Die Variablen des Heiligabend und deren Mehrwert
Freitag, 23. Dezember 2011
Ein ganzes Lebensgefühl ist damit umschrieben: Weihnachten wird unterm Baum entschieden! Was sich liest wie aus einer Schmiede der Werbeindustrie, und auch der derzeitige Schlachtruf einer Elektronik-Kette ist, ist doch nicht weniger als die Wahrheit in nuce. Nichts wird in Suppenküchen oder Bahnhofsmissionen entschieden - ihre Existenz und ihr weihnachtliches Hervorheben zeigt nur, dass man sich gegen die, die sie benötigen, schon lange entschieden hat. Nichts entscheidet sich für Frieden - Frieden auf Erden! ist der hohle Ausruf scheuklappenbegüterter Romantiker. Nur eine Wahrheit gibt es - und die liegt unter dem Baum.
Meine Generation ist im konsumtiven Wohlstand aufgewachsen. Weihnachten war Wettbewerb. Schüler eiferten um den Sieg unterm Tannenbaum. Man protzte hernach, man schnitt auf - an der Größe des Geschenkes ließ sich messen, wie schön das Weihnachtsfest gewesen sein musste. Der eigentliche Ursprung des Festes war ohnehin nur Makulatur - und das, was sich Nachkriegsgenerationen daraus machten, das gemütliche Zusammensein, die besinnliche Andacht und das zugegeben spießige Klima zwischen gesäuseltem "Stille Nacht, heilige Nacht..." und vergilbter Pappmaché-Krippe, dieses Kleinod der nachkriegerischen Ruhe und Zufriedenheit, das galt für uns schon nicht mehr. Wir hatten bereits die nächste Stufe der Evolution erklommen. Unterm Christbaum entschied sich Weihnachten - und es ist bezeichnend für unsere Zeit, dass ausgerechnet die Werbung es vermag, die ganze unerbitterliche Wahrheit, und das in einem einzigen Satz, auf den Punkt zu bringen. Werbung ist häufig punktgenauer als die soziologische Wissenschaft - oder sie ist, was vielleicht besser passt, Soziologie in kurzen Sätzen.
Weihnachten war bei uns schon nicht mehr - für uns gab es kurzzeitig Christmas, bis man daraus X-mas formte. Das erschien auch angemessener als Weihnachten. Denn geweiht war ja nichts - höchstens wir dem Konsum und dem konsumtiven Gequatsche von "der einen, der magischen Nacht" oder dem "trauten Zusammensitzen der Familie" - solche Idyllen förderte auch die Werbung, denn im Kreise seiner Lieben packt es sich schöner und geborgener aus. X-mas passte einfach. Das X als Variable. Und die Variable war: Was bekomme ich? Wie sehr, wie erfolgreich wird X-mas unter dem Baum entschieden? Das X stand für den Effekt, den ein Geschenk bewirken konnte. X war die große Unbekannte - und die Hoffnung, diese Unbekannte würde zur ungebremsten Freude, zur Tilgung von Konsumbedürfnissen. X-mas konnte, als aus dem Englischen kommende, aber spanisch zu lesende Formel, noch mehr Wahrheit aufdecken. Más bedeutet im Spanischen mehr - mehr X, mehr Variablen, mehr Geschenke, mehr Konsum. X-mas - dame más X; gib mir mehr X!
Happy X-mas! bedeutet als mathematische Formel, dass Fröhlichkeit eine Kombination aus dem Mehr oder dem zu erzielenden Mehrwert und aus variablen Geschenkelementen ist - X ist der Platzhalter für die Geschenkrendite, die sich hoffentlich unterm Baum ansammelt. Weihnachten ist eine Gleichung, die Aufwand und Ertrag gegenüberstellt und die Schenker zu Wettbewerbern macht. Investition und Gewinnaussichten dürfen a) kein Verlustgeschäft und damit mindestens ausgeglichen sein und müssen b) bei optimalen Verlauf Überschüsse aufzeigen. X kann gefährlich werden, weil es die unternehmerische Planbarkeit erschwert. Der Gewinn ist kaum kalkulierbar, weil die Schenker, die für X verantwortlich sind, normalerweise nicht sehr redselig sind. X-mas ist daher ein kalkulatives Risiko und eigentlich keine Grundlage für geschäftliches Handeln, denn es baut auf Vertrauen, für das es keine Rechtssicherheiten gibt. Dennoch empfiehlt es sich nicht, sich von X-mas fernzuhalten, denn das könnte a) zu Wettbewerbsnachteilen führen und b) mögliche Gewinne vereiteln. Man minimiere daher unbedingt das X, das man selbst unter die Tanne legt, man beachte Angebote, kaufe sein X entweder verbilligt im August oder eilig und vielleicht etwas reduziert drei Tage vor X-mas. Zwischen Schnäppchenjagd und der Aussicht, die anderen Schenker haben weder Kosten noch Mühen gescheut, kann mancher Mehrwert gedeihen.
Ob Weihnachten die Welt zeitweilig zu einem besseren Ort macht, sagt uns das, was unter dem Baum liegt. Mögen die Variablen aufgehen und der Festakt ein rentables Geschäft werden - oder, wie man es traditioneller sagt: schöne Weihnachten...
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Meine Generation ist im konsumtiven Wohlstand aufgewachsen. Weihnachten war Wettbewerb. Schüler eiferten um den Sieg unterm Tannenbaum. Man protzte hernach, man schnitt auf - an der Größe des Geschenkes ließ sich messen, wie schön das Weihnachtsfest gewesen sein musste. Der eigentliche Ursprung des Festes war ohnehin nur Makulatur - und das, was sich Nachkriegsgenerationen daraus machten, das gemütliche Zusammensein, die besinnliche Andacht und das zugegeben spießige Klima zwischen gesäuseltem "Stille Nacht, heilige Nacht..." und vergilbter Pappmaché-Krippe, dieses Kleinod der nachkriegerischen Ruhe und Zufriedenheit, das galt für uns schon nicht mehr. Wir hatten bereits die nächste Stufe der Evolution erklommen. Unterm Christbaum entschied sich Weihnachten - und es ist bezeichnend für unsere Zeit, dass ausgerechnet die Werbung es vermag, die ganze unerbitterliche Wahrheit, und das in einem einzigen Satz, auf den Punkt zu bringen. Werbung ist häufig punktgenauer als die soziologische Wissenschaft - oder sie ist, was vielleicht besser passt, Soziologie in kurzen Sätzen.
Weihnachten war bei uns schon nicht mehr - für uns gab es kurzzeitig Christmas, bis man daraus X-mas formte. Das erschien auch angemessener als Weihnachten. Denn geweiht war ja nichts - höchstens wir dem Konsum und dem konsumtiven Gequatsche von "der einen, der magischen Nacht" oder dem "trauten Zusammensitzen der Familie" - solche Idyllen förderte auch die Werbung, denn im Kreise seiner Lieben packt es sich schöner und geborgener aus. X-mas passte einfach. Das X als Variable. Und die Variable war: Was bekomme ich? Wie sehr, wie erfolgreich wird X-mas unter dem Baum entschieden? Das X stand für den Effekt, den ein Geschenk bewirken konnte. X war die große Unbekannte - und die Hoffnung, diese Unbekannte würde zur ungebremsten Freude, zur Tilgung von Konsumbedürfnissen. X-mas konnte, als aus dem Englischen kommende, aber spanisch zu lesende Formel, noch mehr Wahrheit aufdecken. Más bedeutet im Spanischen mehr - mehr X, mehr Variablen, mehr Geschenke, mehr Konsum. X-mas - dame más X; gib mir mehr X!
Happy X-mas! bedeutet als mathematische Formel, dass Fröhlichkeit eine Kombination aus dem Mehr oder dem zu erzielenden Mehrwert und aus variablen Geschenkelementen ist - X ist der Platzhalter für die Geschenkrendite, die sich hoffentlich unterm Baum ansammelt. Weihnachten ist eine Gleichung, die Aufwand und Ertrag gegenüberstellt und die Schenker zu Wettbewerbern macht. Investition und Gewinnaussichten dürfen a) kein Verlustgeschäft und damit mindestens ausgeglichen sein und müssen b) bei optimalen Verlauf Überschüsse aufzeigen. X kann gefährlich werden, weil es die unternehmerische Planbarkeit erschwert. Der Gewinn ist kaum kalkulierbar, weil die Schenker, die für X verantwortlich sind, normalerweise nicht sehr redselig sind. X-mas ist daher ein kalkulatives Risiko und eigentlich keine Grundlage für geschäftliches Handeln, denn es baut auf Vertrauen, für das es keine Rechtssicherheiten gibt. Dennoch empfiehlt es sich nicht, sich von X-mas fernzuhalten, denn das könnte a) zu Wettbewerbsnachteilen führen und b) mögliche Gewinne vereiteln. Man minimiere daher unbedingt das X, das man selbst unter die Tanne legt, man beachte Angebote, kaufe sein X entweder verbilligt im August oder eilig und vielleicht etwas reduziert drei Tage vor X-mas. Zwischen Schnäppchenjagd und der Aussicht, die anderen Schenker haben weder Kosten noch Mühen gescheut, kann mancher Mehrwert gedeihen.
Ob Weihnachten die Welt zeitweilig zu einem besseren Ort macht, sagt uns das, was unter dem Baum liegt. Mögen die Variablen aufgehen und der Festakt ein rentables Geschäft werden - oder, wie man es traditioneller sagt: schöne Weihnachten...