Der Holocaust ist ein Missbrauchsopfer

Freitag, 18. Januar 2013

Jemanden für einen Antisemiten zu erklären, um ihn politisch mundtot, ihn gesellschaftlich untragbar zu machen, ist nicht nur eine fiese Masche, sondern eine faschistisch anmutende Ideologie. So wie antisemitische Kapriolen öffentlich geächtet und als unannehmbar angesehen werden, so müssen auch Anfälle von Schau, das ist ein Antisemit! gesellschaftlich verpönt sein - nicht zögerlich und bedächtig, sondern mit derselben Empörungsgewalt, mit der zuweilen - leider nicht immer! - Antisemitismus geahndet wird.

Letztes Jahr sollte Günter Grass ein Antisemit gewesen sein - Friedman nennt dessen Gedicht furchtbar, vermutlich nicht sprachlich betrachtet, sondern weil ihm der Inhalt nicht gefällt. Broder und das Wiesenthal-Zentrum benennen Augstein ebenfalls als einen. Leider (oder zum Glück) geht den Wiesenthalern die Arbeit aus, Altnazis gibt es kaum noch, sie überdauern nicht. Jetzt sind deutsche Linke - nennen wir Grass und Augstein mal so; für Broder und Konsorten dürften beide wohl radikale Linke sein -, die gejagt werden müssen. Der Vorwurf, die europäische Linke sei antisemitisch geworden, schwebt schon länger im Raum. Grund dafür ist die Kritik an der israelischen Politik, die leider viel zu oft aus Vertreibung und Totschlag besteht und eine internationale Kriminalisierung der Palästinenser betreibt.

Eine Preziose der Dummheit dürfte indes Wickerts Zensurvorwurf sein. Broder nach seinem Schweinsgalopp erstmal dem Schweigen zu überstellen, sei nämlich eine Zensur der Mutlosigkeit. Er nennt den kleinen bösen Mann sogar einen Polemiker, nennt ihn in einem Atemzug mit Heine oder Kraus. Wickert übersieht, dass diese beiden gegen die politische Agenda ihrer Tage polemisiert haben; sie haben ihre Polemik nicht benutzt, um pseudo-intellektuelle Gesinnungsherrschaft im Verbund mit der amtierenden political correctness zu errichten. Nicht die Zensur ist mutlos, wie Wickert das schreibt: Eine Polemik, die auf Staatsagenden baut, die weitestgehend mit dem konform geht, was eine breite Basis hat, ist mutlos. Und die Kritik an israelischer Politik ist immer noch tabuisiert und gilt gemeinhin als geschichtsvergessen und als Revisionismus. Die beiden Polemiker aus der deutschen Geschichte, die Wickert aufzählt, waren jedoch insofern mutig.

Man muss Leuten wie Broder vorwerfen, dass sie den Holocaust missbrauchen, um die Politik eines heute agierenden Staates für sakrosankt zu erklären. Ist das das viel bemühte Wahren des Andenkens? Kritiker an Israels Politik für antisemitisch zu erklären, mit Blick auf die deutsche Geschichte freilich, immer die Shoa mitschwingen lassend in der Abkanzelung kritischer Positionen? Was Friedman und sein Kollege da errichten, ist nicht weniger als ein Wohlfahrtsausschuss moralisch fadenscheiniger Scharlatane und publizierender Kraftmeier. Le terreur auf rhetorischer Basis ohne Guillotine.

Vom Holocaust kann Gebrauch gemacht werden. Das ist gut und richtig. Nämlich als Warnung, als Mahnmal, als Beweis dafür, zu welchen Verbrechen Menschen an Menschen fähig sind. Avraham Burg beklagt in seinem Buch Hitler besiegen: Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss, dass die Ideologie, den Holocaust als israelische Staatsdoktrin, als Gründungsmythos aufzuführen, endlich abgeworfen werden müsse. Diese Doktrin hat Israel zu einem selbstgefälligen Staat in Dauernotwehr gemacht, hat der Verhandlungsfähigkeit Israels nachhaltig geschadet und zudem die fundamentalistische Losung vom auserwählten Volk neu entflammt. In der dauerhaften Betonung der Singularität des Massenmordes an den Juden, zeigt sich diese Auserwähltheit, die neben sich das Leid beispielsweise der Sinti und Roma schluckt. Burg meint natürlich nicht, dass man den Holocaust vergessen sollte, wie das Broder in seinem Buch mit ähnlich klingenden Titel gerne gesehen hätte (sic!), sondern dass man ihn generalisieren muss. Er ist sicherlich ein Verbrechen Deutschlands gegenüber den Juden, aber er ist weiterführend auch ein Verbrechen Europas (aufgrund der bereitwilligen Hilfsvölker Deutschlands) gegenüber Sinti und Roma, Kommunisten, Homosexuelle und weitere Gruppen. Anders gesagt: Ein Verbrechen des Menschen am Menschen. Dies zu betonen, immer wieder zu mahnen, wenn mal wieder ein Volksverhetzer auftritt, zu warnen, dass Hetze der Beginn war, bevor der Blutrausch entfachte, das ist der Gebrauch von Holocaust.

Missbrauch hingegen ist es, wenn man ihn benutzt, um die Politik des heutigen Israel für unantastbar erklären zu wollen. Das linke politische Spektrum kritisiert tatsächlich viel stärker diese Politik, als es der Konservatismus tut. Diesen Umstand nennen die Beschützer israelischer Außenpolitik kurios, denn ausgerechnet die Linke sei doch traditionell weniger antisemitisch gewesen, sei humanistischer und grundsätzlich philosemitisch. Womöglich ist es aber so, dass die Linke die Generalisierung des Holocausts bereits vergeistigt hat und demgemäß israelische Politik gegen Palästinenser ebenfalls als brutale Akte des Menschen an anderen Menschen erkennt. Und die angeblich antisemitische Linke kritisiert nicht das Judentum, sondern Israel als Staat - der Antisemitismus ist also nicht auf die Linke übergegangen. Es ist der Popanz eines Antisemitismus, der aufgebaut wird, um Israel in seinen Handlungen als moralisch unantastbar zu halten.

Antisemitismus ist geächtet, kann manchmal auch juristisch geahndet werden. Das ist richtig so. Diejenigen aber, die mit Der ist ja Antisemit!-Beschuldigungen aufwarten, die den Holocaust zum Missbrauchsopfer machen, indem sie nicht sein Andenken waren, sondern ihn zum geschmacklosen Argument gegen jegliche Kritik an einem Staat benutzen, der kriegs- und gewaltbereit gegenüber seinen Nachbarn agiert, muss mindestens auch gesellschaftlich geächtet sein - und wenn möglich, sollte man diesen Missbrauch unter Strafe stellen können. Den Holocaust leugnen ist die eine Seite der Medaille, die Opfer für politische Zwecke zu verwenden, das ist die Kehrseite derselben Medaille. Normal Finkelstein nannte einen etwas anders gearteten Missbrauch mit der Shoa im Jahre 2000 übrigens eine Industrie. Und wie am Fließband wird die Shoa auch von Broder und Konsorten missbraucht, um die Staatsdoktrin vom dauerhaften Notwehrzustand zu rechtfertigen, Angriffskriege als Verteidigung und Atomwaffenbesitz als Vernunftakt hinstellen zu können.

Wer dies tut ist nicht nur politisch unverantwortlich, sondern beleidigt auch  noch das Andenken der Menschen, die damals den Tod fanden. Denen ist zu gedenken; ihr Tod sollte, wenn man schon einen Sinn herausfiltern möchte, eine bessere Welt zur Folge haben, und nicht als Rechtfertigung für sozialen Ausschluss, gesellschaftliche Isolation, Ghettos, Stigmatisierung und Krieg herhalten müssen.



48 Kommentare:

Inglorious Basterd 18. Januar 2013 um 08:46  

Im Zweifel links?
Der aufrichtige Deutsche weiss ganz genau, woran man den gemeinen Antisemiten erkennt: an Thor-Steinar-Klamotten, Glatze und NPD-Mitgliedsausweis. Und an Gaskammern, zweifellos. Doch damit hat ein Jakob Augstein, dieser gebildete und gut gekleidete Mann, geradezu das Aushängeschild der links-intellektuellen Elite, nichts am Hut. Seine Spezialität besteht dagegen in Kolumnen, die gemeinhin das Label „Israelkritik“ tragen und laut landläufiger Meinung einen wichtigen Beitrag zur deutsch-israelischen Freundschaft leisten.

Die meisten wollen Augsteins antisemitisches Potenzial schlicht nicht erkennen, weil sie es mit ihm teilen. Schließlich kennen sie selbst es nur allzu gut: dieses Kribbeln, sobald sich irgendwo der Hauch einer Chance bietet, den erhobenen Zeigefinger in Richtung Israel zu schwenken. Und selbst Antisemit zu sein, nun, das ist seit ein paar Jahrzehnten wirklich nicht mehr schick. Es gilt, den Antisemiten trotz Augstein und Wiesenthal wieder säuberlich als „Israelkritiker“ zu etikettieren.

Wer Antisemit ist, bestimmt schließlich immer noch das Volk. Und dem kann es nur recht sein, wenn die Antisemitismus-Latte möglichst so hoch angelegt ist, dass es selbst noch ewig bequem darunter hindurch laufen kann. Mit der Ernennung Jakob Augsteins zum Antisemiten ist genau dieser Titel für viele hauptberufliche „Israelkritiker“ in bedrohliche Nähe gerückt. Darum liegt ihnen umso mehr an einer Neudefinition, die möglichst nur den rechtsextremen Bodensatz der Gesellschaft inkludiert.

Das der Opferstatus der Juden in Bezug auf den Holocaust kein Alleinstellungsmerkmal hat, wurde von Dir korrekt beschrieben. Zwei Punkte möchte ich korrigieren:

1. Grass untertellt Israel mit dem Besitz von Atomunterseebooten den Willen zur Weltvernichtung.

2. Antisemitismus ist nicht geächtet, er kommt nur heute als obszessive Israelkritik daher,nicht als Kritik an anderen verbrecherischen und kriegführenden Staaten.

Anekdote zum gesellschaftlichen Konsens:
Frage an die Kleinen Leute auf der Strasse: "Finden Sie auch, dass an dem Leid dieser Welt hauptsächlich die Juden und die Radfahrer Schuld sind?"

Antwort: "Wieso denn die Radfahrer?"

piet 18. Januar 2013 um 09:29  

Danke für die unaufgeregte Analyse anders gestern im NDR-Medienmagazin ZAPP, daß doch noch die Beweisführung antreten wollte, daß Augstein antisemitisch argumentiert. Und das ausgerechnet anhand von bereits hinlänglich kritisierten Sätzen, in denen Augstein explizit von der israelischen Regierung unter Netanjahu als Agressor/Blockierer spricht. Nicht von DEN Juden, oder von DEN Israelis. Die Meinung muß man naturgemäß nicht teilen und Punkt.Andere, wie z.B. Flatter, sehen Augsteins Kommentare nicht als antisemitisch, sondern als antijüdisch, muß ich nochmal lesen, wie er das meint. Bei ZAPP gestern kam zum Antisemitismusvorwurf dann ausgerechnet Wergin von der "Welt" als Kronzeuge und Deuter ausführlich zu Wort und das ist schon fast wieder witzig, wenn man seine einäugigen Reportagen kennt.Leider kann man das alles nicht als Posse abtun, weil der A-Vorwurf mittlerweile zum Kampfinstrument/-wort der Rechten geworden ist, wie der Vorwurf des Gutmenschentums und der politischen Korrektheit. Man streut diese Begriffe um das Revier zu markieren, den eigenen Gefolgsleuten zu signalisieren bei der richtigen Feldpoststelle zu stehen und weitere Diskussionen o. weiteres Nachdenken im Keim zu ersticken.

Anonym 18. Januar 2013 um 10:40  

Ja,der Broder hat es weit gebracht! Von den St.Pauli-Nachrichten über die TAZ bis zur Welt. Er hat seine Marktlücke als provokanter Politclown gefunden und mit seiner eloquenten Feder hat sich auch der Spiegel eine zeitlang geschmückt. Aber sein Marktwert sinkt und seinem großen Vorbild Kraus konnte er nie das Wasser reichen. So wird er als alternder Hofnarr am Hofe von Friede Springer enden und von üppigen Apanagen profitieren.

Anonym 18. Januar 2013 um 11:51  

Ich schließe mich dem Dank an und ergänze noch, dass der "Antisemitismus als politische Waffe" (Zitat: Finkelstein) auch dazu dient Kritiker des Sozialabbaus in Deutschland in die recht(sextreme) Ecke zu stellen.

"Namhafte" "Historiker" wie z.B Götz Aly tun dies regelmäßig in ihren geschichtsfälschenden Büchern indem sie die NS-Diktatur in dem Sinne verharmlosen in dem sie den Nazis "Sozialismus" vorwerfen, und Alt-68er eben mit diesen angeblichen "nationalen Sozialisten" ebenso wie HartIV-Gegner und Agenda 2010-Gegner in dieselbe Ecke stellen.

Dazu, und nur dazu dient eben auch die Generalisierung der Shoa allein auf den Mord am jüdischen Volk Europas, während man - wie du völlig richtig schreibst - Millionen anderer Nazi-Opfer unter den Teppich kehrt.

Ich seh's gleich, an die Verbrechen an den Juden Europas soll sehr wohl erinnert werden, aber eben auch an die Verbrechen gegenüber anderen Opfern, die zum Teil noch heute darunter leiden - eben z.B. die Cinti und Roma oder "asoziale Elmentente" (Zitat: Wolfgang Ayaß über die Verfolgung von "sozial Abgehängten" in Faschismus - und als NS-Vokabel enttarnt, von Wolfgang Ayaß...).....

Gruß
Bernie

Iris 18. Januar 2013 um 12:20  

Antisemtismus ist in meinen Augen eine Form von Rassismus. Und jede Form von Rassismus ist mir zutiefst zuwider, weil sich im Rassisten der Mensch dem Mitmenschen in seiner dümmsten, bösartigsten und grausamsten Form offenbart.
In den Augen von Broder und Konsorten kann Antisemtismus nach meiner Interpretation ihrer Hetzpropaganda jedoch nicht einfach Rassismus sein, denn das würde jüdischen Opfern ihre herausgehobene Sonderstellung unter den Verfolgten nehmen. Insofern ist Antisemtismus für sie die Verfolgung einer Elite. Und im Bestehen auf dieser Elite der Juden und des Staates Israel (was in IHREN Augen dasselbe ist) offenbart sich m.E. ebenfalls eine Form von Rassismus - ein Rassismus, der alle anderen Opfergruppen, die Ähnliches erleiden mussten und müssen, auf die hinteren Ränge verweist und ihre Diskriminierung in Relation zum Antisemitismus als minderwertig klassifiziert.
Ich betrachte Broder und seine Gesinnungsgenossen nicht als Polemiker und schon gar nicht als Menschenrechtler sondern als Demagogen. Denn ihr Geschäft ist aus meiner Sicht das Säen von Hass und Zwietracht zur Wahrung ihrer Privilegien, nicht der Kampf Für Frieden, Freiheit und Gleichberechtigung für ALLE Menschen. Darum ist es mir scheißegal, wen DIE Antisemiten schimpfen. Das ist in meinen Augen nichts als heiße Luft, ausgestoßen von hasserfüllten Fanatikern.

Anonym 18. Januar 2013 um 14:01  

In der Konkret gelesen:

Freitags Gebete-Eeine Anamnese Jakob Augsteins von Rainer Trampert. Die dort kursiv gestellten Aussagen von Augstein lassen für mich keine Zweifel offen wie der Mann tickt.

"Im Zweifel links" gilt für Augstein noch nicht einmal im Zweifel.





Anonym 18. Januar 2013 um 14:15  


Es stimmt schon das die neoliberalen Verbrecher den Anti-Semitismus benutzen um "Regimekritiker" in den Dreck zu ziehen.

Jeder der sich kritisch darüber äußert das die USA ein fremdes Land bombardieren oder das in Russland ein paar junge Punker-Ladys in den Knast geworfen werden,oder dasdie Banken unsere Demokratie übernehmen wird natürlich auch jegliche Verletzung des Völker-Rechts durch den israelischen Staat anklagen (müssen).Es gibt ja genug Iraelis die dies selber tun.

Ich möchte noch ein extremes Beispiel anführen:Nämlich den (laut Bild-Zeitung) "besten Ökonomen in Deutschland".den netten Herrn Hans Werner Sinn.In einem Interview mit dem Tagesspiegel aus den Jahre 2008 sagt Er auf den Vorwurf das Er und seine Banker-Kumpels "an allem Schuld sind" folgendes:

"In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken. Auch in der Weltwirtschaftskrise von 1929 wollte niemand an einen anonymen Systemfehler glauben. Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager."

http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/finanz/hans-werner-sinn-1929-traf-es-die-juden-heute-die-manager/1357144.html

Und dies von einem Mann der nur wenige Jahre später in allen Talkshows und Zeitungen den bösen Südländern die Schuld "an allem" gibt und fordert das man die Pleite-Griechen und die anderen PIGS aus dem Euro schmeisst.

flatter 18. Januar 2013 um 14:31  

Was nützt es, eine "Kritik" auf jene zu lenken, die selbst außerhalb einer solchen stehen? Dass Broder ein Clown ist, der selbst Juden als Antisemiten bezeichnet und überdies erbarmungswürdige Argumentationsmuster bedient, ist ein alter Hut. Koksnuttentrainer Friedmann seinerseits ist als Moralininstanz wowas von verbraucht, dass er der letzte ist, der's noch nicht bemerkt hat. Wo ist da der Sinn?
Augstein versteigt sich in seiner 'Kritik' an Israel tatsächlich in paranoide Argumente ("cui bono") und lässt in sehr wohl bekannter Tradition offen, ob der Jude nicht dahintersteckt, wer irgendwo wer was tut. Das ist antisemitisch bis ins Mark. Nicht, dass das seine Methode wäre, aber er hat damit auch keine Berührungsängste. Widerlich genug.
Ob ihn das zum "Antisemiten" macht, weiß ich nicht, kann aber niemandem absprechen, das so zu sehen. Dann ist aber immer noch wurscht, ob die publizistischen Nützlinge Friedmann und Broder so denken. Von denen erwarte ich Quote, nicht Inhalt.
Ceterum censeo: Es gibt gibt ca. 200 Staaten auf der Welt, die Israel wirksam kritisieren können. Das muss nicht aus Deutschland kommen, und wer dazu nicht einfach mal die Fresse halten kann, der hat etwas ziemlich Wichtiges verpennt im Geschichtsunterricht.

methusalem 18. Januar 2013 um 15:06  

Das Thema ist komplex(er)...
Israel verkörpert mit seiner jahrtausendelang in der Diaspora erlebten Verfolgung der Juden als Minderheit den unbedingten Willen, die Einheit von Volk und Nation zu verteidigen. Dieser Selbstbehauptungswille einer Nation ist eine Provokation für die linke Idee multiethnischen Weltbürgertums und der Auflösung aller Grenzen.
Es ist also durchaus eine Ideologiefrage.

Anonym 18. Januar 2013 um 15:34  

Wäre mit dieser Ansicht nicht aber auch Jürgen Möllemann rehabilitiert?
Dessen politisches und gesellschaftliches Ende war ja diese Aussage:
"Wer Ariel Scharon kritisiert, wird von bestimmten Leuten in Deutschland in die Ecke des Antisemitismus gestellt. Das verbitte ich mir auf das Schärfste. Ich fürchte, dass kaum jemand den Antisemiten, die es in Deutschland gibt, leider, die wir bekämpfen müssen, mehr Zulauf verschafft hat als Herr Scharon und in Deutschland ein Herr Friedman mit seiner intoleranten und gehässigen Art. Überheblich. Das geht so nicht, man muss in Deutschland Kritik an der Politik Scharons üben dürfen, ohne in diese Ecke geschoben zu werden."

ulli 18. Januar 2013 um 17:17  

Naja, Grass hat meiner Erinnerung nach seinerzeit in diesem Gedicht geschrieben, Israel wolle "das iranische Volk auslöschen". Das ist wirklich absurd. Und für meine Ohren schwingt da ein ganz komischer Zungenschlag mit, dass nämlich jetzt auch die Juden anfangen, andere Völker auszulöschen. Was sie nicht tun, bei aller Kritik an Israel. Natürlich bin auch ich dafür, Netanjahu an einem Angriff auf den Iran zu hindern. Aber es kommt sehr auf die Wortwahl an.

Mein Eindruck ist eher, dass hier zwei Züge aufeinander rasen: Die Militanten in Israel und die Militanten unter den Palästinensern (oder überhaupt in der arabischen Welt).

Troptard 18. Januar 2013 um 17:46  

@ Methusalem

"die linke Idee multiethnischen Weltbürgertums und der Auflösung aller Grenzen" ist leider vollkommen kompatibel mit der bürgerlichen Ideologie des Teilens und Herrschens. Der Zerfall und die Auflösung von Staaten in Ethnien bietet eben nicht selbstverständlich die Grundlage für ein friedliches multikulturelles Nebeneinader, sondern dient eher als Stigma.
Ich versuche mir vorzustellen, was unter sog. Linken abgehen würde, wenn es ernsthafte Bestrebungen in Deutschland geben würde dafür einzutreten, dass Bayern, Friesen, Sachsen etc. auf ihre Ethnien bestehen und sich vom Bundesstaat loszulösen verlangen. Oder Dänemark darauf bestehen würde, die vom Deutschen Reich anektierten Gebiete zurückzuverlangen. Die sog. Linke stände schnell Gewehr bei Fuss!

Die Reduzierung des Weltbürgertums auf Ethnien,, wobei die Wortschöpfung "Weltbürgertum" schon aufschlussreich ist, ich schätze mal für 80 % der Weltbevölkerung ist das Wort "Bürger" ein Fremdwort , hat leider nichts mit der Emanzipation zu tun, wie sie noch Teile der "alten Arbeiterbewegung" im Sinn hatten.


Iris 18. Januar 2013 um 17:47  

@methusalem:
"Israel verkörpert (...) den unbedingten Willen, die Einheit von Volk und Nation zu verteidigen."

Dieser unbedingte Wille kommt mir irgendwie bekannt vor...

Mein Verständis für den Selbstbehauptungswillen einer Nation hat Grenzen. Und die verlaufen da, wo Nichtangehörige einer Nation unterdrückt, verfolgt und ermordet werden. Und da mach ich auch für Israel keine Ausnahme. Israel ist für mich ein Staat mit derselben Verantwortung für die Einhaltung der Völker- und Menschenrechte wie alle anderen. Und Juden - egal ob sie in Israel leben oder woanders - sind für mich weder bessere noch schlechtere Menschen. Es sind einfach Menschen wie Du und ich.

Linke sind in erster Linie Antikapitalisten und manche auch Antinationalisten. Daraus speziell Antisemitismus herzuleiten ist Schwachsinn. Das würde nämlich bedeuten, dass alle Juden Kapitalisten und Nationalisten wären und die Weltherrschaft des Kapitals allein ihr Werk. Das haben die Nazis behauptet, ich glaube es nicht. Und ich finde es infam, dieses typisch rechtsextreme Weltbild nun ausgerechnet der Linken unterzuschieben.

Anonym 18. Januar 2013 um 18:36  

Zunächst ist da doch die Definitionsfrage. Der Streitpunkt ist ja gerade, wann man definitiv sagen kann, jemand sei Antisemit, und wann man dies definitiv zurückweisen kann.
Darüber kann man streiten, wie jetzt im Fall Augstein.

Roberto hat selber geschrieben, dass z.B. Rassismus heute weniger offen zutage tritt, sondern vielmehr durch das Spielen einer bestimmten Klaviatur, durch Anspielungen, die hinterrücks Regungen wecken.

Genau daran macht sich auch die Kritik an Augstein fest.
Zitat Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden:
"Herr Augstein ist nicht nur israelkritisch, sondern transportiert auch ein völlig undifferenziertes Bild des jüdischen Staates. Er liefert Beispiele, die von einer sachlichen Argumentation um Lichtjahre abweichen: Beim U-Boot-Geschäft schrieb er: 'Wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen.'
Da werden ganz bestimmte Klischees bedient - das der jüdischen Weltverschwörung sowie das vermeintliche Profitieren von der Shoa.
An anderer Stelle schrieb er, die Regierung Netanjahu führe die ganze Welt 'am Gängelband des Kriegsgesangs'. Ich könnte das auch so übersetzen: Die Israelis sind unser Unglück.
Augstein macht Stimmung und reitet auf einer Welle des Populismus. Wenn man hierzulande fragt, wer gefährdet den Weltfrieden, rangiert Israel leider oft in der Gesellschaft von Nordkorea und Iran, was rational einfach nicht zu erklären ist."

Die Vorwürfe gegen Augstein zielen also genau auf die Art von Propaganda ab, die hier sonst in anderen Zusammenhängen immer zu Recht verurteilt werden.

Anonym 18. Januar 2013 um 20:13  


Natürlich gibt es heute unverholenen Rassismus.In allen "Leit-Medien".

Was ist mit dem Schlagwort "PIGS"?Regt sich irgend wer darüber auf?Wurde jemand von diesen Schreibern die desen Ausdruck täglich benutzen verklagt?Etwa der Selbe der sich über "unterschwelligen" Anti-Semitismus aufregt?

Gab es etwa einen Jemanden der sich darüber aufgeregt hat das bei SPON mit Aufmachern wie "Griechen-Virus bedroht Europa" gehetzt wurde?
Hier:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/europaeische-schuldenkrise-italien-wappnet-sich-gegen-das-griechen-virus-a-773777.html

Was wenn Israel in der Eurozone und von der Pleite bedroht wäre?Hätte es irgend ein SPON-Journalist gewagt so was wie "Italien wappnet sich gegen das Juden-Virus" zu schreiben?

Wer meint das man die Griechen härter anpacken kann weil sie ja "damals" nicht so unter uns Deutschen gelitten haben sollte mal ein gutes Geschichtsbuch aufschlagen.

Die Juden als Schreckgespenst und Sündenbock haben erst einmal ausgedient.Natürlich.Die Gründe dafür sind bekannt.Die stehen jetzt unter "Artenschutz" bei Bertelsmann und Holtzbrinck nachdem die selben Verlage noch vor 80 Jahren die Selben waren die die Juden-Hetze auf Hochtouren betrieben haben.

Das heisst aber nicht das die heutigen Sündenböcke nicht ganz offen mit rassischtischen Angriffen belegt werden.

Das "Griechen-Virus",die PIGS,die "feigen,inkompetenten Italiener" die nicht nicht einmal für die Sicherheit ihrer Kreuzfahrt-Schiffe garantieren können,geschweige denn als Wirtschaftspartner in der Euro-Zone taugen.Das ist doch der nicht ein mal unterschwellige Tenor in den Medien dieser Tage.

Wenn sogar der ehemalige Chefredakteur der Bild am Sonntag,Herr Spreng,sagt das die seit 2-3 Jahren laufende BILD-Kampagne gegen Griechenland (so seine Worte) den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt dann sollten eigentlich keine weiteren Fragen offen sein was verholenen und unverholenen Rassismus in unseren Medien betrifft.

Dann haben wir ja auch noch Sarrazin und Buschkowsky.Mit ihrer Hetze gegen Muslime.

Ist die Diskussion wer ein verholener Anti-Semit ist momentan wirklich das Problem?Oder geht es um Ablenkung?

Und dies um den nächsten Sündenbock für unseren kommenden Wirtschaftseinbruch parat zu haben?

Iris 18. Januar 2013 um 21:14  

@Anonym
Tja aus meiner Sicht haben wir da zwei Aussagen und zwei Interpretationen. Allerdings haben die beiden m.E. jeweils nichts miteinander zu tun.

So wie Sie interpretieren, kommt immer Antisemitismus raus, weil Sie den einfach willkürlich reinlesen. Anders gesagt: Ihre Phantasie ist mit Ihnen durchgegangen.

Anonym 18. Januar 2013 um 22:15  

Iris, so steht man sich dann eben gegenüber.
Sie sagen, ich übertreibe. Ich sage, Sie verharmlosen.
Und nun?

Anonym 19. Januar 2013 um 09:53  

Ich bin wirklich gespannt, was diese Anti-Antisemisten sagen, wenn man vielleicht demnächst die völlige Annexion des Westjordanlandes und die Vertreibung der restlichen Palestinenser einer kritischen Betrachtung unterzieht...

Inglorious Basterd 19. Januar 2013 um 11:15  

Die Kritiker Israels bzw. der israelischen Regierung bzw. der Juden
scheinen sich darüber bewußt zu sein, dass sie mit ihren Attacken gegen ein spezielles Land (obwohl es viele andere ähnlich zu kritisierende gibt) den Opferdiskurs im Landes des Exportweltmeisters befördern.

Nachdem nun im medialen Mainstream, in Filmen, Talkshows und Zeitungen jahrelang propagiert wurde, dass die Deutschen auch -bis hin zum "nur"- Opfer waren, läßt es sich aus der perspektive höchster moralischer (weil linker) Instanz leichter darüber schwadronieren, ob den Juden doch eigentlich nicht schon immer das "Täter-Gen" die Handlungen diktierte. Darauf deutet meines Erachtens auch das dem Nationalsozialismus entlehnte
Vokabular hin, mit dem die Israelkritik unterfüttert wird ("Lager" etc).



Inglorious Basterd 19. Januar 2013 um 11:32  

Ergänzung zu meinem Argument der Israel-Obszession:

Die dreißig realen Kriege auf der Welt, mit denen Israel nicht das Geringste zu tun hat, werden
ignoriert, so dass Krieg führende Staaten auch nicht als Kriegsgefahr in Erscheinung treten. Der Iran und Saudi-Arabien bekriegen sich im Irak und in Syrien, Syrien schießt auf die Türkei, die Türkei holt die Nato zur Hilfe, im Kongo morden
Stellvertretermilizen, Afghanistan, Sudan, die USA entsenden Flugzeugträger nach Asien, wo China Gewässer beansprucht, die
US-Verbündete für sich reklamieren. Die realen Kriege und bedrohlichen Konflikte stellen in der Scheinwelt des Antisemiten kein
Risiko dar – es gibt sie nicht, auch nicht die Opfer. Der Antisemit verhält sich zwangsläufig gegenüber anderen rassistisch, weil
ihm ein einziger, von Israel getöteter Hamas-Krieger wertvoller ist als eine Million Tote mit schwarzer Haut.

ad sinistram 19. Januar 2013 um 11:59  

Zitat:
"Die Kritiker Israels bzw. der israelischen Regierung bzw. der Juden..."

Das ist aber nicht dasselbe. Was hat denn das Judentum mit israelischer Politik zu tun?

Inglorious Basterd 19. Januar 2013 um 12:03  

Roberto: Das wird von den Kritikern gern in einen Topf geworfen.

ad sinistram 19. Januar 2013 um 12:09  

@ Inglorous Basterd:
Ja, das stimmt, das tun sie wirklich. Ist aber tatsächlich hanebüchen. Als Kritiker der Bundesregierung kritisiere ich auch nicht das Christentum.

Iris 19. Januar 2013 um 13:46  

@Anonym:
Ich sage nicht, Sie übertreiben, sondern ich meine, Sie interpretierten da etwas hinein, was da bei unvoreingenommener Lesart gar nicht drin steckt. Kritisiert wurde von Augstein ganz konkret die unkritische Haltung der Bundesregierung gegenüber der Politik der israelischen Regierung sowie deren Kriegstreiberei. Den Zusammenhang mit der Shoa und Judenfeindlichkeit haben SIE konstruiert. Berlin ist nicht die Welt und Israels Regierung sind nicht DIE Juden. Sie haben Augstein einfach unterstellt, Letzteres mit seinen Worten zu meinen. Wenn man so interpretiert, kann man aber m.E. gar nichts Kritisches über die Politik Israels äußern, ohne in Ihren Augen ein Antisemit zu sein.

@Inglorious Basterd -
zum Argument der Israel-Obsession:
Wenn überhaupt ist diese selektive Berichterstattung über Kriegs- und Krisenherde in erster Linie durch die Mainstream-Medien gesteuert. Die Mehrheit derjenigen, die am Weltgeschehen interessiert sind, diskutiert natürlich hauptsächlich über die Ereignisse, auf die sie täglich mit der Nase gestoßen wird. Das muss auch gar nicht unbedingt direkt was mit Politik zu tun haben, wie z.B. bei der Berichterstattung über Hurrikan Sandy, bei dem hier fast nur über die Schäden berichtet wurde, die er in den USA angerichtet hat, obwohl die Verwüstungen in einigen Karibikstaaten ebenfalls verhehrend waren. Aus dem relativ hohen öffentlichen Interesse am Nahostkonflikt hierzulande auf Antisemtismus zu schließen, halte ich deshalb für einen Kurzschluss.
Darüber hinaus liegt es m.E. auch in der Natur kritischer und freiheitsliebender Geister, dass sie sich genau mit dem kritisch auseinandersetzen, über das Nachzudenken man ihnen verbieten will. Das halte ich für eine typisch menschliche Trotzreaktion.
Und Sätze wie folgender fordern trotzige Gegenwehr m.E. geradezu heraus:
"Die meisten wollen Augsteins antisemitisches Potenzial schlicht nicht erkennen, weil sie es mit ihm teilen."

Anonym 19. Januar 2013 um 14:01  

Fantastischer Text!


Sollte schulische Pflichtlektüre werden.

Allerdings finde ich bemerkenswert,
(ich kann zwar nur für mein direktes Umfeld sprechen) das wir schon damals als Schüler die Generalisierung des Holocaust vergeistigt haben.Ohne natürlich es elegant formulieren zu können aber eben ganz instinktiv und intuitiv.
Interessanter Weise versucht man mir über die Medien bis zum heutigen Tag das Gegenteil zu beweisen und/oder einzureden.

Anonym 19. Januar 2013 um 17:34  

@ Iris, 18.1., 12:20

Ich verstehe nicht, warum sich manche Menschen immer noch dem Irrglauben hingeben, jüdische Mitmenschen könnten eine eigene "Rasse" sein.
Juden sind gemeinhin Anhänger einer gewissen Glaubensrichtung, und nicht Angehörige einer gewissen Menschenrasse. Dieser Hokuspokus wird immer weiter transportiert und jeder, der Juden als eigene "Rasse" bezeichnet, macht sich das verbrecherische Nazi-Vokabular zueigen.
So ist es natürlich vollkommener Quatsch bei Kritikern von israelischer Politik von Antisemiten zu reden, genau wie bei Mitgliedern der jüdischen Glaubensgemeinschaft von einer eigenen Rasse zu faseln !
Anton Chigurh

Iris 19. Januar 2013 um 18:56  

@Anton Chigurh:
Und ich verstehe nicht, wieso einen manche Menschen einfach missverstehen WOLLEN.

Zitat: "Unabhängig von seiner Herkunft kann Rassismus jeden Menschen betreffen. Die Konvention der Vereinten Nationen unterscheidet nicht zwischen rassischer und ethnischer Diskriminierung."
Quelle: http://bit.ly/x9ZGd

Übrigens haben Nazis bestimmt auch mal Worte wie Quatsch oder Hokuspokus gebraucht. Deswegen ist es für mich aber noch kein "Nazi-Vokabular". Und wer mir so was einreden will, ist für mich schlicht und ergreifend ein Spinner.

Zoran 20. Januar 2013 um 04:20  

Diese elendige Diskussion hinterlässt wie die „Beschneidungsdebatte“ einen ganz üblen Nachgeschmack. In der Beschneidungssache war ich neutraler Beobachter, nach dem Motto: Man kann eine Meinung haben , muss man aber nicht. Mir ist es egal.

Als Aussenstehender sah ich, dass diese Diskussion wieder mal die schlimmste Gülle an die Oberfläche spülte. Bei der Beschneidungsdebatte ging wieder mal die typische 90%-Thilo-Mehrheit ad hoc auf die Barrikaden und kommentierte in üblicher, extremer, radikaler Manier.

Obwohl die Diskutanten oder deren Kinder niemals persönlich betroffen waren / und auch nie sein werden, las man Beschneidungsgegnertexte, die wirklich widerlich und beleidigend waren. Dies geschah mit einem Impetus, so inbrünstig, dass man die eigentliche Ader der Argumente schnell ausfindig machen konnte.

Diese, wie auch jene Diskussion wird von der großen Mehrheit der Diskutanten als Vehikel benutzt. Bei der Bescheidungsdebatte heuchelte man vor Kinderrechte und das Grundgesetz zu schützen und Religionskritik zu üben. In den Kommentaren las man Dinge wie "Kinderschänder", "Sadisten", "Pädophile", "perverse Rituale", "Kindermörder" etcetc. Beleidigungen nicht verwendend und daher in den seriösen Zeitungen nicht zensiert, ging das Hetzen folgendermaßen „Die Juden und Moslems können ja das Deutschland verlassen (...Denkpause...) um das Kind im Ausland beschneiden zu lassen“. Wer da nicht den Subtext , der sich wie ein roter Fahden in der Diskussion zog, erkennt, will ihn nicht sehen. Dass fremde Kleinkinderpimmel solch radikale Gedanken offenbaren, hätte ich nicht gedacht. Natürlich gab es auch Menschen denen es wirklich um die Kinder ging, aber diese befanden sich in einer verschwindend geringen Minderheit.

Es tun sich sehr große Parallelen auf. Die gleichen rhetorischen Haken werden nun auch in dieser "Israel-Diskussion" geschlagen. Den Wenigsten geht es wirklich darum die Politik der israelischen Rechten, der Kriegstreiber, zu kritisieren und die Friedensaktivisten und Politiker, die für eine diplomatische Lösung stehen zu unterstützen. In dieser Frage wird fast nie ein argumentativer Unterschied gemacht. Es der Diskussion scheint meistens nur darum, herauszustellen welche Gefahr von Israel ausgeht, aber sehr selten wird die Gefahr benannt dem der Staat Israel ausgesetzt ist.

Roberto schrieb „Als Kritiker der Bundesregierung kritisiere ich auch nicht das Christentum.„ Augstein jedoch spricht von einer „jüdischen Lobby“. Das sagt zwar nichts über die Lobby, aber sehr viel über Augstein. War es nicht sein biologischer Vater , der in der Paulskirche über die „Ausschwitzkeule“ schimpfte, dafür stehende Ovationen bekam. Er scheint auch sein mediales Vorbild geworden zu sein. Grass (der ehemalige SS Angehörige, dem das doch noch im sehr hohem Alter, beim Schälen einer Zwiebel „einfiel“) schrieb „Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“. In Frageform, dennoch klar in der Aussage. Eine Beleidigung für alle Israelis, insbesondere für diejenigen, die Rabins Politik weitertreiben. Kein Wunder, dass Grass ein Einreiseverbot nach Israel bekommen hat. Ein ehemaliger SS-Mann fragt rhetorisch ob Israel den Weltfrieden gefährdet ...irre....und Augstein steht voll hinter ihm. Kombiniert man die Aussagen der Beiden, kriegt man ein Spruch heraus, der nicht weit weg von dem Redefragment ist, den Geschichtsbewanderte sehr gut kennen. Nun kokettiert man, wähnt sich mutig, ja tapfer, wenn man gegen die Juden... ähm Pardon... Israel loslegt. Man verlangt sogar „Ich will auch auf die Antisemiten-Liste!“ wie der Tagesspiegel-Hornochse Martenstein. Der Applaus ist ihm Gewiss. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, sich austoben dürfen, die Sau rauslassen dürfen.

Letztendlich ist es wie bei der Beschneidungsdebatte, 90% lassen die Sau raus und hetzen ... die 10% der ernsthaft Interessierten und seriösen Kommentatoren gehen in der Diskussion gnadenlos unter.

Hartmut 20. Januar 2013 um 09:20  

@Iris 18:56

"Übrigens haben Nazis bestimmt auch mal Worte wie Quatsch oder Hokuspokus gebraucht. Deswegen ist es für mich aber noch kein "Nazi-Vokabular". Und wer mir so was einreden will, ist für mich schlicht und ergreifend ein Spinner."

Das Wort Rasse ist eines der am meißten mißbrauchten Worte der Nazis.

Ich zitiere aus dem Buch von Cornelia Berning, Vom "Abstammungsnachweis" zum "Zuchtwart", S. 152 ..."Besondere Bedeutung gewinnt der Rassismus, der von A.de Gobineau (1854) begründet wurde. Der Rassismus leitet aus den Rassenmermalen menschliche Wertstufen ab, leugnet die Einheit des Menschengeschlechts und betrachtet Rassenmischung als Entartung, die notwendig zum Kulturverfall führt."...
Auf den S. 154-160 erklärt sie akribisch folgende Worte: "rasseecht, rasseeigen, rassefremd, rassegebunden, Rassegefühl, rassegesund, Rassekern, Rassekreis, Rassemensch, Rassenangst, Rassenbewußtsein, Rassenbrei, Rassenchaos, Rassencharakter, rassengebunden, Rassengeschichte, Rassenkörper, Rassenpolitisches Amt, Rassenschande, Rassenschutz, Rassenseele, Rassentum, Rassenvergiftung, Rassenschranke, Rasseschutz, rassestark, Rasseverrat, rassisch "

Der Untertitel des o.a. Buches lautet übrigens: "Vokabular des Nationalsozialismus"

Soviel zu ihrem "Einwand" !

Ingorious Basterd 20. Januar 2013 um 09:34  

Danke Zoran und danke Roberto für diese kontroverse und sachliche Diskussion!

Iris 20. Januar 2013 um 13:26  

@Hartmut:

Rassisten sind Menschen, die ihre Mitmenschen in Rassen bzw. Ethnien einteilen, um diese dann hierarisch zueinander in Relation zu setzen. Demnach waren und sind Nazis in meinen Augen genauso Rassisten wie es Antisemiten, Xenophobe und Islamhasser sind. Gegenüber ALLEN Rassisten - egal mit welchem Untertitel - habe ich hier in meinem ersten Kommentar meine Abscheu deutlich zum Ausdruck gebracht. Wie kommt dann also jemand darauf, mir daraufhin einen Missbrauch des Begriffs "Rasse" vorzuwerfen? Also aus meiner Sicht hapert's da erheblich am Sprachverständnis. Antirassismus ist das genaue Gegenteil von Rassismus, obwohl in beiden der Begriff "Rasse" steckt.

Soviel zu Ihrem "Einwand" ;-)

Iris 20. Januar 2013 um 13:50  

@Zoran:

Ihrem Kommentar kann ich in weiten Teilen zustimmen. Auch ich stelle durchaus fest, dass die echten Rassisten (von denen es nach meiner Einschätzung hierzulande beunruhigt viele gibt - und zwar in allen Bevölkerungsschichten) diese ganzen medialen Wirbel (Israelkritik, Beschneidungsdebatte, Sarrazinismus...) nutzen, um - quasi als Wölfe im Schafspelz - ihren Menschenhass unters Volk zu bringen.

Allerdings hätte der folgende Satz, GENAU SO, wie er gesagt wurde, auch von mir stammen können:
„Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“ Ich hätte ihn ebenso bedenkenlos formuliert wie ich schon häufig in der Vergangenheit sinngemäß schrieb: „Die Großmacht USA gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“ Eben WEIL ich in meiner Ächtung jeglicher Kriegstreiberei keinen Unterschied mache, wer sie betreibt und obwohl mir durchaus bewusst ist, dass weder alle US-Amerikaner noch alle Israelis Kriegstreiber sind. Ihre GEWÄHLTEN politischen Vertreter sind es aber. Jedoch stimme ich Ihnen darin zu, dass es bestimmt ein Affront für viele Israelis war, dass dieser Satz ausgerechnet aus der Feder eines ehemaligen SS-Manns kam. Und dass jene verletzt und gekränkt darauf reagieren, verstehe ich auch. Mein persönlichen Fazit daraus ist: Der Satz musste gesagt werden aber nicht von Grass.

Gerd Hellmood 20. Januar 2013 um 16:49  

Eine Frage die bislang noch nicht im Raum steht, ist die der zeitlichen Nähe zwischen Augsteins Nominierung für die Top Ten der weltweiten Antisemiten und den bevorstehenden israelischen Parlamentswahlen. Was oder welche Reaktion in Deutschland sollte da evoziert werden, womit man die Paranoia in Israel weiter zugunsten des Regimes schüren könnte?
Ein Wort noch zu Günter Grass: Grass war kein SS-Mann, sondern ein "Kindersoldat" für den man in den letzten Tagen der Auflösung keine andere Feld-Klamotte hatte auftreiben können. Er hat aber sein ganzes Leben lang gewusst, was man daraus konstruieren würde. Dass er als Missbrauchter - Ironie der Geschichte - darüber nur beim Zwiebelschälen eine Träne verdrücken konnte, dafür fehlt es Demagogen die das nun instrumentalisieren schlicht an Empathie.

Inglorious Basterd 20. Januar 2013 um 17:00  

Iris: So so. "Die Atommacht Israel gefährdet den Weltfrieden."

Frage: Wer schickt 3.500 Soldaten nach Mali? Wer schickt die Bundeswehr mit Patriot-Raketen an die türkische Grenze zu Syrien? Wer verstärkte im Oktober 2012 als Drohgebärde gegen China die Marinepräsenz im südchin. Meer? Wer führt seit über 10 Jahren Krieg "um Brunnen" in Afghanistan? Und wer mischt am Horn von Afrika kräftig militärisch mit?

Der Publikumsjoker würde da mit eindeutigem Ergebnis auffallen.

Zoran 20. Januar 2013 um 17:17  

@Iris
Es geht hier nicht um den brüchigen Weltfrieden, es geht um einen sehr brüchigen Regionalfrieden in Nahost. Aber irgendwie kommt man ohne Superlative nicht aus. In der aufmerksamkeitsgeilen Medienwelt muss man anscheinend immer, mit etwa, „aller Zeiten“, „der Welt“, des Universums“ übertreiben. Das vorweg.

Wieso wird die Rolle des Gefährders des „brüchigen Weltfriedens“ in dieser Region zumeist exklusiv dem Staat Israel zuteil? Was ist mit den Nachbarn Israels? Israel ist umzingelt von Feinden, die Israel als ein Fremdkörper in der Region sehen. Immernoch. Es wurden unzählige Kriege geführt. In der Region werden weiterhin Terrorgruppen wie die Hamas gesponsort, ausgerüstet und ausgebildet. Die Hamas-Partei gewann 2006 die Wahl im Gazastreifen. Um ihren Satz zu übernehmen: „Ihre GEWÄHLTEN politischen Vertreter“. In Israel besteht fortwährend eine reale Terrorgefahr und die Gefahr einer Eskalation von Konflikten. Es ist ein gordischer Knoten, welcher eigentlich sehr gut das MenschSein als solches wiederspiegelt. Was ist mit Syrien? Dort besteht wahrlich eine hochaktuelle Gefahr für den Weltfrieden. Keiner redet darüber. Dort treffen zwei Atomsupermächte unmittelbar aufeinander. Russland hat dort den einzigen militärischen Stützpunkt im Mittelmeer, die Amerikaner (NATO) hat bereits Soldaten und Waffen an den Grenzen stationiert. „Militärberater“ wurden von beiden Seiten geschickt. Es erinnert irgendwie an Afghanistan in den 80´ern. Aber Israel gefährdet den brüchigen Weltfrieden.

@Gerd Hellmood
Unappetitlich ist es allemal, was sich Grass, auch als kurzzeitiger ehemaliger SS-Angehöriger, geleistet hat. Ihr Text liest sich, als ob Grass das Opfer (gewesen) ist. Der Arme musste SS Klamotten tragen.... in Kindergröße. Sehr interessant.

Iris 20. Januar 2013 um 19:20  

@Zoran:

Doch, es geht in diesem Fall m.E. schon um den Weltfrieden, weil es sich bei den Konflikten eben nicht nur um regional begrenzte Kriege handelt, sondern auch europäische und US-Amerikanische Regierungen dort ihre Interessen vertreten und sich auf vielfältige Weise einmischen. Zudem betreffen Kriegsdrohungen einer Atommacht m.E. nie nur eine begrenzte Region.

Zu Ihren Fragen kann ich Ihnen keine allgemeingültigen Antworten liefern, sondern lediglich ganz kurz meine momentane Sicht der Dinge schildern:
1. Ja, Israel ist von Feinden umzingelt. Seine Regierungen haben aber m.E. auch bisher nicht besonders viel Mühe auf Friedenspolitik verwandt, um ihre Feinde zu Verbündeten zu machen, sondern mehr auf militärische Dominanz gesetzt.
2. Israel betreibt gegenüber Palästina eine stetige Eroberungspolitik. Und es fällt mir sehr schwer, Eroberer als Bedrohte zu sehen, die sich ja nur verteidigen.
Und als letztes Argument: "Die anderen sind ja auch nicht besser" war für mich noch nie eine überzeugende Rechtfertigung für eigenes Fehlverhalten.

Aber wer jetzt Recht hat und wer nicht, ist hier doch gar nicht die vorrangige Frage, sondern ob und wie man hierzulande darüber diskutieren kann/darf/sollte und ob und wie die aktuelle Debattenpraxis mit Antisemtismus zusammenhängt.

Und doch, ich kritisiere schon seit vielen Jahren die größenwahnsinnige US-Amerikanische Weltmachtspolitik und Kriegstreiberei und auch die Bündnis und Rüstungspolitik unserer eigenen GEWÄHLTEN Regierung die Region betreffend. Muss man das dazu sagen, um sich auch über Israels Politik eine kritische Meinung erlauben zu dürfen?

Gerd Hellmood 20. Januar 2013 um 20:22  

@ zoran

Zitat: "Unappetitlich ist es allemal, was sich Grass, auch als kurzzeitiger ehemaliger SS-Angehöriger, geleistet hat."
Was hat sich Günter Grass geleistet, ausser in den letzten Wirren dieses sinnlosen Krieges planlos durchs Gelände zu stolpern und dabei nach eigener Angabe keinen Schuss abgegeben zu haben? Wissen Sie mehr? Wie schnell man in etwas hineingezogen werden kann, was nicht den eigenen ethischen Masstäben entspricht, können Sie u.a. der Dokumentation "Breaking the Silence" entnehmen.

Zoran 21. Januar 2013 um 03:13  

@Iris
„Aber wer jetzt Recht hat und wer nicht, ist hier doch gar nicht die vorrangige Frage, sondern ob und wie man hierzulande darüber diskutieren kann/darf/sollte und ob und wie die aktuelle Debattenpraxis mit Antisemtismus zusammenhängt.“

Sie haben Recht. Diesbezüglich verstehe ich ihre Argumentation, kann sie auch sonst nachvollziehen. Das will ich Ihnen verdeutlichen, aus einer gänzlich anderen Perspektive. Wie sollte man also argumentieren? Vielliecht sollte man die Argumente nicht verkürzt in den Raum schmeissen? Die Sache ist historisch und gegenwärtig viel zu verzwickt, seit 50 Jahren in NahOst mehr als angespannt (kriegerisch), als dass man sie ohne weitere Ausführungen, mit Sprüchen eine(s)r Deutschen abkommentieren kann. Man sollte nicht vergessen wieso Israel gegründet wurde.... Der Ursprung liegt hier, in unserem Europa. (Am einfachsten wäre es, Deutschland holt alle jüdischen Vertriebenen und Flüchtlinge von damals und deren Nachfahren nach Europa zurück und entschädigt sie für unermessliches Leid, ihr Heimatland und gibt deren Eigentum zurück , für alle Zeiten. .Desweiteren zahlt Deutschland alle Reparationen, die den anderen Völkern vertraglich zustehenden Summen ..und im Falle eines Friedensvertrags die tatsächlich fälligen Reparationsschulden. Deutschland sollte endlich seinen Frieden mit der Welt schliessen!.. Das wäre die grobe, einfache Kelle. (Gefällt Ihnen das, Iris?))


Wobei die gängige Propaganda-Lehrmteinung besagt, dass man Texte so verfassen soll, dass der letzte Blödmann sie versteht. Hüten wir uns davor. Mit kurzen Slogans und Texten bekommt man bei kurzen Gehirnen Aufmerksamkeit. Sie wissen doch wer auf kurze Slogans am meisten reagiert. Um ganz ehrlich zu sein, sollte man sich als Deutsche(r)in „dieser Sache“ nicht als Bewährungshelfer aufspielen. Ich hoffe Sie wissen, was ich meine.

Zoran 21. Januar 2013 um 04:05  

@Gerd Hellmood
„Grass war kein SS-Mann, sondern ein "Kindersoldat" für den man in den letzten Tagen der Auflösung keine andere Feld-Klamotte hatte auftreiben können.“

„Was hat sich Günter Grass geleistet, ausser in den letzten Wirren dieses sinnlosen Krieges planlos durchs Gelände zu stolpern“

Das was Sie schreiben ist gelinde gesagt, gröbster Unfug. Wieso machen Sie das? Wieso kolportieren Sie hanebüchene Geschichten von aufgetragenen Klamotten....wo haben sie diese Geschichtchen her, aus ihrem Kopf? Ich würde gerne den psychologischen Teil iheer Geschichte herausarbeiten. Diese Storys, die Sie zum besten geben , werden auch von absoluten Laien nach einigen Klicks im Internet als Unwahrheit enttarnt.

Was ist ihr Beweggrund an diesen Mythen festzuhalten und sie sogar auszuschmücken? Pseudologia Phantatica? Können Sie nicht anders?

Grass selbst schreibt über seine eigene Vergangenheit ganz anders. Es sei denn, Sie kennen seine Vergangenheit besser als er.

Was also treibt Sie an?

Er sah in seinen jungen Jahren in der SS eine Eliteeinheit, deshalb ist er dort eingetreten, freiwillig. Er war kein Flakhelfer oder ein zum „Volkssturm“ abkommandierter. Während seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS gab es von seiner Einheit Rückzugsgefechte. Von dieser, seiner Einheit, sollen keine Kriegsverbrechen verübt worden sein. Er sei nur Ladeschütze gewesen, selber habe er nicht geschossen. Er musste, da er von durch die Sowjetische Armee seiner Einheit abgeschnitten war, seine SS Uniform gegen eine Wehrmachtsuniform tauschen (sein Glück, dass er diese neue „Feld-Klamotte“ auftrieb), da er sonst bei Gefangenennahme durch die vorrückende Rote Armee an Ort und Stelle exekutiert worden wäre. Schlussendlich kam er in US Gefangenschaft, eine Akte wurde über ihn gefertigt.

“der Dokumentation "Breaking the Silence"
Sie sind ein kranker Mann, Grass lebt(imernoch), er gab viele Interwievs, er schrieb ein Buch, vieles wurde recherchiert., Fragen Sie ihn. Wie wäre es direkt die Aussagen von Grass und sein Buch zu lesen/nehmen, diese sind die allerbesten Quellen, da autobiografisch. Lesen Sie seine Interviews.

Pathologischen Pseudologen wie Ihnen fehlt es schlicht an Wahrheitsliebe, aber sie lieben die theatralisch-fiktionale „Selbstveropferung“ die in ihrem Selbst-Gebilde lebt.

ad sinistram 21. Januar 2013 um 07:56  

Zu Grass: Tatsächlich gestaltete es sich etwas anders. Im Häuten der Zwiebel schreibt er, dass er bei seinem SS-Eintritt gerade mal 17 Jahre alt gewesen sei. Er kannte nichts anderes als den Nazi-Staat. Die SS war für ihn eine Eliteeinheit.

Insofern ist der Rettungsversuch Grassens ebenso falsch, wie die Schelte an ihm. Er war damals Produkt der Gesellschaft, in der er aufwuchs. Man kann jetzt nicht mit Arroganz aufwarten deshalb. Zugegeben hat er es vor den Amerikanern umgehend. Dass er ganz klar antifaschistisch sich entwickelte nach dem Krieg, ist nicht von der Hand zu weisen. Natürlich werden seine Kritiker immer etwas finden, womit sie Grass "überführen" können - und genau davor fürchtete sich Grass immer. Wer vom SS-Mann Grass spricht, dem muss man Arroganz vorwerfen.

Gerd Hellmood 21. Januar 2013 um 09:27  

@ Roberto de Lapuente
Diesem Kommentar kann ich mich anschliessen. Ich habe zugegebenermassen ein wichtiges Detail übersehen. Dass zur damaligen Zeit freiwillig allerdings nicht wirklich freiwillig war, steht auf einem anderen Blatt und in diesem Kommentar zwischen den Zeilen.
@zoran
Wenn Kommentare länger ausfallen als der Artikel, hebt sich bei mir schon mal eine Augenbraue. Wenn jemand wie Sie dann auch noch meint andere psychiatrisieren zu müssen, dann bescheinige ich ihm eine gewisse Überheblichkeit. Diese gehört übrigens zur paranoiden Symptomatik. Besten Gruß

Iris 21. Januar 2013 um 12:17  

@Zoran:
Sie haben Recht mit allem, was Sie schrieben. Aber man kann nicht öffentlich kontrovers über ein so verzwicktes Thema diskutieren, wenn man seine Argumente nicht in den Raum werfen darf. Das müssen die Mitdiskutanten m.E. ertragen können, sonst sind sie nicht ausreichend diskussionsfähig.
Vielleicht würde es helfen, wenn Sie mich nicht in erster Linie als Deutsche sähen, denn ich selbst verstehe mich auch nicht in erster Linie so - und zwar nicht weil ich mich für meine Heimat schämen würde, sondern weil ich mit nationalem Bewusstsein generell nicht viel anfangen kann. Ich sehe mich eher als Frau des Planeten Erde, die zufällig in Deutschland geboren ist (was in dieser Zeit allerdings für mich beileibe kein unglücklicher Zufall war).
Zu Ihrer provokanten Frage: Ja, ich würde es gerecht finden und gerne sehen, wenn wir alle Greueltaten unserer Ahnen wieder gutmachen könnten. Ich hätte z.B. nicht das Geringste dagegen, wenn alle vertriebenen Juden nach Europa zurückkämen (sofern sie das überhaupt wollen) und man zumindest versuchen würde, sie für das zugefügte Leid und ihre Verluste zu entschädigen. Gleich anschließend sollten wir alle zusammen dann die Völker Afrikas und der Karibik für ihre jahrhundertelange Versklavung und die Folgen davon entschädigen, Amerika den vom Völkermord verschont gebliebenen Indianern zurückgeben und Australien den Aborigines. Das wäre nur gerecht und zumindest ein Versuch der Wiedergutmachung. Die Frage ist aber: Ist das auch realistisch?
Wir könnten stattdessen aber auch aufhören, in einer Vergangenheit zu leben, die man nicht mehr ändern kann und dafür zusammen versuchen, die Gegenwart besser zu machen, damit unsere Kinder sich nicht eines Tages für uns schämen.


@Gerd Hellmood
Allerdings erwarte ich mir von reifen intellektuellen Persönlichkeiten in einer solchen öffentlichen Debatte auch ein gewisses Maß an Empathie.
Und ein solches Maß hätte während der Diskussion über Grass' Gedicht zu 3 Fragen führen können:
1. Ist der dunkle Fleck auf seinem Lebenslauf menschlich verzeihlich?
2. Darf man von Holocaust-Opfern und ihren Nachfahren erwarten, dass sie ihn verzeihen?
3. Ist ausgerechnet ein ehemaliger SS-Angehöriger der geeignete Mann, seinen moralischen Zeigefinger gen Israel zu erheben?

Es geht mir nicht darum, Grass zu einer persona non grata zu erklären. Aber er hätte sich nicht unbedingt zu diesem Thema so laut zu Wort melden müssen. In seinem Fall hätte ich mir gewünscht, er hätte erkannt, dass er aufgrund seiner Vergangenheit nicht der richtige Mann für den Job ist. Das hätte ich als persönliches Verantwortungsgefühl UND Empathie mit Holocaust-Opfern und ihren Nachfahren gewertet.

@Roberto De Lapuente:
Du darfst mir gern Arroganz vorwerfen, wenn es denn aus Deiner Sicht sein muss ;-). Jedoch lass mich Dir eines dazu sagen:
Einer meiner Großväter, den ich sehr liebte, war ebenfalls ein Angehöriger der Waffen-SS, ist es genau im selben Alter und ungefähr zur selben Zeit wie Grass geworden. Dennoch habe ich kein Problem damit, wenn ihn jemand einen SS-Mann nennt, denn das war er. Auch ein junger Mann ist ein Mann. Seine Vergangenheit nicht schonungslos benennen zu dürfen, wäre für mich das Gleiche wie aus falsch verstandener Rücksichtnahme über Palästina zu schweigen.

Gerd Hellmood 21. Januar 2013 um 20:59  

@ Iris

Meine Unfähigkeit, nicht mit den Wölfen heulen zu können, ist nicht durch Mangel an Empathie begründet. Sie dürften Einiges jünger als ich sein. Ich hatte keinen Großvater bei der SS (!), ich hatte einen Vater, der den U Bootkrieg mitgemacht hatte. Googeln Sie "U758, Afghanistan und..." Ihre Fragen müssen Sie sich selber beantworten. Zur Empathie gehört nicht nur mitfühlen, sondern auch hineindenken können.

Iris 22. Januar 2013 um 10:33  

@Gerd Hellmood:

Sie haben leider wenig bis gar nichts von dem verstanden, was ich Ihnen in meinem letzten Kommentar sagen wollte.
Ehe Sie bei solchen Themen mitdiskutieren, sollten Sie m.E. zunächst ihre eigene Betroffenheit so weit verarbeitet haben, dass Sie in der Lage sind, dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte aus der Perspektive "der Anderen" zu sehen - und zwar OHNE Groll. Dieses Bemühen hat NICHTS, aber auch gar nichts damit zu tun, "mit den Wölfen zu heulen". Sie sind aus meiner (zugegeben flüchtigen) Sicht gerade mal bei Empathie mit Ihrem Vater angekommen. Das ist viel aber noch lange nicht genug.
Verzeihen Sie bitte meine Offenheit bzgl. Ihrer persönlichen Hintergründe. Ich hielt sie aber in diesem Fall für nötig. Außerdem haben Sie dies selbst hier aufs Tapet gebracht.

Anonym 22. Januar 2013 um 13:40  

@ Iris
"Aber man kann nicht öffentlich kontrovers über ein so verzwicktes Thema diskutieren, wenn man seine Argumente nicht in den Raum werfen darf. Das müssen die Mitdiskutanten m.E. ertragen können, sonst sind sie nicht ausreichend diskussionsfähig."

Hier muss doch in aller Deutlichkeit widersprochen werden.
Nein, man muss seine "Diskussionsfähigkeit" ganz sicher nicht dadurch unter Beweis stellen, dass man ertragen muss, dass jeder seine Argumente "in den Raum werfen" darf.
Roberto hat dazu schon öfter geschrieben.

Gerd Hellmood 22. Januar 2013 um 15:07  

@Iris
ZITAT
"Sie sind aus meiner (zugegeben flüchtigen) Sicht gerade mal bei Empathie mit Ihrem Vater angekommen."

Da muss ich Ihnen zustimmen -zumindest was ihre flüchtige Sicht anbelangt. Aus dieser heraus erlauben Sie sich dann Ihre Unterstellungen. Sie sollten doch auch schon über dreissig sein und argumentieren altklug wie eine Primanerin? Aber zumindest ihre dritte Frage beantworte ich Ihnen: Selbstredend darf ein vormals Verführter, Verblendeter, der sich ein Leben lang geläutert hat, vor Demagogie und Kriegshetze warnen. Dies schon aus erlittener Erfahrung heraus. Gerade an letzterer fehlt es Ihnen möglicherweise. Übrigens wären Sie an anderer Stelle schon längst angesprungen worden, dafür, dass Sie den Genozid an der indigenen amerikanischen Urbevölkerung mit dem Holocaust auf eine Stufe setzen und damit die Singularität des Letzteren in Frage stellen.

Gerd Hellmood 22. Januar 2013 um 15:43  

Und noch etwas muss ich anfügen, bevor ich aus dieser Diskussion aussteige. Selbstredend gilt mein Mitgefühl den Holocaustopfern. Derzeit insbesondere den Überlebenden, die hier in Deutschland die Anfänge noch mitbekommen hatten. Was glauben Sie wohl, was für eine horrende Retraumatisierung die fortschreitende Rechtsradikalisierung der israelischen Gesellschaft für die darstellt?

Anonym 22. Januar 2013 um 20:49  

Troptard, Sie nahmen Anstoss am Terminus "Weltbürgertum" als linke Idee. Dies stammt von Habermas, den wohl niemand als rechts oder mittig einordnen würde.
Siehe z.B. "Habermas und der Marxismus".

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