Die Linke, der Marxismus und der Islam
Montag, 29. Februar 2016
Der Moralphilosoph Michael Walzer sagte im letzten »Philosophie Magazin«, dass Linke nur bedingt in der Lage seien, den Islam zu kritisieren. Weil für sie nämlich »Religion […] immer noch ein Überbau [sei], wie Marx es nannte, und die einzige wichtige gesellschaftlichen Kräfte […] ökonomischer Art [seien]«. Das ist tatsächlich ein gewichtiger Grund. Unter Linken hat sich diese Ansicht über Jahrzehnte behauptet, wonach religiöse Erscheinungen nicht zuerst da seien, sondern die Verteilung der Güter das Fundament jedes gesellschaftlichen Phänomens darstellten. Dass das Sein das Bewusstsein präge, nicht andersherum wie noch bei Hegel, gilt als eine von Marxens bekanntesten Sentenzen. Zwar hat sie Abwandlungen erfahren, siehe bei Arjun Appadurai (»The Social Life of Things«), aber grundsätzlich gehört es nach wie vor zum linken Diskurs, die Grundlagen des Seins als die »Werkstatt« des Bewusstseins zu deklarieren.
Kann man mit dieser materiellen Haltung den aktuellen Ereignissen in der Welt begegnen und vor allem gerecht werden? Darf der Islam - von diesem linken Standpunkt aus betrachtet - als Kritikpunkt weiterhin uninteressant bleiben? Wenn er nicht Ursache, wenn er lediglich Symptom ist, muss man ihm ja schließlich keine – oder doch nur wenig – Beachtung schenken. Ist es nicht verschwendete intellektuelle Energie, den eigentlichen Agens aus den Augen zu verlieren, indem man etwaigen Konsequenzen auf die Pelle rückt?
Walzer liefert ja auch keine Belege. Er spricht von Radikalisierung, die stattgefunden habe. Das bezweifelt ja auch keiner. Woher sie kommt, was sie begünstigt, geht bei ihm eher unter. Er kanzelt linke Intellektuelle zwar nicht ab, attestiert ihnen sogar, dass sie bei manchen Einschätzungen richtig lägen. Doch ihre marxistische Einschätzung, so meint er wohl, würde sie die Realität nicht vollumfänglich richtig einschätzen lassen. Wie gesagt, sein Einwand ist berechtigt, aber gleichwohl müsste er liefern, wieso materielle Grundlagen nicht per se die Verantwortung für die extremste Auslegung des Islam, für den so genannten Islamismus also, tragen. Aus einer Laune heraus entscheidet man sich nicht einfach mal dafür. …
Armut und religiöse Fanatisierung – einige Zahlen fernab des Islam dazu: In den US-amerikanischen Bundesstaaten Alabama, Arkansas, Kentucky, Mississippi, Oklahoma, South Carolina und Tennessee geben jeweils mehr als 44 Prozent der gesamten Bevölkerung an, Anhänger der evangelikalen Kirchen oder Bewegungen zu sein. Alle sieben Bundesstaaten firmieren beim Bruttoinlandsprodukt unter auf den letzten Plätzen, nirgends in den Vereinigten Staaten ist die Armut und die Arbeitslosigkeit (durchschnittlich) größer. Von dort schwappte dieser neue frömmlerische Puritanismus, der sich zum Beispiel gegen Homosexualität und vorehelichen Sex wendet, der Glaubensabweichungen nicht toleriert und in »Jesus Camps« zu Glaubenskriegen motiviert auch nach Mittelamerika aus. In Mexiko wächst der Evangelikalismus beständig an. Das von Armut und Korruption gebeutelte Land hat besonders in der Region um Chiapas eine evangelikale Hochburg entstehen lassen. Dort ist die Armut am höchsten im gesamten Land.
Oder nehmen wir zur Abwechslung mal das ultraorthodoxe Judentum. Laut »Haaretz« leben an die sechzig Prozent, die das Judentum nach den Dogmen der Ultraorthodoxie leben, in Armutsverhältnissen.
Hier ist weder der Platz noch der wissenschaftliche Rahmen, um Zahlenmaterial zu sichten und weitere Kennzahlen nachzuschieben. Aber grundsätzlich lässt sich sagen, dass der Marxismus in dieser Angelegenheit aktuell ist wie eh und je. Radikalisierungen, die Heilsversprechen und jenseitige Besserstellung versprechen, gedeihen in Armut. Vielleicht nicht nur, auch nicht ganz so arme Charaktere radikalisieren sich, aber als Massenphänomen treibt eher die Armut hinein. Gleich mehr noch dazu. Jedenfalls ist es nicht besonders realistisch, wenn man nun so tut, als sei die Radikalisierung in Teilen der islamischen Welt ein Phänomen, das dem marxistischen Verständnis von Lebensverhältnissen und Überbau irgendwie entschwoben ist. Wieso sollte das in diesem konkreten Fall anders sein? Wieso soll es nicht die Armut sein, die die Gemüter willig macht für die Stumpfheit religiöser Heilsversprechen?
Oft hört man ja jetzt den Einwand – und man kann annehmen, Walzer spielte darauf an -, dass viele der islamistischen Attentäter aus besseren Verhältnissen stammen, manche sogar aus dem Westen, in denen es ihnen materiell sogar dann besser als dem Mittelstand in einem islamischen Land gehe, wenn sie nur als Sozialhilfeempfänger lebten. Der Vergleich hinkt, weil Armut ein relativer Begriff ist, aber der Einwand ist ja trotzdem nicht ganz falsch: Viele Köpfe der Radikalisierung sind und waren keine armen Schlucker, sondern kamen teilweise sogar aus reichem Hause. Der australische Soziologe Riaz Hassan fand in mehreren Studien heraus, dass die Radikalisierung westlicher junger Männer und Frauen nicht immer mit materieller Armut zu tun habe, sondern oftmals mit einer «Mischung verschiedener Motivationen aus Politik, Demütigung, Rachegefühle, der Wunsch nach Vergeltung sowie Altruismus» korreliere.
Man könnte sagen, dass sie zwar an einer Armut litten, die reichlicher ausgestattet war als Armut andernorts, aber durch die Stigmatisierung und Ausgrenzung radikalisiert wurden. Und ferner könnte man behaupten, dass sie sich aus Gründen der Verbundenheit mit denen, denen es auch schlecht geht, terroristisch artikulieren (»Terrorismus als Kommunikationsstrategie«). Religiöser Eifer ist eben nicht einzig und alleine »der Ausdruck des wirklichen Elendes«, sondern zugleich auch »die Protestation gegen das wirkliche Elend«, wie Marx es 1844 in »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« anmerkte.
Ich sage mal so: Solange man keine schlüssige Erklärung liefert, was Menschen außer Not und Ausgrenzung und anhaltend depravierten Zuständen in die (religiös und/oder ideologischen) Radikalisierung treibt, solange muss man den marxistischen Anhaltspunkt als beinahe unantastbar betrachten. Alle Indikatoren sprechen für die alte These, dass Religion ein Überbau und nicht das Fundament ist. Mit Marx gesprochen: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.« Nach diesem Satz kommt die berühmte Sentenz mit dem Opium, die zu oft zitiert wurde, um an dieser Stelle nochmals genannt zu werden. Und manche profane Ideologie wurde später wie jenes religiöse Opium konsumiert. Aber das führt jetzt zu weit.
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Kann man mit dieser materiellen Haltung den aktuellen Ereignissen in der Welt begegnen und vor allem gerecht werden? Darf der Islam - von diesem linken Standpunkt aus betrachtet - als Kritikpunkt weiterhin uninteressant bleiben? Wenn er nicht Ursache, wenn er lediglich Symptom ist, muss man ihm ja schließlich keine – oder doch nur wenig – Beachtung schenken. Ist es nicht verschwendete intellektuelle Energie, den eigentlichen Agens aus den Augen zu verlieren, indem man etwaigen Konsequenzen auf die Pelle rückt?
Walzer liefert ja auch keine Belege. Er spricht von Radikalisierung, die stattgefunden habe. Das bezweifelt ja auch keiner. Woher sie kommt, was sie begünstigt, geht bei ihm eher unter. Er kanzelt linke Intellektuelle zwar nicht ab, attestiert ihnen sogar, dass sie bei manchen Einschätzungen richtig lägen. Doch ihre marxistische Einschätzung, so meint er wohl, würde sie die Realität nicht vollumfänglich richtig einschätzen lassen. Wie gesagt, sein Einwand ist berechtigt, aber gleichwohl müsste er liefern, wieso materielle Grundlagen nicht per se die Verantwortung für die extremste Auslegung des Islam, für den so genannten Islamismus also, tragen. Aus einer Laune heraus entscheidet man sich nicht einfach mal dafür. …
Armut und religiöse Fanatisierung – einige Zahlen fernab des Islam dazu: In den US-amerikanischen Bundesstaaten Alabama, Arkansas, Kentucky, Mississippi, Oklahoma, South Carolina und Tennessee geben jeweils mehr als 44 Prozent der gesamten Bevölkerung an, Anhänger der evangelikalen Kirchen oder Bewegungen zu sein. Alle sieben Bundesstaaten firmieren beim Bruttoinlandsprodukt unter auf den letzten Plätzen, nirgends in den Vereinigten Staaten ist die Armut und die Arbeitslosigkeit (durchschnittlich) größer. Von dort schwappte dieser neue frömmlerische Puritanismus, der sich zum Beispiel gegen Homosexualität und vorehelichen Sex wendet, der Glaubensabweichungen nicht toleriert und in »Jesus Camps« zu Glaubenskriegen motiviert auch nach Mittelamerika aus. In Mexiko wächst der Evangelikalismus beständig an. Das von Armut und Korruption gebeutelte Land hat besonders in der Region um Chiapas eine evangelikale Hochburg entstehen lassen. Dort ist die Armut am höchsten im gesamten Land.
Oder nehmen wir zur Abwechslung mal das ultraorthodoxe Judentum. Laut »Haaretz« leben an die sechzig Prozent, die das Judentum nach den Dogmen der Ultraorthodoxie leben, in Armutsverhältnissen.
Hier ist weder der Platz noch der wissenschaftliche Rahmen, um Zahlenmaterial zu sichten und weitere Kennzahlen nachzuschieben. Aber grundsätzlich lässt sich sagen, dass der Marxismus in dieser Angelegenheit aktuell ist wie eh und je. Radikalisierungen, die Heilsversprechen und jenseitige Besserstellung versprechen, gedeihen in Armut. Vielleicht nicht nur, auch nicht ganz so arme Charaktere radikalisieren sich, aber als Massenphänomen treibt eher die Armut hinein. Gleich mehr noch dazu. Jedenfalls ist es nicht besonders realistisch, wenn man nun so tut, als sei die Radikalisierung in Teilen der islamischen Welt ein Phänomen, das dem marxistischen Verständnis von Lebensverhältnissen und Überbau irgendwie entschwoben ist. Wieso sollte das in diesem konkreten Fall anders sein? Wieso soll es nicht die Armut sein, die die Gemüter willig macht für die Stumpfheit religiöser Heilsversprechen?
Oft hört man ja jetzt den Einwand – und man kann annehmen, Walzer spielte darauf an -, dass viele der islamistischen Attentäter aus besseren Verhältnissen stammen, manche sogar aus dem Westen, in denen es ihnen materiell sogar dann besser als dem Mittelstand in einem islamischen Land gehe, wenn sie nur als Sozialhilfeempfänger lebten. Der Vergleich hinkt, weil Armut ein relativer Begriff ist, aber der Einwand ist ja trotzdem nicht ganz falsch: Viele Köpfe der Radikalisierung sind und waren keine armen Schlucker, sondern kamen teilweise sogar aus reichem Hause. Der australische Soziologe Riaz Hassan fand in mehreren Studien heraus, dass die Radikalisierung westlicher junger Männer und Frauen nicht immer mit materieller Armut zu tun habe, sondern oftmals mit einer «Mischung verschiedener Motivationen aus Politik, Demütigung, Rachegefühle, der Wunsch nach Vergeltung sowie Altruismus» korreliere.
Man könnte sagen, dass sie zwar an einer Armut litten, die reichlicher ausgestattet war als Armut andernorts, aber durch die Stigmatisierung und Ausgrenzung radikalisiert wurden. Und ferner könnte man behaupten, dass sie sich aus Gründen der Verbundenheit mit denen, denen es auch schlecht geht, terroristisch artikulieren (»Terrorismus als Kommunikationsstrategie«). Religiöser Eifer ist eben nicht einzig und alleine »der Ausdruck des wirklichen Elendes«, sondern zugleich auch »die Protestation gegen das wirkliche Elend«, wie Marx es 1844 in »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« anmerkte.
Ich sage mal so: Solange man keine schlüssige Erklärung liefert, was Menschen außer Not und Ausgrenzung und anhaltend depravierten Zuständen in die (religiös und/oder ideologischen) Radikalisierung treibt, solange muss man den marxistischen Anhaltspunkt als beinahe unantastbar betrachten. Alle Indikatoren sprechen für die alte These, dass Religion ein Überbau und nicht das Fundament ist. Mit Marx gesprochen: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.« Nach diesem Satz kommt die berühmte Sentenz mit dem Opium, die zu oft zitiert wurde, um an dieser Stelle nochmals genannt zu werden. Und manche profane Ideologie wurde später wie jenes religiöse Opium konsumiert. Aber das führt jetzt zu weit.