Sklaven der Landstraße
Samstag, 6. November 2010
Unendlich scheint es her, da nahm man sie als Helden, als Giganten der Landstraße wahr. Damals glichen die Velozipedisten, so ihr etwas altertümlich klingender Name, den heutigen Radsportlern wenig. Nicht nur optisch: denn sie waren tatsächlich Heroen, die Ersatzteile mit sich, nicht im Begleitfahrzeugen - die es gar nicht gab - mitführten, Fahrradschläuche wie eine Schärpe um sich gewickelt hatten, anfallende Reparaturen während des Rennens selbst leisten mussten - die überdies lange noch ganz ohne Gangschaltung auskommen, sich dessenungeachtet trotzdem ungepflasterte, nicht asphaltierte Berghänge hinaufquälen mussten. "... unnötige Helden, Helden dennoch", schrieb der französische Sportreporter André Reuze 1928 über diese heroische Epoche des Radsports. "... héros inutiles, héros quand-même"...
Giganten der Landstraße nannte er sein fast schon epochales Meisterwerk. Trotz allem, Giganten sind die heutigen Radsportler nicht weniger - am Ende einer zwei- oder dreiwöchigen Rundfahrt den Zielort zu passieren, gleichgültig ob auf dem Treppchen oder als Wasserträger, der in den Spezialkategorien unter "ferner fuhren" zu finden ist: eine gigantische körperliche Leistung, ein gigantischer Wille ist heute immer noch notwendig, um die Schmerzen, den Gegenwind und natürlich die Einsamkeit des Radrennfahrers zu ertragen. Die Velozipedisten der Neuzeit sind nicht jene der heroischen Epoche - sie haben sich verändert, sie schweißen nicht, wie es die mittlerweile schon berüchtigte Legende des vieux galois Eugène Christophe erzählt, jeden Gabelbruch selbst zusammen. Das sicher nicht! Aber das saisonale Pensum und der somit einhergehende Raubbau am eigenen Körper sind dennoch fast schon heldenhaft.
Giganten wären auch die heutigen Fahrer - andere als damals sicherlich, nicht aber verweichlichter. Der verklärte Blick zurück ist auch im Sport oft milchig. Früher war nicht alles besser: es war alles anders! So wie heute alles anders ist, wie es morgen sein wird - heute ist die gute alte Zeit von morgen, hätte Karl Valentin in getragener Ernsthaftigkeit kalauert. Sie wären Giganten - sind es aber nicht, dürfen es nicht sein. Die Giganten der Landstraße sind zu Sklaven der Landstraße geworden. Sklaven, die man ohnedies seit Jahren wie Kriminelle behandelte: dem Antidopingwahn sei dank! Es ist ja ehrenhaft, sich zum Anwalt sauberen Sports zu machen. Aber Radsportler nackt aus ihren Zimmern zu treiben, wie es schon mehrfach geschah; sie unter Generalverdacht zu stellen, wie es Sportverbände und Medien ständig tun: das führt zu weit. Selbst das in dubio pro reo ist außer Kraft gesetzt - im Zweifel ist man nicht freigesprochen, man ist Dopingsünder; einer, dem man ächtet, weil er nicht mal die Courage besitzt, sein schlimmes Verbrechen zu gestehen. Im Jahr 1998, damals als Marco Pantani einen Hungerast Ullrichs gnadenlos ausnutzte, sich in die Palmarés der grande boucle, der Tour de France fuhr, machte sich das halbe Fahrerfeld auf den Heimweg, nachdem die Dopingfahnder mit den Fahrern wie mit Kriminellen umgesprungen waren. Entweihte Giganten, Sklaven der öffentlichen Moral, die nun auch um ihren wichtigen Erholungsschlaf gebracht werden können, wenn es die Dopingkontrolleure so wünschen.
Betrüger, alles Betrüger!, wissen auch die Zuschauer. Alle dopen schließlich. Das kann ja durchaus stimmen, es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass sich schier alle Fahrer leistungsfördernde Mittelchen eintrichtern. Dann tritt die Öffentlichkeit moralisch auf, schimpft auf den Radsport generell und seine haltlosen Sitten im Einzelnen, auf diesen unmöglich betrügerischen Schwindelsport als Auswuchs sportlicher Maßlosigkeit. Gleichzeitig aber giert dieselbe Öffentlichkeit nach Sensationen, nach Rekorden, nach Siegen und magischen Sportmomenten. Man will Höchstleistungen sehen, der zweite Platz ist der erste Platz im Feld der Verlierer. Jan Ullrich weiß das, er ist nach Raymond Poulidor der Rekordhalter für den zweiten Platz bei der Tour de France - "unser Jan" war er im Erfolg, Ullrich rief man ihn nur, wenn man von seiner Leistung enttäuscht war; enttäuscht war, obwohl er jahrelang erfolgreich in der Weltspitze mitfuhr, ohne nochmals nach 1997 die grande boucle zu gewinnen.
Seinen zweiten Platz 1996 bejubelte man noch wie einen Sieg; damals war Ullrich eine Sensation, ein Hoffnungsträger, der die Zukunft des deutschen Radsports dominieren sollte; ferner war er der Bezwinger des großen Miguel Indurain, fuhr ihn beim Einzelzeitfahren in Grund und Boden - außerdem hatte sich seit Kurt Stöpel 1932 kein Deutscher mehr den zweiten Platz der Gesamtwertung gesichert. Und dann geschah das, was kühnste Experten bereits erahnt, nicht aber so früh erwartet hatten: Ullrich gewann im Jahr darauf die Tour de France. 1997 war das! Alle zweiten Plätze danach, 1998, 2000, 2001 und 2003 waren eine herbe Enttäuschung für die deutsche Öffentlichkeit. Vom dritten Platz 2005 oder vom vierten Platz 2004, auch umwerfende Leistungen bei einem solchen Rennen, ganz zu schweigen - die waren für die deutschen Medien nicht nur Ausdruck für Ullrichs fehlende Form, sondern für seinen angeblich schlechten und lotterhaften Lebenswandel.
Der Erfolgsdruck macht mürbe und treibt sicherlich nicht wenige Sportler in die Dopingküchen dieser Welt. Fragte sich die deutsche Presse nur einmal, weshalb Ullrich gedopt haben könnte? Dass er gesündigt hat, das steht für die Medien jedoch fest, auch wenn kein Gericht darüber befand. Könnte man bei dieser selbstgerechten Gewissheit nicht wenigstens verlangen, dass nach dem Warum gefragt wird? Nein, kann man nicht! Der Sklave der Landstraße darf pedalierend entzücken, darf ein pédaleur du charme sein - er soll begeistern, er soll Freude bereiten, er soll Erfolge einfahren. Und er soll sich gefälligst nachts nackt aus dem Bett treiben lassen, schlaftrunken in Becherchen schiffen und Fragen beantworten: der saubere Sport hat es verdient, da muß der Mensch, dessen einziges Verbrechen darin bestünde, sich selbst körperlich zu ruinieren, zurückstehen. Für einen sauberen Sport darf der Sportler unsauber behandelt werden - so jedenfalls die allgemeine Sichtweise. Der Zweck heiligt die Mittel!
Armselige Giganten sind das, die da wie Vieh aus den Betten gescheucht werden. Dass mit Mitteln gepuscht wird, ist nichts Neumodisches. Schon der fünfmalige Toursieger Anquetil spöttelte in den Fünfzigerjahren, dass man mit Wasser keinen Klassiker wie Bordeaux - Paris, immerhin über 600 Kilometer, die an einem Tag zu fahren sind, nicht runterreißen könne - geschweige denn gewinnen. Tom Simpson fiel dann 1967, beim Aufstieg auf den Mont Ventoux, tot vom Rad - er war voller Aufputschmittel, die er mit Alkohol hinabgespült hat. Doping ist also fürwahr keine Neuheit; aber mit dieser selbstgerechten Penetranz wurde es noch nie verfolgt.
Radsportler neigen, so wirkt es jedenfalls oft, zur Melancholie; sie sind keine Platzhirschen und drängen sich auch nach Karriereende wenig in die Öffentlichkeit - einen Matthäus oder Klinsmann, einen Becker oder Stich, Schumachers oder Maskes findet man im nachkarrieristischen peloton kaum. Der Radsport ist ein einsamer Sport, wenngleich er als Mannschaftssport betrieben wird - die Einsamkeit auf dem Sattel, der den Hintern schmerzen läßt, zusammengedrückte Hoden, die gesamte verkrampfte Körperhaltung überhaupt: fürwahr héros inutiles! Die Depression ist ein alter Bekannter des Radsportlers, wenngleich man, wie im Falle Marco Pantanis, der tot in einem Hotelzimmer gefunden wurde, oder José María Jiménez', der in einer Psychatrie starb, man stets betonte, dass deren schwere psychosomatischen Probleme auf den exzessiven Dopingmissbrauch zurückzuführen sind, so muß doch gefragt werden, weshalb Radsportler stets aufs Neue den Freitod suchen: Hugo Koblet, Toursieger von 1951 beendete sein Leben ebenso von eigener Hand, wie sein Nachfolger von 1973, Luis Ocaña; Ende der Neunzigerjahre machte Thierry Claveyrolat seinem Leben ein Ende, zuletzt dann Dimitri De Fauw - die jeweiligen Gründe sind mannigfaltig, aber zu erkennen ist schon, dass der Radsport sensible Charaktere birgt, dass dieser Sport an sich melancholisch stimmen kann. Wenn man da so mutterseelenallein pedaliert, in Tälern, auf Bergen, wenn man sich als Einzelkämpfer durch gigantische und pittoreske Landschaften strampelt, dann hat das etwas Erhabenes, etwas Unvergleichliches - aber man wird auch auf seine Nichtigkeit zurückgeworfen, der Kampf gegen die Strecke ist manchmal ein wirklich existenzielles Ringen. Wie verschärft dieses romantisch-rauhe Klima des Velosport wird, lassen Rasmussens Selbstmordgedanken vermuten - nachdem er des Dopings überführt wurde, damit faktisch zum Verbrecher und zum Freiwild der Postillen herabsank, hätte auch er sich fast eingereiht in die Riege der velozipedistischen Suizidanten.
Ullrich nicht in Form, Fragezeichen (großes, verlogenes, heuchlerisches Fragezeichen!), musste man zu dessen Karrierezeiten häufig lesen. Nicht in Form, weil er Zweiter war; Zweiter in Alpe d'Huez, Zweiter beim Einzelzeitfahren, Zweiter in der Gesamtwertung - nicht in Form, weil er nur Zweitbester beim schwersten Etappenrennen der Welt war; nur Zweiter von hundertneunzig Fahrern der Weltspitze! Jan, hol dir das gelbe Trikot, Ausrufezeichen (arrogantes und anmaßendes Ausrufezeichen!), las man vor dem Start - da war er noch der Jan, der liebe Bub aus dem Volk, der bodenständige "uns aller Jan", dem man gerne auf Soireen die Hand schüttelte. Als man dann aber im jährlichen Turnus erkannte, dass es für einen zweiten Toursieg nach 1997 nicht reichte, wurde aus dem Jan der Ullrich - am liebsten hätte man ihn gesiezt, diesen Vizepedaleur, der nicht in Form war, nur weil ein anderer - meistens war es Lance Armstrong, Superstar und potenzieller Dopingpapst - in besserer Form fuhr. Einer nur, der besser war; hundertachtundachtzig dahinter, dazwischen der Jan, der nun der Ullrich wurde - und dem man nachsagte, er sei nicht in Form, zu dick, zu schlecht trainiert, nicht hart genug, nicht ausreichend erfolgshungrig, dem man am liebsten, wie einst Udo Bölts beim Aufstieg nach Le Deux Alpes, ein "quäl' dich, du Sau" ins Angesicht rufen wollte. Quäl' dich, du Sau - quäl' dich, gewinne für uns, mach uns glücklich!
Dieses repressive Szenario könnte man fairerweise auch beachten, wenn man heute von Ullrich wie von einem Verbrecher berichtet, von einem ganz verschlagenen, unehrlichen Betrüger, der seine kriminelle Handlung nicht freiweg gesteht, der nicht reuig weint, wie sein ehemaliger Kollege Zabel, als er von seinen Sünden berichtete. Diesem Druck, dem der ohnehin einsame und melancholische Typus Sportler ausgesetzt wird, die unbeschreibliche Sensationsgier der Massen, die an den Landstraßen ebenso gieren wie im heimischen Wohnzimmer, dazu natürlich Sponsoren- und Rennstallerwartungen... ist da der Griff zur Transfusion von behandelten Fremd- oder Eigenblut nicht fast schon konsequent, nicht eigentlich schon Makulatur? Man muß es ja nicht tolerieren - aber begreifen könnte man es schon wollen...
... esclaves inutiles, esclaves quand-même; unnötige Sklaven, Sklaven dennoch - sklavisch haben sie nächtens aus ihren Betten zu staksen, den an die Türe klopfenden Dopingjägern ins Döschen zu urinieren, den Schmerz, die Belastung, den dringend benötigten Schlaf zu unterbrechen, um ihre Unschuld zu beteuern. Am nächsten Vormittag haben sie frisch auf der Rennmaschine zu sitzen, Leistung zu bringen, Berge zu erklimmen und das in sagenhaften Zeitspannen. Und hat die Presse Fotos von der nächtlichen Razzia geschossen, auf denen der nackte Sportler zu begutachten war, sein Gesicht so deutlich abgelichtet wie sein Schniedel, dann soll er diese Indiskretion vergessen und sich auf seine Pflicht konzentrieren: den Sklaventreibern am Rande der Landstraße unvergessliche Augenblicke liefern. Augenblicke, die einem Radsportfreund nicht mehr aus dem Sinn gehen, bis die Hiobsbotschaft erschallt: Dopingverdacht! Dann ist der eben noch unvergessliche Augenblick doch vergessen; dann will sich daran keiner mehr erinnern, weil es ein gedopter Augenblick war, ein infamer Betrug am Sklaventreiber - als ob jeder Schrat, der sich mit Sauerstoff angereichertes Eigenblut einflößen läßt, den Tourmalet oder den Galibier hinaufstürmt wie ein irrer Merckx!
Natürlich, nicht nur der Radsportler wird von uferlosen Erwartungshaltungen erdrückt - aber wenig Sportarten scheinen derart auf das Gemüt zu schlagen. Oder ist es das Gemüt, das einen aktiven und agilen Menschen zum Radsportler werden läßt? Zudem wird in keinem Sport so unverfroren nach Doping gefahndet. Der Radsportler, selbst derjenige, der sich mit unlauteren Methoden, die ihm mehr gesundheitlichen Schaden als sportlichen Nutzen bringen, hervorgetan hat, er ist kein Verbrecher: er ist ein ganz armes Schwein...
Giganten der Landstraße nannte er sein fast schon epochales Meisterwerk. Trotz allem, Giganten sind die heutigen Radsportler nicht weniger - am Ende einer zwei- oder dreiwöchigen Rundfahrt den Zielort zu passieren, gleichgültig ob auf dem Treppchen oder als Wasserträger, der in den Spezialkategorien unter "ferner fuhren" zu finden ist: eine gigantische körperliche Leistung, ein gigantischer Wille ist heute immer noch notwendig, um die Schmerzen, den Gegenwind und natürlich die Einsamkeit des Radrennfahrers zu ertragen. Die Velozipedisten der Neuzeit sind nicht jene der heroischen Epoche - sie haben sich verändert, sie schweißen nicht, wie es die mittlerweile schon berüchtigte Legende des vieux galois Eugène Christophe erzählt, jeden Gabelbruch selbst zusammen. Das sicher nicht! Aber das saisonale Pensum und der somit einhergehende Raubbau am eigenen Körper sind dennoch fast schon heldenhaft.
Giganten wären auch die heutigen Fahrer - andere als damals sicherlich, nicht aber verweichlichter. Der verklärte Blick zurück ist auch im Sport oft milchig. Früher war nicht alles besser: es war alles anders! So wie heute alles anders ist, wie es morgen sein wird - heute ist die gute alte Zeit von morgen, hätte Karl Valentin in getragener Ernsthaftigkeit kalauert. Sie wären Giganten - sind es aber nicht, dürfen es nicht sein. Die Giganten der Landstraße sind zu Sklaven der Landstraße geworden. Sklaven, die man ohnedies seit Jahren wie Kriminelle behandelte: dem Antidopingwahn sei dank! Es ist ja ehrenhaft, sich zum Anwalt sauberen Sports zu machen. Aber Radsportler nackt aus ihren Zimmern zu treiben, wie es schon mehrfach geschah; sie unter Generalverdacht zu stellen, wie es Sportverbände und Medien ständig tun: das führt zu weit. Selbst das in dubio pro reo ist außer Kraft gesetzt - im Zweifel ist man nicht freigesprochen, man ist Dopingsünder; einer, dem man ächtet, weil er nicht mal die Courage besitzt, sein schlimmes Verbrechen zu gestehen. Im Jahr 1998, damals als Marco Pantani einen Hungerast Ullrichs gnadenlos ausnutzte, sich in die Palmarés der grande boucle, der Tour de France fuhr, machte sich das halbe Fahrerfeld auf den Heimweg, nachdem die Dopingfahnder mit den Fahrern wie mit Kriminellen umgesprungen waren. Entweihte Giganten, Sklaven der öffentlichen Moral, die nun auch um ihren wichtigen Erholungsschlaf gebracht werden können, wenn es die Dopingkontrolleure so wünschen.
Betrüger, alles Betrüger!, wissen auch die Zuschauer. Alle dopen schließlich. Das kann ja durchaus stimmen, es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass sich schier alle Fahrer leistungsfördernde Mittelchen eintrichtern. Dann tritt die Öffentlichkeit moralisch auf, schimpft auf den Radsport generell und seine haltlosen Sitten im Einzelnen, auf diesen unmöglich betrügerischen Schwindelsport als Auswuchs sportlicher Maßlosigkeit. Gleichzeitig aber giert dieselbe Öffentlichkeit nach Sensationen, nach Rekorden, nach Siegen und magischen Sportmomenten. Man will Höchstleistungen sehen, der zweite Platz ist der erste Platz im Feld der Verlierer. Jan Ullrich weiß das, er ist nach Raymond Poulidor der Rekordhalter für den zweiten Platz bei der Tour de France - "unser Jan" war er im Erfolg, Ullrich rief man ihn nur, wenn man von seiner Leistung enttäuscht war; enttäuscht war, obwohl er jahrelang erfolgreich in der Weltspitze mitfuhr, ohne nochmals nach 1997 die grande boucle zu gewinnen.
Seinen zweiten Platz 1996 bejubelte man noch wie einen Sieg; damals war Ullrich eine Sensation, ein Hoffnungsträger, der die Zukunft des deutschen Radsports dominieren sollte; ferner war er der Bezwinger des großen Miguel Indurain, fuhr ihn beim Einzelzeitfahren in Grund und Boden - außerdem hatte sich seit Kurt Stöpel 1932 kein Deutscher mehr den zweiten Platz der Gesamtwertung gesichert. Und dann geschah das, was kühnste Experten bereits erahnt, nicht aber so früh erwartet hatten: Ullrich gewann im Jahr darauf die Tour de France. 1997 war das! Alle zweiten Plätze danach, 1998, 2000, 2001 und 2003 waren eine herbe Enttäuschung für die deutsche Öffentlichkeit. Vom dritten Platz 2005 oder vom vierten Platz 2004, auch umwerfende Leistungen bei einem solchen Rennen, ganz zu schweigen - die waren für die deutschen Medien nicht nur Ausdruck für Ullrichs fehlende Form, sondern für seinen angeblich schlechten und lotterhaften Lebenswandel.
Der Erfolgsdruck macht mürbe und treibt sicherlich nicht wenige Sportler in die Dopingküchen dieser Welt. Fragte sich die deutsche Presse nur einmal, weshalb Ullrich gedopt haben könnte? Dass er gesündigt hat, das steht für die Medien jedoch fest, auch wenn kein Gericht darüber befand. Könnte man bei dieser selbstgerechten Gewissheit nicht wenigstens verlangen, dass nach dem Warum gefragt wird? Nein, kann man nicht! Der Sklave der Landstraße darf pedalierend entzücken, darf ein pédaleur du charme sein - er soll begeistern, er soll Freude bereiten, er soll Erfolge einfahren. Und er soll sich gefälligst nachts nackt aus dem Bett treiben lassen, schlaftrunken in Becherchen schiffen und Fragen beantworten: der saubere Sport hat es verdient, da muß der Mensch, dessen einziges Verbrechen darin bestünde, sich selbst körperlich zu ruinieren, zurückstehen. Für einen sauberen Sport darf der Sportler unsauber behandelt werden - so jedenfalls die allgemeine Sichtweise. Der Zweck heiligt die Mittel!
Armselige Giganten sind das, die da wie Vieh aus den Betten gescheucht werden. Dass mit Mitteln gepuscht wird, ist nichts Neumodisches. Schon der fünfmalige Toursieger Anquetil spöttelte in den Fünfzigerjahren, dass man mit Wasser keinen Klassiker wie Bordeaux - Paris, immerhin über 600 Kilometer, die an einem Tag zu fahren sind, nicht runterreißen könne - geschweige denn gewinnen. Tom Simpson fiel dann 1967, beim Aufstieg auf den Mont Ventoux, tot vom Rad - er war voller Aufputschmittel, die er mit Alkohol hinabgespült hat. Doping ist also fürwahr keine Neuheit; aber mit dieser selbstgerechten Penetranz wurde es noch nie verfolgt.
Radsportler neigen, so wirkt es jedenfalls oft, zur Melancholie; sie sind keine Platzhirschen und drängen sich auch nach Karriereende wenig in die Öffentlichkeit - einen Matthäus oder Klinsmann, einen Becker oder Stich, Schumachers oder Maskes findet man im nachkarrieristischen peloton kaum. Der Radsport ist ein einsamer Sport, wenngleich er als Mannschaftssport betrieben wird - die Einsamkeit auf dem Sattel, der den Hintern schmerzen läßt, zusammengedrückte Hoden, die gesamte verkrampfte Körperhaltung überhaupt: fürwahr héros inutiles! Die Depression ist ein alter Bekannter des Radsportlers, wenngleich man, wie im Falle Marco Pantanis, der tot in einem Hotelzimmer gefunden wurde, oder José María Jiménez', der in einer Psychatrie starb, man stets betonte, dass deren schwere psychosomatischen Probleme auf den exzessiven Dopingmissbrauch zurückzuführen sind, so muß doch gefragt werden, weshalb Radsportler stets aufs Neue den Freitod suchen: Hugo Koblet, Toursieger von 1951 beendete sein Leben ebenso von eigener Hand, wie sein Nachfolger von 1973, Luis Ocaña; Ende der Neunzigerjahre machte Thierry Claveyrolat seinem Leben ein Ende, zuletzt dann Dimitri De Fauw - die jeweiligen Gründe sind mannigfaltig, aber zu erkennen ist schon, dass der Radsport sensible Charaktere birgt, dass dieser Sport an sich melancholisch stimmen kann. Wenn man da so mutterseelenallein pedaliert, in Tälern, auf Bergen, wenn man sich als Einzelkämpfer durch gigantische und pittoreske Landschaften strampelt, dann hat das etwas Erhabenes, etwas Unvergleichliches - aber man wird auch auf seine Nichtigkeit zurückgeworfen, der Kampf gegen die Strecke ist manchmal ein wirklich existenzielles Ringen. Wie verschärft dieses romantisch-rauhe Klima des Velosport wird, lassen Rasmussens Selbstmordgedanken vermuten - nachdem er des Dopings überführt wurde, damit faktisch zum Verbrecher und zum Freiwild der Postillen herabsank, hätte auch er sich fast eingereiht in die Riege der velozipedistischen Suizidanten.
Ullrich nicht in Form, Fragezeichen (großes, verlogenes, heuchlerisches Fragezeichen!), musste man zu dessen Karrierezeiten häufig lesen. Nicht in Form, weil er Zweiter war; Zweiter in Alpe d'Huez, Zweiter beim Einzelzeitfahren, Zweiter in der Gesamtwertung - nicht in Form, weil er nur Zweitbester beim schwersten Etappenrennen der Welt war; nur Zweiter von hundertneunzig Fahrern der Weltspitze! Jan, hol dir das gelbe Trikot, Ausrufezeichen (arrogantes und anmaßendes Ausrufezeichen!), las man vor dem Start - da war er noch der Jan, der liebe Bub aus dem Volk, der bodenständige "uns aller Jan", dem man gerne auf Soireen die Hand schüttelte. Als man dann aber im jährlichen Turnus erkannte, dass es für einen zweiten Toursieg nach 1997 nicht reichte, wurde aus dem Jan der Ullrich - am liebsten hätte man ihn gesiezt, diesen Vizepedaleur, der nicht in Form war, nur weil ein anderer - meistens war es Lance Armstrong, Superstar und potenzieller Dopingpapst - in besserer Form fuhr. Einer nur, der besser war; hundertachtundachtzig dahinter, dazwischen der Jan, der nun der Ullrich wurde - und dem man nachsagte, er sei nicht in Form, zu dick, zu schlecht trainiert, nicht hart genug, nicht ausreichend erfolgshungrig, dem man am liebsten, wie einst Udo Bölts beim Aufstieg nach Le Deux Alpes, ein "quäl' dich, du Sau" ins Angesicht rufen wollte. Quäl' dich, du Sau - quäl' dich, gewinne für uns, mach uns glücklich!
Dieses repressive Szenario könnte man fairerweise auch beachten, wenn man heute von Ullrich wie von einem Verbrecher berichtet, von einem ganz verschlagenen, unehrlichen Betrüger, der seine kriminelle Handlung nicht freiweg gesteht, der nicht reuig weint, wie sein ehemaliger Kollege Zabel, als er von seinen Sünden berichtete. Diesem Druck, dem der ohnehin einsame und melancholische Typus Sportler ausgesetzt wird, die unbeschreibliche Sensationsgier der Massen, die an den Landstraßen ebenso gieren wie im heimischen Wohnzimmer, dazu natürlich Sponsoren- und Rennstallerwartungen... ist da der Griff zur Transfusion von behandelten Fremd- oder Eigenblut nicht fast schon konsequent, nicht eigentlich schon Makulatur? Man muß es ja nicht tolerieren - aber begreifen könnte man es schon wollen...
... esclaves inutiles, esclaves quand-même; unnötige Sklaven, Sklaven dennoch - sklavisch haben sie nächtens aus ihren Betten zu staksen, den an die Türe klopfenden Dopingjägern ins Döschen zu urinieren, den Schmerz, die Belastung, den dringend benötigten Schlaf zu unterbrechen, um ihre Unschuld zu beteuern. Am nächsten Vormittag haben sie frisch auf der Rennmaschine zu sitzen, Leistung zu bringen, Berge zu erklimmen und das in sagenhaften Zeitspannen. Und hat die Presse Fotos von der nächtlichen Razzia geschossen, auf denen der nackte Sportler zu begutachten war, sein Gesicht so deutlich abgelichtet wie sein Schniedel, dann soll er diese Indiskretion vergessen und sich auf seine Pflicht konzentrieren: den Sklaventreibern am Rande der Landstraße unvergessliche Augenblicke liefern. Augenblicke, die einem Radsportfreund nicht mehr aus dem Sinn gehen, bis die Hiobsbotschaft erschallt: Dopingverdacht! Dann ist der eben noch unvergessliche Augenblick doch vergessen; dann will sich daran keiner mehr erinnern, weil es ein gedopter Augenblick war, ein infamer Betrug am Sklaventreiber - als ob jeder Schrat, der sich mit Sauerstoff angereichertes Eigenblut einflößen läßt, den Tourmalet oder den Galibier hinaufstürmt wie ein irrer Merckx!
Natürlich, nicht nur der Radsportler wird von uferlosen Erwartungshaltungen erdrückt - aber wenig Sportarten scheinen derart auf das Gemüt zu schlagen. Oder ist es das Gemüt, das einen aktiven und agilen Menschen zum Radsportler werden läßt? Zudem wird in keinem Sport so unverfroren nach Doping gefahndet. Der Radsportler, selbst derjenige, der sich mit unlauteren Methoden, die ihm mehr gesundheitlichen Schaden als sportlichen Nutzen bringen, hervorgetan hat, er ist kein Verbrecher: er ist ein ganz armes Schwein...
18 Kommentare:
Das Thema wurde bereits am 14.08.2010 bei "feynsinn" diskutiert. Deshalb stelle ich meinen Kommentar noch einmal hier ein:
Es sind dieselben Kritiker, die es für legitim, weil legal halten, wenn Menschen sich mit Alkohol oder Medikamenten ruinieren, aber wenn die Einnahme nicht erfolgt, um sich kaputtzumachen, sondern um seine Leistung zu steigern – und dieses noch, wie vermutlich im Falle Ullrich, in Absprache mit einem Sportarzt – gilt es in ihren Augen als straf- und verachtenswürdig.
Dabei ist der kommerzielle Profisport für mich weniger das Problem sondern dessen Vorbildwirkung für den Freizeitsport mit seinen Wettbewerben. Deshalb gibt es nicht nur in der Bodybuilder-Szene die “anonymen Anaboliker” sondern auch beim Zugspitz-Extrem-Beglauf (1.900 Höhenmeter), beim BIKE-Transalp-Challenge Mountainbike-Rennen (18.000 HM in 6 Tagen bei 600 km Strecke), Ötztaler Radmarathon (260 km an einem Tag mit drei Pässen) und Vienna-Marathon Dopingkontrollen.
Den Teilnehmern dieser Wettbewerbe geht es nicht um die (realitiv niedrige)Siegprämie, sondern anders als bei den Profis primär um Anerkennung (Beruf, Familie, Freundeskreis), die sie vielleicht im normalen Leben nicht finden.
In meinem PC-Archiv “lagert” z. B. eine aktuelle Studie über die massenhaft von Ausdauersportlern vor Wettkämpfen eingenommenen Dopingmittel (nichtsteroidale Antiphlogistika)unterhalb der Schwelle verbotener leistungssteigernder Substanzen.
Und mir fällt auf, dass in der Marathon-Szene das Motto “Je öller desto döller” seine Berechtigung hat.
Dort laufen über 60-jährige Männer, deren freies Testosteron seit einigen Dekaden kontinuierlich sinkt und für den normalen biologisch degenerativ bedingten Leistungsverlust verantwortlich ist, die 10.000 Meter immer noch wie 30-jährige unter 40 Minuten.
Gruss vom Aussteiger.
(PS von heute: Bin vor 2 Wochen rückfällig geworden und beim Ruhrcross über 10 km in M60 den 2. Platz belegt. Da hatte das Ege aber wieder fette Nahrung.)
Einer der besten Artikel, die ich bislang zum Thema "Profiradsport" gelesen habe... In keiner anderen Sportart sind die psychische und physische Belastung und die Leistung der Athleten höher einzuschätzen. Rund 4000 km in drei Wochen, bei im Schnitt über 40 km/h! Für jeden Normalmenschen, der mal auf einem Rennrad saß, muß das heißen: außerirdisch! Den Jungs gebührt aller Respekt, um so mehr, als nur die wenigsten damit wirklich Geld verdienen. Doping? Würde doch (fast) jeder machen, wenn er so die entscheidenden 5% zum ganz großen Durchbruch rauskitzeln könnte. Oder wenn's ums materielle Überleben geht. Radsportler sind jedoch Freiwild, während es etwa bei den ach so geheiligten Fußballprofis keiner genau wissen will. Stichwort Juventus, Stichwort Fuentes-Skandal. Das ist doch alles pure Heuchelei.
Die Leistungsgesellschaft hat schon ihre merkwürdigen Doppelmoralitäten. Die einen schwätzen vollkommen normal vom Hirndoping, während sie sich dann über gedopte Leistungssportler mokieren. Darauf angesprochen, kommt dann immer dieses .... Ja, - aber ......
Meine Erklärung ist einfacher. Die Doping-Tester sind selber Leistungsträger. Und krank, - sind sie alle.
Wenn Sie Ihren unterschwelligen Nazivergleich nicht zurückziehen, werde ich Anzeige erstatten.
Zu @ Anonym 6. November 2010 13:46
Normalerweise ist es weit weit unter meinem Niveau überhaupt solchen Dreck von Anonymen Internettrolls zu kommentieren, jedoch mache ich hier eine Ausnahme ===> denn die Grenzen der UNERTRÄGLICHEN DUMMDREISTIKEIT sind bei weitem überschritten!
Menschen die sich feige hinter einem "Anonym " verstecken - um Ihre Hasskommentare rauszukotzen ekeln mich an!
Schreiben Sie deutlich Ihren Namen - schreiben Sie deutlich was Ihr Anliegen ist -stellen Sie sich offen einer Diskussion!
Aber dazu sind Sie Internettroll- bzw. Internettrollin ja nicht in der Lage!
ES WIDERT EINFACH NUR AN !
Natürlich waren es noch schöne Zeiten, als sich die Sportiven noch 'pour la gloire du sport' aneinander maßen, aber das ist lange her. Durch die beiden Weltkriege wurde der Sport zu einem Ersatzkieg zwischen den Kriegen degradiert, und nach dem Sieg über den kalten Krieg hat man es mit wundersamen 'Leistungsträgern' zu tun, Muskelmaschinen eben, denen man mühsam eine menschliche Legende andichten muß, damit man ihren Zombie-Charakter vergisst. Sport dient nur noch als Legitimation für grenzenlose Ausbeutung des menchlichen Körpers. Die neuen 'Helden der Arbeit'sind perverse Vorbilder einer Gesellschaft, der die Arbeit schon lange ausgegangen ist.
P.S. @Margareth:
In diesem durch und durch humorlosen Land bitte ich trotz alledem zu bedenken: Vielleicht war der Beitrag ironisch zu verstehen...
@Anonym 13:46
Hihi
Interessantes Analogon.
Der Oberschwellige sichtet Unterschwelliges und droht oberschwellig mit Grenzschwelligem.
Der oberschwellige Doping-Tester sieht Unterschwelliges beim
Radfahrer, den er oberschwellig mit Grenzschwelligkeiten die Schwelle hinunter wirft.
Das Recht dient nicht dem Rechten,
sondern dem, der rechtens darum kämpft.
Ich sach doch:
Doppelmoral im Winner and Looserspiel einer Leistungsgesellschaft.
Oder auch: Wärner, - fah nich bei dem Nebel.
@christophe
Klingt nicht wie Ironie.
Ganz und gar nicht.
Ein wirklich toll geschriebener Blog.
Ich bin beeindruckt.
Leider liest man soviel geballte Kompetenz viel zu selten.
Ich bin aktiver Hobbyfahrer und war früher ein großer Fan des Profi-Radsports, war u. a. auch mehrere Male in den französischen Alpen an der Strecke. Die ganzen Skandale der letzten Jahre haben mich jedoch jeglichen Interesses beraubt. Natürlich wird der Radsport im Vergleich zu anderen Sportarten ungerecht behandelt, weil meines Erachtens woanders nicht unbedingt weniger gedopt wird. Die Analyse, die Erwartungen der am Streckenrand stehenden Sklaventreiber (ich war wohl auch ein solcher in diesem Sinne) sowie der Medien würden die meisten erst zum dopen bringen, halte ich für zu kurz gegriffen. Wie bereits erwähnt wird auch im Hobbybereich gerne zu leistungssteigernden Mitteln gegriffen. Es liegt seit jeher im Wesen des Sportes, Sieger und Verlierer zu ermitteln; sich mit anderen zu messen liegt in der Natur des Menschen. Und so lange es unter Regeln und fair (d. h. niemand verschafft sich durch Betrug wie Doping) geschieht, ist es mir lieber, als dieses Prinzip so wie es die Neoliberalen anstreben auf unser aller Zusammenleben zu übertragen.
Natürlich bedingen hohe Erwartungshaltungen Erfolgsdruck, der in schlimmen Fällen wie bei Robert Enke in einer Tragödie enden kann. Aber genau wie im Bereich des Sports halte ich die parallele Entwicklung in der Leistungsgesellschaft für im Ergebnis verkehrt - und auch für keine ausreichende Entschuldigung. Ich z. B. versuche mich seit etwas mehr als 2 Jahren in einem verwaltungsinternen Studiengang für die gehobene Beamtenlaufbahn, welcher mit meines Erachtens normalen Mitteln nicht zu schaffen ist - dass viele meiner Kommilitonen zu Aufputschmitteln und anderen Helferlein greifen, halte ich für sehr wahrscheinlich. Ich tue es aus Überzeugung nicht - und bin dafür entsprechend chancenlos. Zumindest moralisch habe ich mir nichts vorzuwerfen.
Und genau dass kreide ich einem Jan Ullrich heute auch immer noch an. Das er das offensichtliche nicht einfach offen zugibt, wie viele seiner damaligen Telekom-Kollegen.
Was mir letzten Endes die Lust am Radsport vollends genommen hat war die Beobachtung, wie das Peloton gerade in den letzten Jahren mit "schwarzen Schafen" umgegangen ist, die es wagten gegen die Dopingpraktiken öffentlich Stellung zu beziehen. An dem Tag, an dem Lance Armstrong bei einer Überführungsetappe kurz vor Paris im gelben Trikot Filippo Simeoni höchst persönlich an der Teilnahme in einer Fluchtgruppe hinderte, war die Glaubwürdigkeit der "Giganten der Landstraße" für mich gestorben.
So verständlich die Ursachen auch sein mögen, warum Sportler meinen, sich dopen zu müssen - letzten Endes den Wettbewerbsdruck so weit zu akzeptieren und zu verinnerlichen, indem man in der Konsequenz riskiert, seinen Körper mit gefährlichen Mitteln zu schädigen oder gar sein Leben zu gefährden, halte ich für keine Lösung. Auch wenn der Profisport die Quelle des Broterwerbs darstellt. Denn ich halte es auch für möglich, dass ohne Doping auf dem Rad großartige Leistungen möglich sind.
wer glaubt, es gebe im profi-radsport "cleane" fahrer, der irrt. einen flachen oder hügeligen klassiker kann man durchaus ohne doping mitfahren, auf keinen fall aber gewinnen. etappenrennen, speziell Giro, Vuelta und Tour sind ohne doping gar nicht zu schaffen. auch zeit- und bahnfahrer sind prädestiniert für doping. sprinter im grunde auch - also der ganze verdammt sport! so ist das eben und ich seh da auch kein problem. alle wissen es, wirklich ALLE! schon jeder ambitionierte hobbyradfahrer weiss bescheid. wenn ein profi sagt, er sei die Tour gänzlich ohne hilfsmittel gefahren, dann ist das vergleichbar mit einem astronauten, der behauptet, er starte ohne rakete ins all. völliger murks!
die reporter wissen es, die sponsoren wissen es, die veranstalter wissen es, die sportmediziner wissen es, alle! der biersaufende fettarsch, der zuletzt vor 20 jahren auf dem rad saß und sich nun lautstark beschwert, das dieser scheiss Ullrich so verdammt langsam den berg hochkriecht, der weiss es im grunde auch. oder die konsumfreudige durchschnittsfrau, die in der werbung unlängst erst lernte, dass man einfach ne tablette einwirft, wenn nach dem fitness die beine weh tun - die weiss es auch.
irgendwie gehört es einfach zum guten ton, so zu tun, als wüsste man es NICHT! sinn macht das keinen, wie so vieles. es macht ja auch keinen sinn, dass ein alkoholiker ne papptüte über seinen fusel stülpt. alle wissen, was sich darunter verbirgt. beim fusel fängt es an und bei angriffskriegen hört es irgendwann auf. warum sollte es ausgerechnet im sport anders sein? wir leben in einer welt der doppelmoral, selbsttäuschung und allgegenwärtiger lüge! und alle wissen das.
zu meiner zeit bin ich über 20.000km pro jahr gefahren (amateur, darum: ohne!)
Im Forum für Echte Radsportfans ist Robertos Beitrag mit folgendem Kommentar zu lesen, dem nichts hinzuzufügen ist ausser :
VON MIR ERHÄLTS DU DAS GELBE TRIKOT !
http://www.radsport-gegen-doping.de/Forum/wbb2/thread.php?threadid=11&page=353
K L A S S E !!!
So... wen ich denn schreiben könnte... würde ich es schreiben wollen !
Dieser Text gehört auf die 1 der Süddeutsche, der Frankfurter usw.. alleine weil er den ganzen anderen üblen "Aufsätzen" zeigt dass es auch eine andere Sicht geben kann !
Wenn irgendeiner im Forum das bewirken kann, dann los.. die ahnungslosen Konsumenten sollten wissen dass Doping nicht nur ein Fehlverhalten ist, es hat Gründe und Hintergründe.. und es geht um Menschen die ziemlich viel von sich geben um dem "Konsumenten" ein stellvertretendes "wir sind wer" (zum Beispiel Toursieger) zu ermöglichen.
Nochmal, eine klasse Sichtweise und gute Zeichnung ! Danke dem Autor.
san antonio
Nur um eines klarzustellen, Dennis1982: ich bin nicht minder Sklaventreiber; natürlich giere ich auch, wie jeder Radsportfan, nach magischen Augenblicken; Momenten wie jenen, als Armstrong stürzte, Ullrich wartete, Armstrong beinahe nochmals stürzte und dann die Etappe gewann... oder damals, als Fignon gegen LeMond mit acht Sekunden verlor. Ich gierte und giere danach... ich bin, nur weil ich den Text schrieb, nicht davor gefeit.
@Roberto: Mir war das auch bewusst, jeder Sportbegeisterte ist im Grunde ein solcher Sklaventreiber - das liegt in der Natur der Sache. Ich zumindest stehe inzwischen halt auch mehr darauf, mich selbst zu Höchstleistungen anzutreiben, ganz nach dem Motto des Pfälzer Urgesteins. Es gibt wenig annähernd berauschende Gefühle, als jenes, welches sich beim Erreichen der nächsten Passhöhe einstellt, den Körper samt Rad wieder 500 bis fast 2000 Höhenmeter in die Höhe gewuchtet zu haben, bei sengender Hitze, die dünner werdende Luft zu spüren, gegen die Krampfansätze anzukämpfen; oben an Pässen wie dem Madeleine, dem Mortirolo, dem Stilfserjoch usw. zu stehen und die grandiose Bergwelt zu genießen. Oder auf der Strecke am Tag vor der Tour hoch nach Alpe d'Huez angetrieben von den zigtausenden Fans am Streckenrand únd tausenden anderer Hobbyfahrer die magische 1h-Marke deutlich zu unterbieten.
Dass Ullrich damals gewartet hat, ist ja durchaus umstritten... ;)
Wer sich ein wenig mit sportsoziologischer Literatur beschäftigt hat, erkennt schnell die mit dem Sport verbundenen Tugenden, die mit denen von Soldateneigenschaften kompatibel sind: Leistung, Wettkampf, Konkurrenz, Sieger- und Verliererfiguren, Revanche fordern, Siegeswille, Durchhalte wille, Schmerzverdrängung, Perfektionierung des Materials usw.
Für Daniel82 daher noch eine Bemerkung: Verhängte man über alle Mitarbeiter des Fernsehens, die ihre Arbeit ohne Einnahme von Alkohol, Nikotin, Aufputsch- oder Beruhigungsmitteln weder leisten noch ertragen können, eine Sperre, und vergäße auch jene nicht, die sich -vom Schlupflid bis zur Reiterhose- bildschirmgerecht haben zurechtschnitzen lassen, wäre auf hundert Kanälen nichts zu senden als das Testbild.......................auchnicht die peinlichen Verhöre, die der valiumgecoolte Moderator, gestrafften Tränensacks und Doppelkinns aus solargebräuntem Teint weißeste Implantate bleckend, als Prophet der Natürlichkeit mit dem Radrennfahrer Jan Ullrich veranstaltet.
Gruss von Gerdos (10.000 km Fahrleistung pro Jahr in selbstbestimmtem Tempo)
Der Radsport ist nur exemplarisch zu nennen, wenn es um Spitzensport und Doping geht. Man kann sich als Sportler aussuchen, entweder ich schummle nicht und hab ein reines Gewissen oder ich habe Erfolg. Von einem reinen Gewissen kann man sich keine Sponsorverträge holen. Nur der Leistungsträger, der Spitzenleister hat den Lohn verdient. Ebenso wie inder Wirtschaft wird es mit den Regeln nicht so genau genommen. Hinterher sind alle enttäuscht, dass gedopt wurde obwohl es eigentlich alle hätten wissen müssen. Scheinbar schaltet sich das Hirn vieler Menschen ab, wenn sie Spitzenleistungen sehen.
Der Radsport ist, wie der Fußball und Boxen, ein Sport der Proletarier. Der Radsport war eine Möglichkeit der Sklaverei in dunklen Fabrikhallen (William Blake: "Die Mühlen des Teufels") und Bergwerken zu entfliehen. Eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Eine Besonderheit des Radsports ist, dass er von Anfang an professionell, als Beruf, betrieben wurde. Ich denke hier z.B. an die Sechstagerennen (die tatsächlich 6 x 24 Stunden dauerten - viele/alle (?) Fahrer namen Aufputschmittel um wach zu bleiben) in New York ab den 1890er Jahre (Henry Miller war ein begeisterter Zuschauer) oder das klassische Rennen Lüttich-Bastogne-Lüttich (seit 1892). Da Radsport von Anfang an ein Beruf war, war Doping von Anfang an, an der Tagesordnung. Erst in den 60er Jahre wurden Dopingkontrollen eingeführt. Da hatte der Radsport aber schon eine ca. 70 Jahre andauernde Dopingkultur hinter sich. Die Hetzjagd auf Ullrich ist auch der fehlenden Radsportkultur in Deutschland geschuldet. Viele Fans kannten halt einfach nicht die Geschichte des Profiradsports.
Der Profiradsport ist Kapitalismus in Reinkultur ("hire and fire"). Es gibt Kapitalgeber (Sponsoren) und Manager (Teamchefs) und "Arbeiter" (die Radler). Die Kapitalgeber wollen Profite (= den Bekanntheitsgrad ihrer Marke steigern) sehen und die Profite bekommt man nur mit vielen Siegen. Die Manager haben dafür zu sorgen, dass die Profite eingefahren werden. Die Radler sind auf der untersten Stufe - die wenigen "Superstars" vielleicht ausgenommen. Die Radler sind völlig den Kapitalgebern/den Medien und Teammanagern ausgeliefert. Sie stehen unter einem riesigen Druck. Meist haben sie nur Einjahresverträge. In so einer Struktur ist doch Doping beinahe schon als natürlich anzusehen. Die mediale Hetzjagd fokusiert sich aber nur auf die Fahrer (="Arbeiter"). Die Kapitalgeber/Medien und Teammanager, die den Druck aufbauen, bleiben außen vor. Kommt uns dieses System nicht bekannt vor?
Anton Reiser
@gerdos: Dennis82 bitte. Ich verstehe den Zusammenhang der Anmerkung nicht, habe ich irgendwo einen Beckmann verteidigt? Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen: (das Thema habe ich schon vor Jahren ausführlichst bei www.cycling4fans.de diskutiert) Jan Ullrich überreizt(e) seine Rolle als armes, unschuldiges, verfolgtes Opfer. Denn genau das ist er nicht, weil er als es gut lief auch jede Menge Geld eingesackt hat (teils von den Gebührenzahlern für Exklusivverträge) - und er muss wissen, was ihm widerfahren kann, wenn er in die Talkshow so eines Möchtegernjournalisten geht. Den Medien kann man als Zahnrad im Getriebe nur insoweit einen Vorwurf machen, als dass sie es hätten besser wissen können (falls sie es nicht gewusst haben - und es ihnen egal war, so lange der Stern leuchtete).
Die grundsätzliche Frage ist doch, ob es tatsächlich unmoralisch ist, "den Radsport" zu kritisieren, weil dessen Protagonisten sich ebenfalls unmoralisch verhalten?
Dies bezüglich hat mir die Anmerkung von Anton Reiser im letzten Kommentar gut gefallen: Man sollte den Blick auch mal auf das gesamte System lenken; eben Verbände, Teams, Sponsoren, Veranstalter, Medien - die alle ein Interesse daran haben, dass der Zirkus weiter läuft, so oder so. Und nicht nur die Fahrer (ohne diesen eine Generalamnestie zu gewähren).
P.S.: um die 15.000 km jährlich! ;)
was ich suchte, danke
Kommentar veröffentlichen