Sit venia verbo

Montag, 1. November 2010

"Es gab während seiner [Anm.: das Heilige Römische Reich] langen Geschichte keinen Versuch, die Vielfalt zu vereinfachen. Ein Reich, in dem nur eine Sprache gesprochen würde, erschien dem heiligen König Stephan von Ungarn um das Jahr 1000 als schwach und zerbrechlich. In der Welt als Geschichte entwickelte sich nach damaliger Überzeugung das Leben in Vielfalt, die schützenswert ist, weil alles Einfältige monoton, erstarrt und leblos wirkt. Das Alte Reich und die aus ihm hervorgegangene Monarchie des Hauses Österreich widersprechen vollständig dem neuen Geist der Vereinfachung, der Rationalisierung und der Nationalisierung. Deshalb irritierten das Heilige Römische Reich und die Monarchie des Hauses Österreich die Norddeutschen als unnational, unvernünftig und unnatürlich, da Vernunft und Natur ein und das Gleiche sein sollte, veranschaulicht durch den nationalen Vernunftstaat.
[...]

Die nationalen Kulturprotestanten bestimmten, wer intolerant war und sich wegen unnationalen Verhaltens verdächtig machte. Sie übertrugen einen ganz modernen, revolutionären Begriff, die eine unteilbare Nation, in die Vergangenheit und verwarfen die Reichs- und Kaisergeschichte als ununterbrochenen Irrweg und Verrat an Deutschland. Gegenströmungen, wie sie sich in der Berliner Romantik äußerten, blieben weitgehend folgenlos, weil sie die mittelalterliche Kaiserherrlichkeit vorzugsweise ästhetisierten und zu gefälligen Nürnberger Tand enthistorisierten.
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Die innerdeutsche Auseinandersetzung um die angeblich verfehlte nationale Geschichte verdunkelte unweigerlich deren besonderen Vorzüge und Vorteile. Die Deutschen lebten nie abgesondert für sich. In ihrem Königreich wohnten sie zusammen mit Tschechen, Slowenen, Flamen, Franzosen, Dänen oder Italienern.

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Der Nationalismus, den die Deutschen nach Mitteleuropa brachten, stürzte die durcheinanderwohnenden Völker in entsetzliche Gegensätze und Katastrophen. Der Nationalstaat setzte sich dennoch durch. Er hat keiner der Nationen Glück gebracht. Enttäuscht, verletzt, gereizt, mit sich selbst beschäftigt, leben die Nationen bis heute nebeneinanderher. Die ehedem gemeinsame Vergangenheit ist ihnen fragwürdig geworden, und sie wissen nicht so recht, wie sie sich einer Welt von gestern wieder annähern können, in der doch das Vermächtnis der Habsburger die Anknüpfungspunkte für eine Welt von morgen vorhanden ist."

- Eberhard Straub, "Die Welt der Habsburger" -

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