Behinderung ist nicht modern

Donnerstag, 9. Dezember 2010

Die Neuregelung der Hartz IV-Regelsätze wird behinderte Menschen benachteiligen. Das ist nicht überraschend: das ist nur konsequent! Eine Grundsicherungsleistung, die von jeher darauf abzielte, die Wirtschaftlichkeit des Hilfebedürftigen zu hinterfragen, die als Grundsatz einen Slogan wie "Jede Arbeit ist zumutbar!" trägt, kann gar nicht anders gehandhabt werden. Sie muß folglich all jene, die eben nicht für jede Arbeit zur Verfügung stehen können, anders behandeln als diejenigen, die dies können oder jedenfalls theoretisch könnten.

Das Sozialgesetzbuch II fragt eben nicht in erster Linie nach Bedürfnissen und individuellen Lebenssituationen, es interessiert sich wenig für die jeweilige Lebenswirklichkeit der Hilfebedürftigen, sondern es stellt in erster Linie die bestmögliche Verwurstbarkeit des Transferbeziehers in den Mittelpunkt. Das ist sicher nicht neu, nicht einzigartig, auch die vormalige Sozialhilfe war darauf erpicht, den Hilfebedürftigen zur Lohnarbeit anzuhalten: nur hat die Wirtschaftlichkeit einer menschlichen Existenz nicht das Primat ausgemacht - was braucht der Mensch; wie lebt er; was kann man für ihn tun: das waren maßgebliche Fragen, die freilich im Behördenalltag viel zu oft zu kurz kamen.

Jetzt kommen sie nicht zu kurz, sie sind schlicht nicht vorgesehen. Das SGB II kümmert sich um solche Fragen äußerst wenig, wie ja auch die Verfassungsrichter im Februar dieses Jahres feststellten, als sie verkündeten, es muß dringend mehr auf die alltägliche Lebenssituation des jeweiligen Leistungsbeziehers eingegangen werden, besondere Härten müßten demnach berücksichtigt sein. Zentral ist nicht das soziale Belang, nicht die Aufgabe, Menschen teilhaben zu lassen am sozio-kulturellen Gemeingut - zentral ist, alle hilfebedürftigen Menschen unbesehen in einen Topf zu werfen, sie ohne Beschau ihrer Lebenssituation auf den Arbeitsmarkt zu kippen; "jede Arbeit ist zumutbar" und "Arbeit ist jedem zumutbar", gleich wie es um ihn bestellt ist. Die eigentliche existenzielle Grundlage des Sozialwesens, niemanden durchrutschen zu lassen nämlich, ist damit auf den Kopf gestellt - es soll nur derjenige nicht durchrutschen müssen, der verwertbar ist, der leisten kann, der sich Arbeit jeder Art zumutet.

Behinderte Menschen sind in einem solchen Gesetzeswerk, das auf derartige Prinzipien baut, schwer vermittelbare Kunden. Nach der Logik des Prinzips ist es daher durchaus berechtigt, ihnen weniger Regelsatz zu überweisen - sie können sich ja nicht jede Arbeit zumuten, können nur begrenzt - wenn überhaupt! - leisten, sind nur schwerlich verwertbar. Der behinderte Mensch ist eine nur lahm zu vermittelnde Ware auf dem Arbeitsmarkt; und Ware hat der Leistungsbezieher heute mehr denn je zu sein - als Kunde betritt man die heiligen Hallen der Arbeitslosenverwaltung, aber Ware ist man eigentlich: das ist moderner Sozialstaat. Und behinderte Menschen können dieser Modernität nur behäbig folgen, sie schaffen es nicht, zur willfährigen, flexiblen, mobilen Ware zu werden.

Damit ist es nur konsequent im Sinne des Geistes, den das SGB II verströmt, denjenigen weniger zu alimentieren, der die Vermittlung in Verwurstbarkeit behindert. Behinderte Menschen sind nach dieser Lesart eben nicht nur körperlich behindert, sie behindern auch das schöne Prinzip von Hartz IV, sie sind somit Querulanten, die sich selbst und der Solidargemeinschaft im Wege stehen...



14 Kommentare:

Anonym 9. Dezember 2010 um 07:46  

Der sozialökonomische Holocaust hat in Deutschland Einzug gehalten. Später will es wieder niemand gewesen sein.

Anonym 9. Dezember 2010 um 09:21  

Einfach wunderbar präzise und ohne Schörkel, ohne verlogene Heuchelei, ohne verschämtes Lügen und Rechtfertigen auf den Punkt gebracht, die ganze asoziale Barbarei dieser Hartz 4 Gesetzgebung, von "Sozialdemokraten" und "Grünen" im Auftrag des Kapitals politisch durchgepeitscht, von den korrupten gekauften Gewerkschaften still abgenickt.
Und nun kann man so schön von "zunehmender sozialer Kälte", auseinandergehenden sozialen Scheren, wachsenden Prekariat, zunehmender sozialer Verwahrlosung vieler sozialenr gesellschaftlicher Beziehungen schwadronieren, die Hans-Böckler-Stiftung die 10.000.000ste "Studie" veröffentlichen, dass "die Reichen immer reicher, die Armen immer....", wo sind wir nur gelandet? Warum?
Was hindert viele Menschen noch immer daran zu erkennen, dass Hartz 4 nichts anderes ist als brutalster Klassenkrieg von oben gegen alle Besitzlosen, Lohnknechte?
Wieso wird zuweilen nur den Arbeitslosen vorgeworfen, nicht gegen ihre Entwürdigung, ständige öffentliche Herabsetzung, Diffamierung öffentlich "auf der Strasse" zu protestieren?
Geht Hartz 4 die noch beschäftigten Lohnknechte und deren gesamte Mischpoke aus "hauptamtlichen" Gewerkschaftsfunktionären, Gewerkschafts"Ver(Zer)tretern" nichts an?(Klaro, dieses Pack lebt ja von den 1% Gewerkschaftsbeiträgen vom Brutto ganz üppig!)
Kann nicht fast jeder heute noch Beschäftigter morgen schon arbeitslos sein, bedingt durch einen Unfall, eine schwere Krankheit oder ganz einfach durch die Arbeit ein Behinderter?
Anonym: Schon HEUTE will es doch niemand (gewesen)sein, der irgend wie für diese ganz Schei... verantwortlich sein könnte, am wenigsten wohl die Wähler der "staatstragenden" etablierten Parteien!
Nichts Neues unter Sonne in "good old Germany". Wie Recht hatten doch schon die alten Griechen, als hätten sie dieses Volk beinahe schon "antizipiert"!

MfG Bakunin

Anonym 9. Dezember 2010 um 09:29  

Lieber Roberto,

ja, es ist unglaublich und widerwärtig, dass nun wieder mal gerade an den Allerärmsten und Wehrlosesten gespart werden soll. Vor allem auch, weil das Einsparen von ein paar läppischen Millionen auf Kosten der Behinderten nur als Tropfen auf dem heißen Stein der Milliarden verdampfen werden, die die Bankster in den Allerwertesten geblasen kriegen. Aber für jeden einzelnen Behinderten bedeuten diese 70 Euro weniger im Monat weitere erhebliche Einschränkungen, zumal viele Kosten gerade in der alltäglichen Pflege - wie Verbandmaterial und Hautcreme, aber auch Brillen und ähnliches - von den Kassen gar nicht mehr übernommen werden. Ich weiß nicht, wie Leute, die so etwas beschließen, es überhaupt noch fertigbringen, ihre eigenen Visagen im Spiegel zu betrachten - anstatt sich schamrot unterm Bett zu verkriechen, wie es jeder mit einem Gewissen ausgestattete Mensch an ihrer Stelle täte. Doch vermutlich ist jeder, der ein Gewissen besitzt, a priori für eine Parteikarriere disqualifiziert...

Liebe Grüße, Saby

Anonym 9. Dezember 2010 um 09:37  

So wirklich neu ist das ja andererseits auch nicht. In der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach SGB XII zum Beispiel wehte schon immer ein rauherer Wind als in SGB II (ja, das geht!). Interessiert nur kein Schwein, von den Betroffenen mal abgesehen. Das betrifft Schonvermögen ebenso wie Einkommensfreibeträge. Auch Rückzahlungen z.B. aus Stromrechnungen wurden dort als Einkommen berechnet, lange bevor dies im SGB II der Fall war. Eigentlich muß man nur schauen was im SGB XII verschärft wird wenn man wissen will was demnächst im SGB II eingeführt wird.

Margareth Gorges 9. Dezember 2010 um 10:21  

Wer wissen möchte, in welcher Gesellschaft er lebt, vertiefe sich in ein ministerielles Schriftstück – den “Referentenentwurf ” zur Neufestlegung der Hartz-IV-Sätze. Das ist ein Text, dessen technokratische Obszönität bloß von seiner Verkommenheit übertroffen wird.
Quelle: Konkret Verlag
http://www.konkret-verlage.de/kvv/txt.php?text=dieregelndesbedarfs&jahr=2010&mon=11

Anonym 9. Dezember 2010 um 10:21  

"Die Reduzierung ergebe sich, weil die Betroffenen sich in der Regel nicht an den Haushaltskosten beteiligten." Die offizielle Begründung ist auf Neusprech genau, was du in deinem Artikel ausführst. Die Zuwendung und materielle Vergütung proportional zur ökonomischen Verwertbarkeit.
Der nächste logische Schritt ist die Beendigung unwerten Lebens zur Kosteneffektivierung. Denn, im Sinne der Neulogik,wurde den Subjekten über den Tod hinaus, kein Leid zugefügt. Mfg Stefan

Frank F. 9. Dezember 2010 um 11:44  

Angesichts der Entwicklungen in Deutschland wirkt die kürzliche "Faschismus - ja oder nein?" - Diskussion in hiesigen Bloggerkreisen fast schon grotesk. Die Realität ist der Diskussion um Längen voraus.

Moderate (aber stetige!!) Gesetzesänderungen trocknen die Freiräume immer breiterer Bevölkerungsschichten unaufhaltsam aus. Dem stehen gerissen eingefädelte ("TINA") Rettungsschirme gegenüber, aberwitzig in ihrer Größenordnung und selbst verabreicht von schlimmen Fingern die auf Elite mimen, denen an Demokratie in Wahrheit nie gelegen war und die die Zeit für gereift halten die Katze gänzlich aus dem Sack zu lassen.

Dass es kaum noch jemanden überrascht/interessiert, dass die eigentlich Bedürftigsten besonders schlecht wegkommen beim Einschränken der Freiräume, zeigt den tatsächlichen Stand der Dinge. Überhaupt, wie nennt man ein System, dass ausgerechnet gegen die Schutzlosesten im eigenen Hause besonders rücksichtslos vorgeht?

Anonym 9. Dezember 2010 um 13:11  

@ Saby:

zu: "Ich weiß nicht, wie Leute, die so etwas beschließen, es überhaupt noch fertigbringen, ihre eigenen Visagen im Spiegel zu betrachten - anstatt sich schamrot unterm Bett zu verkriechen, wie es jeder mit einem Gewissen ausgestattete Mensch an ihrer Stelle täte.":

Nun, sie gehen z. B. zur Beichte, müssen ein paar "Rosenkränze" beten und dann ist die Welt wieder rund (für sie). Oder sie spenden für eine Tafel, oder sie gründen eine Arche (und setzen das natürlich von der Steuer ab) ... und lassen die Presse über ihre Alibi-Wohltaten berichten.

Ach, und Wohlfahrtsverbände wären ohne Arme und Kranke nicht überlebensfähig. Denn dann gingen z. B. die Subventionen und mittelfristig deren Erwerbsarbeitsplätze flöten.
Und ja, kranke Menschen braucht unser Wirtschaftssystem auch. Wo kämen sonst die vielen Ärzte, usw. hin?!

Anonym 9. Dezember 2010 um 13:37  

Nachtrag zu meiner Antwort 13:11 an Saby:

Und sie suchen sich immer wieder welche, auf die sie mit dem Finger zeigen können (sog. Faule, sog. Terroristen, usw.).
Wenn andere als schlechter gelten als man selbst, steht man selbst im Vergleich dann stets besser da.
Relativierung hilft ihnen.
Und sie idealisieren (meist fälschlicherweise) andere ihres Schlages auf ein Treppchen, damit sie sich selber nicht weiterentwickeln und verändern müssen.
So entsteht eine emotionale Entlastungshierarchie (die einen unten, die anderen oben, sie in der Mitte), und für sie ist dann alles wieder im Lot.

unschland 9. Dezember 2010 um 16:43  

Das ist nun wieder eine dieser Geschichten, wo die pöhsen Linken unserer gutherzigen Bundesregierung schlechte Absichten unterstellen,denn
tatsächlich wird durch die Kürzung die nicht zu rechtfertigende positive Diskriminierung beendet.
Endlich werden Behinderte den nichtbehinderten Leistungsverweigerern gleichgesetzt!
Schluss mit Kuscheln!
Teilhabe muss nicht immer Spaß machen...
Und wenn alle nix haben, hat der Behinderte noch einen Krüppelbonus beim Betteln! Ein Querschnittsgelähmter zB. bräuchte sich dabei noch nichtmal groß anzustrengen, eine Decke auf dem Schoß beim Rumsitzen reicht aus.
Und damit sich das nicht als Geschäftsidee in den unteren haltlosen, verrohten Schichten rumspricht, brauchts dringend Zwangsterilisation und -abtreibung.
Von den Krakeelern aus dem Pöbelfernsehen kann man auch sonst leicht annehmen, dass sie ihre Kinder vorsätzlich lukrativ verkrüppeln...

Kaiserbgubu 9. Dezember 2010 um 17:21  

Lieber Roberto
Herzlichen Dank, dass Du das Thema aufgreifst. Das geht einfach zwischen Bahnhof, Euro und Assange total unter. Du bist der (glaube ich) Einzige der diese Sauerei im Blog thematisiert. Dahinter steht die nicht nur die Armut der Betroffenen, sondern die ganze Armut einer Gesellschaft, die sich nur noch als rein ökonomisierter Kollateralschaden offenbart dem jeder menschliche Zug abhanden gekommen ist. Traurig!

Trojanerin 9. Dezember 2010 um 19:56  

Dieser Text ist sehr richtig und wichtig, denn es wird darauf hingewiesen, dass die Benachteiligung behinderter Menschen konsequent in der Ausgestaltung des SGB II verankert ist.
Bei der Ausgestaltung der Harz 4 Gesetze ist den Verantwortlichen hier kein Fehler unterlaufen, sie haben nichts übersehen oder Entwicklungen nicht richtig einschätzen können. Diese Benachteiligungen behinderter Menschen sind politisch gewollt.
Bei Beziehern von SGB XII Leistungen sind allein die Kommunen für die Finanzierung des Lebensunterhaltes zuzüglich angemessener Kosten für die Unterkunft. zuständig. Bei Beziehern von SGB II Leistungen zahlt der Bund einen Anteil an den Kosten für die Unterkunft.
Die Folge: Die Kommunen haben ein großes Interesse möglichst viele auch schwerstbehinderte Menschen als erwerbsfähig einzustufen, um Kosten zu sparen.
Es hat Fälle gegeben, da wurden Wachkomapatienten ! als teilweise erwerbsfähig eingestuft. Dies kann mit allen Konsequenzen geschehen: Leistungskürzung bei fehlender Mitwirkung, fehlende Krankenversicherung
Im Rahmen der SGB XII oder SGB II Leistungen werden auch Beiträge für die Krankenversicherung abgeführt. Dumm ist nur, wenn kein Leistungsträger diese Beiträge zahlen will, weil sie sich für nicht zuständig halten. Aber wozu benötigt ein Wachkomapatient eine Krankenversicherung? ...

Anonym 10. Dezember 2010 um 13:17  

@Anonym 9. Dezember 2010 07:46

Der sozialökonomische Holocaust hat in Deutschland Einzug gehalten. Später will es wieder niemand gewesen sein.

Noch schlimmer, zuerst kommt: "Konnte doch keiner die Folgen absehen" und dann: "haben wir doch gar nichts von gewusst".

Anonym 13. Dezember 2010 um 18:56  

Jeder Einzelne wird hier einmal die eindringliche Frage beantworten müssen, warum er sich hier mit Gesinnungsgenossen immer und immer wieder gegenseitig die Warnungen vorgekaut hat, ohne etwas zu tun.
Diese gesamte Gruppe der nachweislich Wissenden wird irgendwann härter am Pranger stehen als alle anderen, weil sie sich nur gegenseitig ihre Warnungen bestätigten, anstatt etwas zu tun.

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