Zurück zum Klassismus!

Mittwoch, 24. Februar 2016

Bis vor kurzem hatten wir eine gravierende soziale Schieflage. Jeder wusste es mehr oder weniger. Was man sich daraus machte, war dann allerdings die Sache der politischen Einstellung. Entweder empörte es einen oder man nahm es als normale Ordnung der Dinge hin. Wir haben diese Schieflage durchaus immer noch. Nur liest man weniger darüber. Noch immer gibt es Langzeitarbeitslosigkeit und Kinder aus armen Familien, noch immer mangelt es in den unteren gesellschaftlichen Schichten an Geld und die öffentliche Hand ist auch weiterhin unterfinanziert. Das Gesundheitswesen ist eine Ständegesellschaft mit Einzelzimmer und Chefarztbehandlung für die einen und spartanischer Notversorgung (der berühmten »Kassenleistung«) für die anderen; Zahnersatz ist eine Statusfrage, keine der medizinischen Notwendigkeit oder gar der Menschenwürde - und selbst der soziale Wohnungsbau ist ein Relikt, eine blasse Erinnerung längst vergangener Tage. Was uns aber beschäftigt, das sind die Flüchtlinge. Fast ausschließlich. Sie beschäftigen uns auf die eine oder andere Weise. Diese Menschen in existenzieller Not haben ungewollt die Schieflage als Sachthema abgelöst.

Es hat sich was verändert in dieser Republik: Der Rassismus hat den Klassismus als Hauptthema abgelöst. Der Anti-Rassismus im Umkehrschluss den Anti-Klassismus. Man liest nur noch wenig über diese negativen »Segnungen des Neoliberalismus«, jetzt hat ein anderes Sujet Omnipräsenz ergriffen. Natürlich ist die Erscheinung so vieler Geflüchteter ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte der Nachkriegszeit, selbstverständlich wird das Ereignis unsere Gesellschaft modifizieren. Aber gleichwohl haben wir noch immer dieselben Probleme, die wir schon davor hatten. Wir leiden an sozialen Ungleichgewicht, der Niedriglohnsektor ist noch immer ein Massenmarkt, dort werden immer noch Menschen und deren Arbeitskraft im Flexibilisierungswahn und unter Kriterien des Lohndumpings verheizt; Sozialstandards werden ruiniert, selbst die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wird von Arbeitgeberseite moniert und kaum jemand regt sich darüber auf, weil es viel mehr Aufregung über jene Menschen gibt, die aus einem Kriegsgebiet zu uns geflüchtet sind.

An dieser Stelle muss man vorsichtig sein, denn das oben Gesagte ist nicht so gemeint, wie man das derzeit an jeder Ecke hören kann. Nämlich so, dass man zunächst die heimischen Probleme behandeln sollte, bevor man die der Leute in die Hand nimmt, die ins Land kamen. Also nicht dieser dämliche Versuch einiger besorgter Bürger, die irgendwas vom armen Hartz-IV-Bezieher quasseln (der sie vorher einen Dreck interessiert hat), der ja nun das unmittelbare Opfer der Flüchtlinge sei. Nein, so darf man das nicht verstehen! Aber es ist schon erstaunlich, dass soziale Themen jetzt so vollkommen abgedrängt werden, als ob es keinerlei Interessensgemenge diesbezüglich mehr gäbe, als ob wir alle unseren sozialen Probleme schon geregelt hätten und nun zum nächsten Punkt der To-Do-Liste übergehen könnten. Dabei gehören neoliberale Austeritätspolitik im Inneren und die Flüchtlinge nicht als getrennte Punkte auf die Agenda, sondern müssen miteinander betrachtet werden. Beides sind Verwerfungen eines Systems, beides sind Folgen einer Politik, die gewissenlos Sachzwänge delegiert, wo sie für Menschen einstehen müsste.

Aufmacher handeln von Flüchtlingen. Im Guten wie im Schlechten. Meldungen vom Arbeitsmarkt und aus dem Sozialwesen sind Randnotizen, damit lassen sich derzeit scheinbar keine Absatzzahlen, keine Klickraten potenzieren. Es war eh immer ein hartes Brot, wenn man aus diesem Ressort berichtete, denn die Menschen wollten stets eher Positives lesen, was es dort so gut wie nicht gab. Dauernd wurde von Sparaufträgen und Kürzungen berichtet, von Jobwundern, die keine waren, von Selbstinitiative und Eigenantrieb, wo man eigentlich Spielball der Marktdynamiken war. Schönwettermeldungen glaubte das Publikum schon lange nicht mehr, die Krisen der letzten Jahre haben manchen Optimisten ernüchtert. Die Armut griff um sich und man wusste es genau. Und sie tut es noch immer. Weiß man es derzeit noch? Die Probleme sind nämlich überhaupt nicht beseitigt, sondern verschärfen sich. Aber wir lesen lieber etwas Hanebüchenes über die Triebhaftigkeit arabischer Männer und die Dummheit von Massen, die über Geflüchtete herziehen wie Kleinhitler beim Tobsuchtsanfall.

Dabei gehört beides auf die Tagesordnung. Ganz weit nach oben. Wenn wir Menschen integrieren wollen, denen die Heimat abhanden kam, kann das nicht in einem Sparstaat sein, nicht auf einem Arbeitsmarkt, der Menschen schon jetzt gleichzeitig zu Arbeitenden und Transferleistungsbezieher degradiert, zur Brigade der Working Poor, die aufstocken muss, wo eigentlich Arbeitgeber die Lebenshaltung ihrer Arbeitskräfte garantieren müssten. Der Staat auf Sparflamme eskaliert das Potenzial integrativer Leitgedanken, er sperrt die Mittel zur Eingliederung und hält die Parabel von einem viel zu kleinen Kuchen hoch, von dem nicht jedem ein Stückchen zufallen kann. Der Austeritätsstaat drückt die finanziellen Mittel so tief, dass es zwangsläufig Verlierer geben muss. An dieser Nahtstelle wird aus dem eigentlichen Klassismus ein undurchdachter Rassismus, jagt man Bürgerkriegs- und nicht Steuerflüchtlinge, peitscht man gegen Einwanderer mit arabischen Wurzeln und rüttelt nicht an der Wurzel der Zwei-Klassen-Gesellschaft.

Es ist dringend an der Zeit, dass wir zurückkehren zum Klassismus. Der Krieg gegen die Armen wird nicht von den Armen angezettelt, die ins Land kommen. Er wird in den obersten Stockwerken von Konzernen verwaltet. Den Großkonzern im eigenen Land stehen die Lohnabhängigen und Arbeitslosen allerdings nicht näher, als den Ausgebeuteten und Vertriebenen aus dem Ausland. Zurück zum Klassismus also - um ihn zu diskutieren, ihn abzufedern, gegen ihn zu kämpfen. Rassismus ist keine Alternative für Deutschland. Keine Alternative für Klassenbewusstsein.

4 Kommentare:

Anonym 24. Februar 2016 um 09:25  

Seh ich ganz genauso, und ist mir auch schon aufgefallen.

Übrigens, die ganze Armutsdebatte hat auch Themen, die totgeschwiegen werden, und die einem erst auffallen wenn man, wie ich derzeit, selbst davon betroffen wird.

Wo las man die letzte Jahre, dass die Pflege schwer kranker, und ständig pflegebedürftiger Menschen, arm machen kann, dass Menschen, die diese gewaltige Aufgabe stemmen, egal ob als Pfleger oder als Familienangehörige, dadurch psychisch an ihre Grenzen kommen bzw. sogar krank werden? Wo ist der Aufschrei hier? Übrigens auch dagegen, dass - nicht nur, aber vor allem - arme ostdeutsche Laien als Pflegehelfer auf arme alte Menschen, und deren Angehörige, "losgelassen werden".

Interessant fand ich übrigens auch, dass die Pflegekosten - was ostdeutsche Pflegehelfer angeht - an ihren Deutschkenntnissen, festgemacht wird - spricht die Pflegerin einigermaßen gut deutsch ist diese teurer als eine andere, die kaum deutsch spricht. Wer denkt dabei nicht an Modernen Sklavenhandel? Nur, dass heute eben nicht mehr gute Zähne für Gesundheit ausgesucht werden, sondern Deutschkenntnisse als Kriterium für die Modernen Sklaven herhalten müssen.

Meine Geschwister organisierten übrigens die Pflege, und ich weiß daher nicht ob die Pflegehelferinnen aus Osteuropa ihr Geld, dass sie hier verdienen wieder an die Organisation, die die hierher schickt, zum größten Teil abtritt, aber wundern würde es micht nicht.

Gruß
Bernie

Anonym 24. Februar 2016 um 12:01  

Kein Wunder, in den Medien wird immer nur ein Mainstreamthema zur Zeit durchgenudelt.
Es wird gar nicht mehr versucht, ein neues Thema zu platzieren sondern nur noch dem hinterhergelaufen was scheinbar die Leser interessieren könnte und womit die Konkurrenz schon Erfolg hatte.
Und jetzt gerade sind eben die Flüchtlinge dran.

Anonym 24. Februar 2016 um 15:21  

Fremdschäm: Ich meinte nicht "arme ostdeutsche Laien" sondern "arme osteuropäische Laien"...am Inhalt ändert es aber nichts, hier wird eine Form der Modernen Sklaverei praktiziert.....da bin ich mir fast sicher, da das erwähnte Beispiel schon seltsam ist.....

Gruß
Bernie

kevin_sondermueller 26. Februar 2016 um 12:16  

Zum Bild links oben: die neue Parole
der sozialhumanitären Internationale
müsste lauten: »Prekarier aller Länder
vereinigt Euch!« Denn grundsätzlich
lassen sich die Schicksale sozial
Ausgegrenzter und Vertriebener (was denn
sonst?!) vergleichen. Der Flüchtling ist
mein Leidgeschwister – und unsere gemeinsamen
Feinde bombardieren uns von oben: mal mit
Bomben, mal mit menschenverachtenden Gesetzen.
Weltweit.

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP