Zwischen Tannen und Genickbruch

Freitag, 27. Februar 2015

Als ich noch ein Kind war, hörte ich oft, wie man sich darüber unterhielt, dass Deutschland eine sehr kinderunfreundliche Gesellschaft besitze. Rasen betreten war oft verboten. Und Kinderlärm wurde mit wüsten Beschimpfungen honoriert. Seither hat sich viel verändert. Aber ich finde, es hat sich nur die Art der Kinderunfreundlichkeit gewandelt.

Ich erinnere mich noch, wie wir auf dem Rasen vor der Mietskaserne Fußball gespielt haben. Ach, wir haben ja nicht richtig Fußball gespielt. Wir haben einen Plastikball gestupst. Das runde Dinge machte mit uns, was es wollte. Zwei Tannen waren ein Tor. Das gegenüberliegende Tor lag nicht gegenüber, sondern in etwa 90 Grad versetzt. Die Stahlkonstruktion, auf denen Omas ihre Teppiche ausklopften, musste dafür herhalten. Ich stand im Tor zwischen den Bäumen. Dort stand ich immer. Später wurde ja auch auf Vereinsebene ein Torhüter aus mir. Kein besonders guter. Kurzsichtig zudem. Also ich stand zwischen den Tannen. Einige Meter dahinter war ein Balkon. Und nach einer Weile hing sich ein alter, abgehalfterter Typ in Trainingsanzug über das Geländer und fing an uns mit Beleidigungen zu überschütten. Wir sollten uns verpissen. Aber ganz schnell. Und mir drohte er mit der Faust, er würde mir das Genick brechen. Nachbarn hörten zu. Keiner sagte was. Eine alte Schabracke stimmte mit ein. Sie hatte ihren Führer gefunden. Der Trainingsanzug hätte schließlich völlig recht.

Vereinzelt mag es diese öffentlich zur Schau getragenen Gewaltphantasien verbitterter Leute noch immer geben. Wahrscheinlich nur noch selten. Früher war sie Standard. Man konnte als Erwachsener gegenüber Kindern so auftreten. Und wir Kinder fanden das schrecklich ungerecht. Da war ein bisschen Ohnmacht. Heute ist das grundsätzlich sicherlich anders. Keiner droht Kindern mehr Schläge an. Nicht vor aller Welt. Kinderlärm ist mittlerweile auszuhalten. Die Gesetzeslage macht Kindergeschrei zu einer Lärmquelle, die zumutbar ist. Rasen betreten ist noch immer ganz oft verboten. Aber keiner droht Genickbrüche an. Wer das so täte, wie der Trainingsanzug einst, der könnte mit einer Anzeige rechnen. Oh ja, dieses Land hat seine Einstellung gegenüber Kindern grundsätzlich verändert.

Aber ich werde den Eindruck nicht los, dass sich diese Kinderunfreundlichkeit aus den Achtzigerjahren, die ich noch erlebte, nicht gegen ein gegenteiliges Gefühl ausgetauscht hat, sondern gegen eine neue Form von Kinderunfreundlichkeit. Die Gewalt ist weniger physisch (nur in Einzelfällen und versteckt), dafür aber zu guten Teilen psychisch.

Wir setzen die heutigen Kinder anders unter Druck. Pressen sie in Schema F. Speisen sie ab. Machen sie zu Rädchen. Vielleicht wiehern heute so wenige Trainingsanzüge mit Fluppe in der Schnauze vom Balkon, weil die Kinder auch immer weniger Zeit finden, um überhaupt auf zwei Tannen zu kicken. Wir tyrannisieren noch relativ junge Kinder mit Bildungswegen und Berufsabsichten, als ob eine Zwölfjährige schon wüsste, wohin ihre Lebensreise überhaupt geht. Der Plan soll früh stehen. Und wer ausschert, den haben die Lehrer im Visier. Dann tanzen Eltern an, die irgendwann glauben, sie hätten ihren Spross nicht im Griff, die mit ihm hadern und ihn noch enger an die Leine nehmen. Frau Lehrerin hat das ja quasi empfohlen. Man will nicht noch mehrere solche Gespräche mit Pädagogen, die einem stets ein latentes Gefühl davon vermitteln, wie sehr man als Elternteil versagt hat.

Unsere kinderfreundliche Gesellschaft ist nur kinderfreundlich, wenn man sie mit der Vergangenheit vergleicht. Auf ihre Art ist auch sie nicht freundlich zu Kindern. Sie überfordert sie mit Entscheidungen, die sie noch gar nicht treffen können und sollen. Man sagt, dass bestimmte Entwicklungen im Leben eines Kindes quasi unumkehrbar seien. Wenn es den falschen Bildungsweg nimmt zum Beispiel. Oder zu wenig lernt in den Anfangsjahren. Damit schürt man Hysterie. Und damit setzt man unter Druck, verstümmelt die Kindheit, nimmt der Sorglosigkeit die Substanz.

In gewisser Weise stehen auch die Kinder heute zwischen zwei Tannenbäumen. Wartend auf einen Ball, so wie ich damals. Der Trainingsanzug sieht heute netter aus. Und er spricht gepflegter. Aber gut meint er es auch nicht mit ihnen. Er ist nur anders unfreundlich.

3 Kommentare:

epikur 27. Februar 2015 um 09:23  

Ach, die Kinderfeindlichkeit ist auch heute noch sehr präsent. Natürlich eher subtil und unterschwellig (manchmal sogar direkt), denn niemand möchte ja den Stempel des Kinderhassers aufgedrückt bekommen, auch wenn er/sie Kinder verabscheut. Einige Beispiele:

Versucht mal mit drei oder mehr Kindern eine Mietwohnung zu finden. Ist fast unmöglich. Viele Vermieter/Eigentümer mögen keine Großfamilien, also keine Kinder.

Weinende oder schreiende Kinder in Bus und Bahn nerven immer noch die meisten Fahrgäste. Sie seufzen, stöhnen, ächzen, verziehen das Gesicht. Gerade Kleinkinder sind aber (noch) keine Roboter und können ihre Bedürfnisse noch nicht sprachlich artikulieren.

Arbeitgeber. Unternehmen. Personaler. Sie alle sind ganz groß dabei, wenn es um Kinder- und Familienfeindlichkeit geht. Frauen, die Kinder haben wollen werden nicht eingestellt. Schwangere rausgemobbt. Teilzeit wird nicht erlaubt oder wenn doch, dann ist eine Rückkehr zur Vollzeit nach der Elternzeit nur sehr schwer möglich. Mütter/Väter/Familien gelten den Firmen als zu wenig flexibel und belastbar. Sie haben eben noch ein Leben neben der Lohnarbeit, auch andere Verpflichtungen. Und sowas geht ja gar nicht. Man soll doch nur für die Lohnarbeit existieren.

Sol Roth 27. Februar 2015 um 10:12  

Damals gabs Kopfnüsse vom Lehrer für böse Jungs, heute gibt es Ritalin, ADS, ... vom Psychiater und hirnlose psychologische-pädagogische Therapien.

Damals gab es noch finanzielle und berufliche Perspektiven, heute gibt es nur noch alternativlose Perspektivenlosigkeit.

In den Siebzigern und Achtzigern, war auch nicht alles toll, aber das was heute abgeht ist noch viel schlimmer.

Ein einzig herz- und hirnentleerter Zombieplanet.

Anonym 2. März 2015 um 23:48  

Was muss ich als Kind für ein Glück gehabt haben. Gewalt drohte an der Schule nur von anderen Kindern ... und zu Hause bei schlechten Noten.

In einem kann ich Epikur zustimmen. Ich hab vier Kinder, blieb nur ein Eigenheim um angemessen wohnen zu können.



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