Finger vom Kadaver schneiden
Montag, 13. Februar 2012
Zuweilen erlangt man den Eindruck, wir warteten auf der Schwelle zu neuen Mittelalterlichkeiten. Da wollen Sextremistinnen die Unschuldvermutung als ein potenzielles Unwort anschwarzern, pilgern aufgeschreckte Eltern durch Ortschaften, nicht selten mit der Forderung nach Todesstrafe oder mindestens Haft bis zum bitteren Ende - oder man fordert repressive Mittel, zur Erfüllung "guter Absichten". Da passt es ins Bild, dass auch die Leichensynode eine Neuauflage erhält.
Exhumiert vor Gericht
Papst Stephan VI. ließ 897 die sterblichen Überreste seines Vorgängers Formosus exhumieren und vor Gericht stellen. Das Urteil war drakonisch. Man nahm dem Angeklagten sein päpstliches Ornat, schnitt ihm Finger ab und verscharrte ihn wie einen Hundskadaver, nur um ihn kurz danach nochmals auszubuddeln und in den Tiber zu werfen. Was Formosus getan hat, dass man ihn posthum derart strafte, blättere man bitte in einer penibel geführten Chronik nach. So viel sei aber gesagt: gedopt hat er nicht!
Es gibt historische Episoden, die wirken mit etwas Abstand betrachtet einfach nur lachhaft - die Leichensynode ist so eine. Auch wenn sie erklärbar ist mit dem Weltbild der mittelalterlichen Glaubenswelt, in der Diesseits und Jenseits weniger fromm voneinander geschieden waren, wie in späteren Epochen. Trotzdem stellen wir uns Stephan VI. als eine Witzfigur vor. Ausgeschlossen ist nicht, dass der Internationale Sportgerichtshof (CAS) irgendwann gleichermaßen verspottet wird. Verspottet wie die Synodalen seinerzeit - falls der CAS nicht bereits schon heute ausgelacht wird.
Gerichtsprozess für eine Leiche
Jan Ullrich ist rundlich geworden. Rundlicher als sonst, als die Experten und Fachleute feststellten, dass er nur deshalb immer Zweiter bei der Tour de France werde, weil er um ein oder zwei Kilo zu dick sei. Jedenfalls, der Ullrich jener Tage, er saß nicht vor seinem Richter. Es war jener drahtige, nur für Experten zu fette Radsportler, über den zu Gericht gesessen wurde. Aber der war nicht anwesend. Diesen Ullrich gibt es nicht mehr - seit 2007, eigentlich schon seit Mitte 2006, nicht mehr. Der Privatmann Ullrich erschien an seiner statt. Der Radsportler Ullrich aber, er verstarb vor gut sechs Jahren. Für seinen Prozess exhumierte man ihn - der Kadaver des pedalierenden Heroen wurde verurteilt. Nicht drakonisch, dafür genauso sinnfrei.
Man schnitt keine Finger ab, riss ihm nicht mal die Kleider vom Leib. Das Mittelalter gestaltet sich in unseren Tagen aufgeklärter als dazumal. Schabernack mit Verurteilten erspart man sich, die Menschheit ist erwachsen geworden. Man verhängte zwei Jahre Sperre - verbietet damit einem Mann im Radsport aktiv zu bleiben, der schon seit 2006 nicht mehr dort aktiv ist. Als ob man einem Mann mit chronischer Glatzköpfigkeit Bürste und Kamm schenkt - als ob man einem Toten die Finger absäbelt.
Glauben, nicht wissen
Doping raube dem Radsport die Glaubwürdigkeit - das ist allgemeinverbindliche Predigt. Man hat sich daran zu halten. Joachim Fuchsberger hat vor Jahren in einer Abendsendung einen Nebensatz fallen lassen. Man solle Doping legalisieren, das würde Problematiken beseitigen, die man sich nur selbst schafft, meinte er - man kanzelte ihn kurz und knapp, aber durchaus rüde, ab. Als ob jeder Postbote ein Etappenrennen gewinnen würde, wenn er sein Blut mit Sauerstoff anreicherte.
Glaubwürdigkeit nimmt weniger das Doping dem Sport. Es sind jene Gerichtsbarkeiten, die verspätet und auf vage Befunde gestützt, Sperren aussprechen. So geschehen kürzlich im Fall Contador - eine Sperre, die sich auf Indizien stützt. Die Gewinnerlisten großer Radrennen werden willkürlich verändert, Sieger gestrichen, rehabilitiert, gestrichen, rehabilitiert - jemand wie Andy Schleck, der jetzt Tour-Sieger 2010 ist, weil Contador es nicht mehr sein darf, soll der sich freuen? Pereiro Sio "gewann" die Tour de France 2006 - wie der Mann aussieht, wissen dennoch die wenigsten, denn er gewann Monate nach dem Ereignis, erst als man Landis den Sieg aberkannte. Früher sagte man nach der letzten Etappe in Paris: Hinault hat gewonnen! oder Indurain hat gewonnen! Heute heißt es: Ich glaube, Contador hat gewonnen! oder Ich glaube, Evans ist Tour-Sieger! Jeder glaubt, keiner weiß...
Was für eine glaubwürdige Art, die Entscheidungen von Radrennen, gerichtlich neu zu ordnen. Die besten Fahrer auszuschließen. Die Institutionen, die die Unglaubwürdigkeit des Radsports erzeugen, sind weniger die Rennställe als die Sportgerichte und deren Dopingjäger. Die Zuschauer und die Medien wollen Geschichten und Spektakel - dies möglichst täglich, jeden Tag Attacken am Steilanstieg. Geschieht das selten, spricht man von Langeweile, von einer unspektakulären Tour. Was liegt da näher, als nachzuhelfen, um den Zuschauern und Medien das zu geben, was sie sehen wollen?
Exhumiert vor Gericht
Papst Stephan VI. ließ 897 die sterblichen Überreste seines Vorgängers Formosus exhumieren und vor Gericht stellen. Das Urteil war drakonisch. Man nahm dem Angeklagten sein päpstliches Ornat, schnitt ihm Finger ab und verscharrte ihn wie einen Hundskadaver, nur um ihn kurz danach nochmals auszubuddeln und in den Tiber zu werfen. Was Formosus getan hat, dass man ihn posthum derart strafte, blättere man bitte in einer penibel geführten Chronik nach. So viel sei aber gesagt: gedopt hat er nicht!
Es gibt historische Episoden, die wirken mit etwas Abstand betrachtet einfach nur lachhaft - die Leichensynode ist so eine. Auch wenn sie erklärbar ist mit dem Weltbild der mittelalterlichen Glaubenswelt, in der Diesseits und Jenseits weniger fromm voneinander geschieden waren, wie in späteren Epochen. Trotzdem stellen wir uns Stephan VI. als eine Witzfigur vor. Ausgeschlossen ist nicht, dass der Internationale Sportgerichtshof (CAS) irgendwann gleichermaßen verspottet wird. Verspottet wie die Synodalen seinerzeit - falls der CAS nicht bereits schon heute ausgelacht wird.
Gerichtsprozess für eine Leiche
Jan Ullrich ist rundlich geworden. Rundlicher als sonst, als die Experten und Fachleute feststellten, dass er nur deshalb immer Zweiter bei der Tour de France werde, weil er um ein oder zwei Kilo zu dick sei. Jedenfalls, der Ullrich jener Tage, er saß nicht vor seinem Richter. Es war jener drahtige, nur für Experten zu fette Radsportler, über den zu Gericht gesessen wurde. Aber der war nicht anwesend. Diesen Ullrich gibt es nicht mehr - seit 2007, eigentlich schon seit Mitte 2006, nicht mehr. Der Privatmann Ullrich erschien an seiner statt. Der Radsportler Ullrich aber, er verstarb vor gut sechs Jahren. Für seinen Prozess exhumierte man ihn - der Kadaver des pedalierenden Heroen wurde verurteilt. Nicht drakonisch, dafür genauso sinnfrei.
Man schnitt keine Finger ab, riss ihm nicht mal die Kleider vom Leib. Das Mittelalter gestaltet sich in unseren Tagen aufgeklärter als dazumal. Schabernack mit Verurteilten erspart man sich, die Menschheit ist erwachsen geworden. Man verhängte zwei Jahre Sperre - verbietet damit einem Mann im Radsport aktiv zu bleiben, der schon seit 2006 nicht mehr dort aktiv ist. Als ob man einem Mann mit chronischer Glatzköpfigkeit Bürste und Kamm schenkt - als ob man einem Toten die Finger absäbelt.
Glauben, nicht wissen
Doping raube dem Radsport die Glaubwürdigkeit - das ist allgemeinverbindliche Predigt. Man hat sich daran zu halten. Joachim Fuchsberger hat vor Jahren in einer Abendsendung einen Nebensatz fallen lassen. Man solle Doping legalisieren, das würde Problematiken beseitigen, die man sich nur selbst schafft, meinte er - man kanzelte ihn kurz und knapp, aber durchaus rüde, ab. Als ob jeder Postbote ein Etappenrennen gewinnen würde, wenn er sein Blut mit Sauerstoff anreicherte.
Glaubwürdigkeit nimmt weniger das Doping dem Sport. Es sind jene Gerichtsbarkeiten, die verspätet und auf vage Befunde gestützt, Sperren aussprechen. So geschehen kürzlich im Fall Contador - eine Sperre, die sich auf Indizien stützt. Die Gewinnerlisten großer Radrennen werden willkürlich verändert, Sieger gestrichen, rehabilitiert, gestrichen, rehabilitiert - jemand wie Andy Schleck, der jetzt Tour-Sieger 2010 ist, weil Contador es nicht mehr sein darf, soll der sich freuen? Pereiro Sio "gewann" die Tour de France 2006 - wie der Mann aussieht, wissen dennoch die wenigsten, denn er gewann Monate nach dem Ereignis, erst als man Landis den Sieg aberkannte. Früher sagte man nach der letzten Etappe in Paris: Hinault hat gewonnen! oder Indurain hat gewonnen! Heute heißt es: Ich glaube, Contador hat gewonnen! oder Ich glaube, Evans ist Tour-Sieger! Jeder glaubt, keiner weiß...
Was für eine glaubwürdige Art, die Entscheidungen von Radrennen, gerichtlich neu zu ordnen. Die besten Fahrer auszuschließen. Die Institutionen, die die Unglaubwürdigkeit des Radsports erzeugen, sind weniger die Rennställe als die Sportgerichte und deren Dopingjäger. Die Zuschauer und die Medien wollen Geschichten und Spektakel - dies möglichst täglich, jeden Tag Attacken am Steilanstieg. Geschieht das selten, spricht man von Langeweile, von einer unspektakulären Tour. Was liegt da näher, als nachzuhelfen, um den Zuschauern und Medien das zu geben, was sie sehen wollen?
8 Kommentare:
"Als ob jeder Postbote ein Etappenrennen gewinnen würde, wenn er sein Blut mit Sauerstoff anreicherte."
Ich bin zwar kein Postbote, aber mit 10.000 Rad- und 2.000 Laufkilometer p. A. ein durchschnittlich gut trainierter Freizeitsportler, der während eines Karwendlurlaubs einmal mitz einem leichten MTB eine Etappe der Deutschlandtour und zwar von Bad Tölz über den Achensee, durch das Inntal nach Telfs und am Ende die 500 HM hoch nach Seefeld gefahren ist. Fahrzeit 7.00 Stunden für rd. 160 km. Die Profis benötigten dafür die Hälfte der Zeit. Fazit: Selbst mit Epo und anderem Gedöns wäre ich auch nur annähernd in den Zeit-Bereich der Profis gefahren. Pofiradsport ist eine eigene Sportart, die mit Amateurrennen nichts zu tun hat.
sehr guter artikel!
dem Schreiberling gehört eine Medaille für "sehr kluge Gedanken" überreicht und ein großes Dankeschön
Eine Medaille... aber mich Schreiberling nennen... na vielen Dank auch ;)
Respekt, eine wirklich andere Sicht der Dinge, die dem Thema weit aus gerechter wird, als das Gekreische nach dem ultimativen Geständnis.
Danke
Da war die Wirklichkeit schneller:Dem mehrfachen Weltschiedsrichter Colina,seit seiner Jugend nach einer Krankheit haarlos, hat dieUEFA mal einen elektrischen Fön in einen Geschenkkorb gepackt.Zum Thema Glatze und Kamm!
Lieber Roberto,
Täglich freue ich mich darauf, deinen Blog zu lesen.In der Mehrzahl deiner Artikel sprichst du Dinge aus, die auch von mir stammen könnten, sofern ich denn dein Talent zum Schreiben hätte.Heute machst du mich jedoch stutzig. Du schreibst "So geschehen kürzlich im Fall Contador - eine Sperre, die sich auf Indizien stützt". Ich habe die Diskussion zwar nur am Rande mitbekommen, aber meines Wissens wurde Contador bei der Tour 2010 das verbotene Kälbermastmittel Clenbuterol nachgewiesen. Seine Aussage, er habe Spuren davon in seinem Blut, weil er verseuchtes Fleisch gegessen habe, wurde vom CAS zurückgewiesen. In Spanien ist kein einziger vergleichbarer Vorfall bekannt geworden. Eine Sperre auf Grund von Indizien scheidet für mich also aus.
Was ich sagen will, die Unschuldsvermutung, die du für Contador einforderst, kann ich nicht gelten lassen. Zu welchem Zeitpunkt wird er dann des Dopings überführt? Wenn er es gesteht? Dann nämlich müsste man Guttenberg auch wieder seinen Doktortitel verleihen.
Dazu ein Auszug aus der FTD:
«Wir hatten auf eine positive Entscheidung des Internationalen Sportgerichtshofs gehofft», sagte der Präsident des spanischen Radsportverbandes (RFEC), Juan Carlos Castaño. Der Tour-Sieger von 2008, Carlos Sastre, meinte: «Das Urteil entbehrt jeder Logik. Man kann einen Profi nicht zu einer Sperre verurteilen, wenn ihm kein Doping nachzuweisen ist.»
Der Ex-Radprofi und Tour-de-France-Sieger von 1988, Pedro Delgado, sagte: «Im Kampf gegen das Doping verlieren die Verantwortlichen die Orientierung. Das Strafmaß ist völlig übertrieben, zumal wenn man bedenkt, dass das Gericht selbst einräumt, dass Contador das Doping nicht nachgewiesen werden konnte.»
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