Nicht der Streikende ist erpresserisch, sondern die Situation, in der er streikt

Dienstag, 11. November 2014

Als Anfang Oktober die Lokführer nachts streikten, da hieß es, dass die morgendlichen Nachwehen dieses Streiks all die braven Bürger treffe, die zur Arbeit wollten. Man sollte solche Mätzchen also nicht machen. Mitte Oktober streikten sie dann zwei Tage und alle riefen: »Muss das jetzt sein, wo doch der Urlaub beginnt? Die Leute haben sich doch so gefreut!« Danach kam es bekanntermaßen zu weiteren vier Tagen im Ausstand - die »wegen guter Führung« nach zwei Tagen endeten - und der Bahn-Vorstand gab sich empört, weil sich die Menschen so gefreut hätten, am Jahrestag des Mauerfalls zu feiern. Diese letzte Aussage gefiel mir besonders, denn sie war eine Erklärungsnot, die die Wortlosigkeit überwunden hatte und in voller Blüte des Schwachsinns über uns kam. Sie liest sich so hilflos, dass ich fast Mitleid mit dieser rhetorischen Null aus der Vorstandsetage bekommen habe.

Ab nächster Woche wäre es übrigens auch etwas ungünstig für einen Streik, denn die Leute wollen in die Großstädte pilgern. Sie freuen sich doch schon so un geheuer auf die Weihnachseinkäufe und die Sonderangebote, die man jetzt schon vorbereitet, indem man die Preise, die man senken will, zunächst mal erhöht. Und in drei Wochen ist es noch schlechter, denn da eröffnen die ersten Weihnachtsmärkte, auf die sich alle Glühweintrinker und Menschen so sehnsüchtig freuen. Es gibt immer noch einen Grund zur allgemeinen Freude, den man sich durch etwaige Spaßbremsen nicht vermiesen lassen will. Irgendwas fällt denen immer ein. Und wenn es der Kanzlerinnengeburtstag ist, auf den sich alle so mächtig freuten und den sie nun nicht standesgemäß in einem Waggon mit Blümchen in der Hand Richtung Berlin begehen können.

Wenn man diesen Streikgegnern so zuhört, dann stellt man sich regelrecht vor, wie die Lebensfreunde der Menschen verwelkt, weil da eine Handvoll Menschen nicht am Arbeitsplatz erscheint. Eine wirklich absonderliche Vorstellung. Zur Freude brauchen andere Völker ein Gläschen Wein, ein Stück Schinken oder das nackte Gegengeschlecht. In Deutschland reichen schon Lokführer aus, die ihre Arbeit tun. Ist das nun bescheiden oder selbstsüchtig?

Aber in all dem steckt mehr als nur Banalität. Diese Vertrösterei trägt in nuce das Freiheitsverständnis dieses neuen Liberalismus alter autoritärer Schule in sich. Man verbietet nichts, lässt jede Freiheit bestehen. Aber sie muss natürlich theoretisch verbleiben. Etwas fürs Papier zu sein. Weil jedoch ständig etwas dazwischenkommt, was zum Gebrauch von Freiheiten weist, verlangt man dann einen »verantwortungsvollen Umgang« mit ihr. »Seid doch vernünftig!«, rufen sie genau immer dann, wenn es ernst werden soll. »Verzichtet doch auf eure Freiheit, ihr lieben Leut'.« Im gewissen Sinne ist es eine Freiheit ganz im orwellianischen Sinne; eine, die man nur als Sklaverei und Unterordnung begreift. Sie ist ein paradiesisches Jenseits oder besser noch, eine göttliche Tugend, von der man hofft, dass sie bitteschön nie hinterfragt wird. Gott ist eine gute Idee, solange man ihn nicht hinterfragt. Mit der Freiheit in diesem System ist es nicht viel anders. Man lässt den Begriff und die Aussicht darauf über den Köpfen schweben. Denn das inspiriert. Macht Mut. Ist Zuspruch. Mehr aber auch schon nicht.

Wir haben in diesem System fast alle Freiheiten, wir sollen sie uns nur nicht (oder immer weniger) nehmen. Um das zu erlangen, erpresst man. Aber natürlich ist es keine Erpessung, sondern ein Hinweis auf alle Türen, die einem offenstehen.

Was, du hältst das hier für ein sittenwidriges Arbeitsverhältnis? - Dann geh doch! Geh doch! Du bist frei. Aber sei schön vernünftig und bedenke die Sperre, die dir das Amt aufbrummt.
   Sie wollen eine Story über Leiharbeiter in den Motorenwerken schreiben? - Gerne doch, wir haben Pressefreiheit, aber halten Sie doch mal inne und fragen sich, was geschieht, wenn die Motorenwerke als Kampagnenkunde abspringt. Nützt es Ihnen etwas, wenn Ihre Kollegen und dann auch Sie arbeitslos werden?
   Ob Sie sich die Haare färben dürfen? - Oh, Sie können sich jederzeit die Haare blau färben, Herr Linke ... aber hier arbeiten Sie dann leider nicht mehr!
   Mafiabosse klingen nicht viel anders. Sie legen den Arm und deine Schulter und haben Verständnis: »Junger Freund, du bist ein freier Mensch. Wenn es wider deiner Natur ist, den Ratschlägen zu folgen, die ich dir gebe, dann musst du tun, was du tun musst. Aber denke doch mal an deine Kinder.«

Das ist die neoliberale Matrix. Sie kennt nur eine abstrakte Freiheit, die immer gerade dann nicht genossen werden soll, wenn sie genossen werden will. Schon der alte Knochen Burke meinte, dass wahre Freiheit sei, wenn man sich der amtierenden Ordnung füge. Dieses Sachzwang-Vertrösten ist ja auch nichts anderes als eine besonders perfide Ordnung. Und der alte Knochen, der derzeit in Bellevue nächtigt, nennt denselben Schmarren »Freiheit in Verantwortung«. Was für ein Zufall. Oder auch nicht. Denn wie die Sache liegt, ist der Mann genau aus diesem Grund ins Amt kooptiert worden. Und man darf annehmen, dass auch er gegen den Streik ist. Vielleicht outet er sich ja noch. Sag du doch auch mal was dazu, Joe ...

5 Kommentare:

Anonym 11. November 2014 um 08:27  

Rosa von Praunheims Skandalfilm aus dem Jahr 1971
"Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt".

Hast wieder mal bei anderen gewildert?

Eine Fußnote wäre ein Hineis auf seriöses Bloggen.

ad sinistram 11. November 2014 um 08:35  

Du bist aber ein kluges Kerlchen. Hast gleich gemerkt, was? Hast du fein gemacht. Musste ich mal anmerken. Als seriöser Blogger lobt man solche wie Dich auch mal.

garfield 11. November 2014 um 12:57  

Zitat:
"Schon der alte Knochen Burke meinte, dass wahre Freiheit sei, wenn man sich der amtierenden Ordnung füge."

Da kann ich was Ahnliches aus meinem "früheren Leben" beisteuern:
"Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit". Ich glaube, so hieß der Hegel-Spruch, der im DAMALIGEN Unrechts-Deutschland gern benutzt wurde, um irgendwelchen Begehrlichkeiten vorzubauen.

Louis Andiel 11. November 2014 um 15:52  

... man darf auch für seine Freiheit auf die Straße gehen, nur bekommt man dann die Fresse voll. Unsere Freiheit ist nunmal alternativlos, darin liegt das Problem. :) #Super_Artikel #Respekt

ulli 11. November 2014 um 16:31  

Garfield: die Formulierung mit der Freiheit und der Notwendigkeit stammt von Engels. Hegel hätte sowas kaum gesagt, immerhin hat er am Jahrestag des Sturms auf die Bastille immer eine Flasche Rotwein geöffnet(hat er aber an den anderen Abenden vermutlich ebenfalls getan).

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