einem Tag, für 3 bis 5 Stunden in einem Wald (oder ähnliches ... was man bevorzugt) aufzuhalten. Ohne Menschen, ohne die üblichen Reize, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind, die einfach alles überlagern und den Blick für anderes versperren. Wir sind so konditioniert, kann man formulieren, um darin zu funktionieren, zumindest solange wir das tun (das ist unabhängig davon, ob wir das alle schadlos tun).

Als Alibi lässt sich bspw. eine kleine Kamera mitnehmen. Selbst dann, wenn man gar nicht weiß, was man damit fotografieren soll oder sich für völlig untalentiert hält (dient nur dem offenen Blick ... die Suche nach möglichen Motiven ... Das Ergebnis "schöne Bilder" ist hierbei wurscht).

Nur vorab - für den Fall der Fälle - es tut mir leid, wenn es naiv und banal klingt ...u.U. gar zynisch ... doch eigentlich ist es weder das eine, noch das andere.

Gruss
rosi

Anonym 1. Dezember 2011 um 16:56  

1. Dezember 2011 13:42 @Anonym hat gesagt...

"Wenn es "neoliberale Weltenlenker" gäbe, würden sie die Kurse ja unaufhaltsam nach oben lenken. Dass das nicht stattfindet, zeigt nur, dass es sie nicht gibt, die neoliberalen Weltenlenker. Möchtegern-Weltenlenker allenfalls."

Das ist nicht wichtig, in erster Linie zählt der Beweggrund und der spiegelt sich nur als Ergebnis/Symptom einer Kausalkette in Kurssteigerungen wider.

Der Beweggrund liegt im Lenken selbst, der Weg hierzu ist das neoliberale Motto, das Ergebnis ist der Kurs und der kann halt schwanken. Das ist i.Ü. Teil des Programms, denn auch bei den "neoliberalen Weltenlenkern" gilt teile und herrsche nur, solange sich nicht die Möglichkeit ergibt, dies zu seinen Gunsten zu beinflussen. Die Schwankungen könnte man (u.a.) als den ständigen Kampf untereinander bezeichnen. Als würden sich die Haie nicht bereits im Mutterleib angreifen und sogar verzehren ...

"Sozialverträgliches Ableben finde ich nicht völlig verkehrt, wenn man bedenkt, dass im letzten Lebensjahr durchschnittlich soviele Mittel zur Lebenserhaltung aufgebracht werden müssen wie im gesamten Leben zuvor. "

Ja wenn man den Menschen im Sein nur als ökonomischen Faktor sieht ... wie es eben neoliberal in seinem Menschenbild macht ... dann wundert mich das jetzt nicht.

In vielen Kulturen, gerne auch in der Vergangenheit, hatte Alter einen ganz anderen Status.Natürlich, man starb schneller.

Wir haben das doch so eingerichtet. Heute verdient man mit der Lebensverlängerung natürlich auch Geld, bis zum letzten Atemzug quasi. Kann man nicht mehr daran verdienen, werden sie lästig. Das kann man den älteren Leuten nicht wirklich anlasten, sie sind nur Mittel zum Zweck.

Denn das:
"Wenn man sich nur sicher sein könnte,... "

kann man eben nicht bzw. selten und dann ist noch die Frage, ob man gerade Herr der Lage ist.

Ganz davon abgesehen, dass es - wie die Kommentatorin @Trojanerin schon schrieb - einer höchst individuellen und subjektiven Betrachtung zugrunde liegt. Ein jeder hat da eine andere Einstellung, Grenze, das Leiden ist ein anderes oder wird zumindest subjektiv empfunden, einer hat mehr Lebenswille, als ein anderer usw..

Das macht auch das Thema mit der Sterbehilfe so schwierig ... vom möglichen Missbrauch abgesehen. Was Würde für den Einzelnen ist, entscheidet jedes Individuum selbst, nur die Rahmenparameter sind dazu deklariert (der bis jetzt erreichte gesellschaftliche Konsens).

Gruss
rosi

Zirkusdirektor 1. Dezember 2011 um 19:12  

"Meine Psyche würgt mich Tag für Tag und ich denke oft an die erlösende Patrone, um u.a. auch der Garotte des Mobbcenters zu entkommen!"

Ich weiss genau wie Du Dich fühlst. Geht mir genauso. Was mich bislang abhält, ist meine Wut und Verachtung gegenüber einem widerwertigen System und Ihre ebensolchen Anhänger.

Trojanerin 1. Dezember 2011 um 20:52  

@ Anonym 13:42
Sozialverträgliches Ableben ist eine Unwortschöpfung. Wer entscheidet denn, wann es Zeit ist? Die Krankenkasse oder der Steuerzahler?
Was machen Sie dann mit einer 90-jährigen Hospizbewohnerin, die unheilbar und extrem lebenszeitbegrenzend erkrankt ist und um jeden Tag dieses Lebens kämpft. Sagen Sie dann, das geht nun wirklich nicht. Denken Sie doch an die Kosten.
Man kann sich nicht sicher sein, wann und wie der Tod einen ereilt.
Ich habe, als in der Hospizarbeit engagierte Person auch noch nie jemanden kennen gelernt, der Lebenszeit zum Wohle der Menschheit abkürzen wollte. Wenn die Menschen sterben wollen, dann weil sie sehr starke Schmerzen haben, die nicht ausreichend gelindert werden können oder/und weil die psychische Situation unerträglich ist. Die Menschenwürde gebietet es, diese Menschen lebensbejahend zu integrieren aber auch der damit verbundenen Trauer Raum zu geben.

Anonym 2. Dezember 2011 um 08:47  

Lieber Roberto! Dein sonst sehr sensibler Umgang mit Sprache und heiklen Themen läßt heute eine gewisse Stringez vermissen. Wenn ich mir den Duktus Deines Textes und so machen Kommentar ansehe, so fügt er sich randständig in den gesellschaftlichen Diskurs um das Thema "Was ist lebenswertes Leben" ein.

Als Ergebnis intensiver Diskussionen im Antifa-Spektrum unter Berücksichtigung der Publikationen von Oliver Tolmein und einem sozialen Klima, in dem der Wert des Lebens immer stärker nach seinem ökonomischen Nutzen beurteilt wird, verbietet sich für mich jegliche Diskussion darüber. Auch darüber, ob das Individuum -nicht gefragt, ob es auf diese Welt kommen soll-
über seinen Abgang aber selbst entscheiden darf.

Das würde im Extremfall dazu führen, dass der Suicid eines temporär depressiven, aber ansonsten organisch völlig gesunder Menschen, der keinen Sinn mehr in seinem Leben sieht, gesellschaftlich gutgeheißen wird.

Der Trojanerin muss ich insofern widersprechen, dass es gerade der neoliberale Zeitgeist ist, der ein Klima -einen Druck- erzeugt, dass todkranke und gebrechliche pflegebdürftige alte Menschen sich nur noch als Last empfinden, wenn eine reiche Gesellschaft in sie investieren muss.

ad sinistram 2. Dezember 2011 um 09:18  

Es verbietet sich nicht jegliche Diskussion darüber, weil ich auch gar keine Diskussion führe. Ich schrieb von zweierlei Würdedefinitionen, die es zu geben scheint. Da gibt es die, die das GG meinen könnte, so wie man es als Mensch jedenfalls verstehen will, dieses GG. Und dann gibt es die römische, die dem Würdebegriff des Neoliberalen ähnelt.

Die Würde habe vor Jahrzehnten die gewahrt, die nicht den Folterknechten in die Hände fielen wollten - das mal nur am Rande.

Aber ich glaube auch nicht, dass es per se der Neoliberalismus ist, der den Druck auf Menschen erhöht, die sich nutzlos fühlen. "Unnütze Esser" gab es als Begriff schon vor den Nazis. Oft in der Landwirtschaft, wo spärlicher Ertrag auch mit denen geteilt wurde, die aufgrund von Alter nicht mehr arbeiten konnten. Die Industrialisierung hat die Lebensmittelknappheit beseitigt - sich selbst als nutzlos zu erachten, sollte damit eigentlich getilgt sein. Es gibt ja keine Basis mehr dafür in einer Gesellschaft, die überproduziert. Man muß dem Neoliberalismus nicht zum Vorwurf machen, dass er Menschen für nutzlos erklärt - man muß ihm zum Vorwurf machen, dass er Atavismen beibehält, die aufhebbar wären und teilweise schon aufgehoben waren.

Ich gebe Dir aber insofern recht, dass mancher Kommentar einem Denken Ausdruck verleiht - ungewollt wahrscheinlich -, dass lebenswertes Leben immer mit der ökonomischen Lage zusammenhängt. Da wären wir letztlich bei der Selbsttötung angelangt, die nicht lediglich geschieht, weil man verarmt. Die Gründe sind mannigfaltig und jeder ehrliche Mensch hat in seinem Leben schon mal mit dem Gedanken gespielt, da darf man sich sicher sein. War es immer die Armut und die soziale Ausgrenzung, als man dieses Gedankenspiel absolvierte? Oder war es die Liebe? Die fehlende Liebe? War es einfach Depression? Die Gründe sind mannigfaltig.

Der Text hat nichts mit lebenswert oder nicht lebenswert zu tun. Er soll nur sagen, dass der Neoliberalismus an einer Denkweise festhält, die den Armen sagen will: nehmt doch eine letzte Patrone. Und die würden sie ihm auch noch bezahlen, naja... vorstrecken und bei Ableben den Regelsatz für die ausstehenden Tage des Monats, die man nun nicht mehr lebt, wieder zurückholen.

Anonym 2. Dezember 2011 um 10:09  

Roberto: Letzter Absatz d`accor.

Ludwig Trepl 4. Dezember 2011 um 11:30  

Es gibt zwei Arten von Würde: Erstens die Amtswürde; die haben einige, andere nicht. Zweitens die Menschenwürde; die haben alle. Was im Artikel noch genannt wird, die römische bzw. Mafia-Würde, ist gar keine, sondern Ehre. Das steht es ja auch im Artikel: „Der Sünder konnte sich das Leben nehmen und sein Ansehen bleibt erhalten.“ Die Menschenwürde wird vom Ansehen überhaupt nicht berührt, sie kann gewahrt bleiben, auch wenn einen alle verachten.

Was hier dem Neoliberalismus zugerechnet wird, gilt für den Liberalismus insgesamt: „Daher die Sozialwesen und die Fürsorgen so gestalten, dass man nicht zu würdig lebt. Das wäre ja kontraproduktiv.“ Das haben die Liberalen, die Whigs – gegen die Konservativen – schon im 18. Und 19. Jahrhundert in England nachdrücklich vertreten.

„Man muß dem Neoliberalismus nicht zum Vorwurf machen, dass er Menschen für nutzlos erklärt - man muß ihm zum Vorwurf machen, dass er Atavismen beibehält“. Das scheint mir zu sehr vereinfacht. Gewiß gab es die Vorstellung vom nutzlosen Esser schon seit eh und je, aber eher als Ausnahme. In den meisten Stammesgesellschaften hat man die Nutzlosen unter großen Opfern am Leben gehalten, und in Gesellschaften von der Art der mittelalterlichen war der Gedanke nutzlos=überflüssig sicher durch die Not verursacht vorhanden, aber nicht in der offiziellen, bei uns katholischen Ideologie. Dieser Gedanke wurde in der Tat erst durch den Liberalismus auf der Ebene des sozusagen offiziellen Denkens einflußreich.

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