Über den Rest kann man streiten
Samstag, 7. September 2013
Via Facebook erreichten mich unglaubliche Übereinstimmungszahlen. Einer schrieb, der Wahl-o-mat hätte ihm 93 Prozent Übereinstimmung mit Die Linke bescheinigt. Gratuliere! Eine Frau schrieb stolz: 88 Prozent linkenkompatibel. Auch nicht übel! Und noch jemand schlussfolgerte, er habe bei einigen Themen neutral angeklickt und daher "nur" 84 Prozent erzielt. Schade eigentlich!
Ich schiebe an dieser Stelle mal den generellen Zweifel an Programmen wie dem Wahl-o-mat zur Seite. Wer eine Krücke zum Bergsteigen braucht, sollte im Tal bleiben. Was ich mich frage ist eher: Was ist denn das für eine Art von parteipolitisch organisierter Linkenkultur? Gibt es bei diesen vermeintlichen Zustimmungs- und Übereinstimmungspotenzial überhaupt noch Raum für Streit, für andere Positionen und Gedankengänge?
Und die Partei, die Partei, die hat eben nicht immer recht. Was man nur begrüßen kann. Wo bliebe da der Raum für demokratische Streitkultur?
Natürlich habe ich mir dann doch einen Spaß daraus gemacht, mal ein bisschen am Wahl-o-mat zu fummeln. Ich wollte wissen, was da so abgefragt wird. Komisch erschien mir übrigens, dass man dort behauptet, Die Linke sei für eine Kameraüberwachung des öffentlichen Raumes. Bislang habe ich immer das Gegenteil gelesen. Vielleicht klärt mich ja jemand auf. Mit Ach und Krach kam ich dann auf ein Übereinstimmungsvolumen von nicht ganz 65 Prozent. Was mir eigentlich völlig reicht. Wären es mehr, müsste ich mich fragen, ob ich noch denke oder schon Lemming bin.
Viele Ansichten von Die Linke teile ich grundsätzlich nicht. Da ist die parteiinterne Distanz und Berührungsangst zur Religion - ein böser Fehler in meinen Augen. Und dann ist da noch dieses unterbewusste eurozentristische Bewerten der Welt, was wiederum aus der Religionsabneigung rührt. Das merkt man, wenn einem mal ein Linker erklären will, warum die Burka ein patriachaler Vorhang ist.
Die arg progressive Haltung zu Familie und Kinder, die in jeder Hausfrau einen gescheiterten Lebensentwurf sieht, schmeckt mir auch nicht. Meiner Meinung nach wäre es Aufgabe von Die Linke, auch mal darauf hinzuweisen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf selbst im optimalsten Falle eine kaum zu lösende Problematik ist, sofern Eltern auch Elternschaft erfüllen wollen. Nach zehn oder elf Stunden Arbeit inklusive An- und Abfahrt, dürfte bewusst erlebte Elternschaft wochentags kaum mehr zu bewerkstelligen sein. Insofern ist der geflickschusterte Versuch der Koalition, ein Betreuungsgeld auszuzahlen, weitaus ehrlicher, als das Märchen von der Vereinbarkeit.
Das sind einige elementare Punkte, die mich von Die Linke trennen. Sachpolitischer: Grundeinkommen befürworte ich nicht. Eine Frauenquote ist ein klassistischer Gag, da nur für Frauen aus der Oberschicht gedacht. Das BaföG soll nicht, wie Die Linke meint, unabhängig von Einkommen der Eltern ausgezahlt werden. Wieso soll Rechtsanwalts Spross von der Allgemeinheit profitieren, wenn Papa genug hat? Bei Kindern aus der Hartz IV-Schicht wertet man Kindergeld sogar als Einkommen. Und dann natürlich: Hartz IV muss nicht weg! - um die beliebte Parole mal vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es gehört allerdings gründlich überarbeitet und zugunsten der Antragsteller und Leistungsberechtigten liberalisiert. Aber eine Grundsicherung wird es immer geben müssen - wenn dann auch mit anderem Namen.
Übereinstimmungen nach ZK-Maßgabe müssen für Die Linke schon historisch gesehen grauenhaft sein. Mit Löffeln gefressene Weisheit ist auch nicht die Aufgabe politischer Parteien. Man wählt nach den Schnittstellen, die eine Partei zum Andocken bietet. Das heißt nicht, dass persönliche Sichtweise und Leitlinie der Partei deckungsgleich sein müssen. Wäre dem so, könnte sich eine Partei nie neu ausrichten, anpassen, sich für die Gegenwart rüsten. Dann wären ihre Mitglieder und Sympathisanten nur Claqueure und nichts weiter.
Jenseits der 90 Prozent auf einer Linie zu liegen, halte ich fast schon für problematisch. Wie soll man sich da innerparteilich noch streiten? Wie diskutieren und Impulse setzen? Wenn alles so voller Harmonie ist, dann besteht die Gefahr, dass sich daraus Sucht, dass sich daraus Harmoniesucht ergibt. Und ich bin ehrlich, ich kann harmoniesüchtige Menschen nicht leiden. Sie kitzeln es bei mir geradezu heraus, sauer zu werden. Harmonie ist die Pforte zur Ignoranz. Und eine ignorante Partei wollte ich nicht wählen. Davon gibt es genug.
Ich denke, Die Linke kann als Partei gut damit leben, Menschen in ihrem Umfeld zu haben, die nicht hochprozentig auf Linie liegen. Das bereichert sie. Jedenfalls dann, wenn die Grundlinien gewahrt bleiben. Friedenspolitik, soziale Gerechtigkeit und Ökologie, Partizipation und Mitsprache, Liberalismus zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Einhaltung von Bürger- und Menschenrechte; philosophischer gesprochen: allerlei Ausgänge aus der (selbstverschuldeten) Unmündigkeit: Das sind die gemeinsamen Nenner. Über den Rest kann man streiten.
Ich schiebe an dieser Stelle mal den generellen Zweifel an Programmen wie dem Wahl-o-mat zur Seite. Wer eine Krücke zum Bergsteigen braucht, sollte im Tal bleiben. Was ich mich frage ist eher: Was ist denn das für eine Art von parteipolitisch organisierter Linkenkultur? Gibt es bei diesen vermeintlichen Zustimmungs- und Übereinstimmungspotenzial überhaupt noch Raum für Streit, für andere Positionen und Gedankengänge?
Und die Partei, die Partei, die hat eben nicht immer recht. Was man nur begrüßen kann. Wo bliebe da der Raum für demokratische Streitkultur?
Natürlich habe ich mir dann doch einen Spaß daraus gemacht, mal ein bisschen am Wahl-o-mat zu fummeln. Ich wollte wissen, was da so abgefragt wird. Komisch erschien mir übrigens, dass man dort behauptet, Die Linke sei für eine Kameraüberwachung des öffentlichen Raumes. Bislang habe ich immer das Gegenteil gelesen. Vielleicht klärt mich ja jemand auf. Mit Ach und Krach kam ich dann auf ein Übereinstimmungsvolumen von nicht ganz 65 Prozent. Was mir eigentlich völlig reicht. Wären es mehr, müsste ich mich fragen, ob ich noch denke oder schon Lemming bin.
Viele Ansichten von Die Linke teile ich grundsätzlich nicht. Da ist die parteiinterne Distanz und Berührungsangst zur Religion - ein böser Fehler in meinen Augen. Und dann ist da noch dieses unterbewusste eurozentristische Bewerten der Welt, was wiederum aus der Religionsabneigung rührt. Das merkt man, wenn einem mal ein Linker erklären will, warum die Burka ein patriachaler Vorhang ist.
Die arg progressive Haltung zu Familie und Kinder, die in jeder Hausfrau einen gescheiterten Lebensentwurf sieht, schmeckt mir auch nicht. Meiner Meinung nach wäre es Aufgabe von Die Linke, auch mal darauf hinzuweisen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf selbst im optimalsten Falle eine kaum zu lösende Problematik ist, sofern Eltern auch Elternschaft erfüllen wollen. Nach zehn oder elf Stunden Arbeit inklusive An- und Abfahrt, dürfte bewusst erlebte Elternschaft wochentags kaum mehr zu bewerkstelligen sein. Insofern ist der geflickschusterte Versuch der Koalition, ein Betreuungsgeld auszuzahlen, weitaus ehrlicher, als das Märchen von der Vereinbarkeit.
Das sind einige elementare Punkte, die mich von Die Linke trennen. Sachpolitischer: Grundeinkommen befürworte ich nicht. Eine Frauenquote ist ein klassistischer Gag, da nur für Frauen aus der Oberschicht gedacht. Das BaföG soll nicht, wie Die Linke meint, unabhängig von Einkommen der Eltern ausgezahlt werden. Wieso soll Rechtsanwalts Spross von der Allgemeinheit profitieren, wenn Papa genug hat? Bei Kindern aus der Hartz IV-Schicht wertet man Kindergeld sogar als Einkommen. Und dann natürlich: Hartz IV muss nicht weg! - um die beliebte Parole mal vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es gehört allerdings gründlich überarbeitet und zugunsten der Antragsteller und Leistungsberechtigten liberalisiert. Aber eine Grundsicherung wird es immer geben müssen - wenn dann auch mit anderem Namen.
Übereinstimmungen nach ZK-Maßgabe müssen für Die Linke schon historisch gesehen grauenhaft sein. Mit Löffeln gefressene Weisheit ist auch nicht die Aufgabe politischer Parteien. Man wählt nach den Schnittstellen, die eine Partei zum Andocken bietet. Das heißt nicht, dass persönliche Sichtweise und Leitlinie der Partei deckungsgleich sein müssen. Wäre dem so, könnte sich eine Partei nie neu ausrichten, anpassen, sich für die Gegenwart rüsten. Dann wären ihre Mitglieder und Sympathisanten nur Claqueure und nichts weiter.
Jenseits der 90 Prozent auf einer Linie zu liegen, halte ich fast schon für problematisch. Wie soll man sich da innerparteilich noch streiten? Wie diskutieren und Impulse setzen? Wenn alles so voller Harmonie ist, dann besteht die Gefahr, dass sich daraus Sucht, dass sich daraus Harmoniesucht ergibt. Und ich bin ehrlich, ich kann harmoniesüchtige Menschen nicht leiden. Sie kitzeln es bei mir geradezu heraus, sauer zu werden. Harmonie ist die Pforte zur Ignoranz. Und eine ignorante Partei wollte ich nicht wählen. Davon gibt es genug.
Ich denke, Die Linke kann als Partei gut damit leben, Menschen in ihrem Umfeld zu haben, die nicht hochprozentig auf Linie liegen. Das bereichert sie. Jedenfalls dann, wenn die Grundlinien gewahrt bleiben. Friedenspolitik, soziale Gerechtigkeit und Ökologie, Partizipation und Mitsprache, Liberalismus zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Einhaltung von Bürger- und Menschenrechte; philosophischer gesprochen: allerlei Ausgänge aus der (selbstverschuldeten) Unmündigkeit: Das sind die gemeinsamen Nenner. Über den Rest kann man streiten.
12 Kommentare:
diesem beitrag kann ich sogar zu fast 98% zustimmen. und da freut es mich natürlich, daß es doch noch menschen gibt, die durchaus progressiv denken, allerdings nicht in den vorgegebenen zeitgeistbahnen. toller post!!
den wahl-o-mat schenk ich mir.
Die Übereinstimmung mit Deinen Ausführungen liegt bei mir im sehr hohen zweistelligen Prozentbereich und ich bin sicherlich kein Lemming.
Ich bin übrigens die Katholikin, die aus Glaubens- und Gewissensgründen Linkspartei wählt und hier öfters mal kommentiert....
Heute war ich in München auf der Demo "Umfairteilen". Ich war überrascht, dass das Bündnis von der DKP bis zur Gewerkschaft der Polizei (im Ernst!) reichte. Die Caritas war übrigens auch dabei.
Ich würde mich so freuen, wenn da endlich mal etwas aufbricht und Katholiken erkennen würden, dass die Linkspartei die Partei ist, die am ehesten dem Evangelium entspricht und auch umgekehrt, dass seitens der Linken (an)erkannt wird, dass die Katholische Kirche ein Partner wäre, der immer noch großen Einfluss hat und den man nützen könnte, um wirklich Veränderungen anzustoßen.
Meines Erachtens ist der Erfolg der linken Bewegung in Südamerika u.a. darauf zurückzuführen, dass den Gläubigen nicht haßerfüllt, sondern partnerschaftlich begegnet wird. Zuallererst geht es in meinen Augen um eine linke Wirtschaftspolitik. Da sind sich Linkspartei und Katholische Kirche fast deckungsgleich einig. Wenn man sich hingegen als linker Atheist lieber über das Frauenpriestertum aufregt, dann ist echt Hopfen und Malz verloren.
Im Gespräch mit einem Jesuitenpater hatte ich mal gesagt, dass man doch im Grunde Linkspartei wählen müsse, wenn man das Evangelium ernst nimmt. Er stimmte mir zu, schränkte aber gleichzeitig ein, dass die Linkspartei der Katholischen Kirche sehr feindlich gesinnt sei und dass man aus diesem Grund diese Partei nicht wählen könne.
Ich halte diese Angst der Katholischen Kirche für grundfalsch. Es geht um die Substanz des Christentums und die wird gerade von den "christlichen" Parteien mit Füßen getreten. Das muss auch endlich so benannt werden! Jesus war kein Hosenscheißer, der sich im Angesicht der Mächtigen ins Hemd gemacht hätte, er hat sogar sein irdisches Leben riskiert und verloren und zwar für die gute SACHE. Genau das erwarte ich auch von meiner Kirche. Es geht um die SACHE, um Menschlichkeit und Nächstenliebe. Wenn darum nicht gekämpft wird - egal mit wem - dann richtet man sich gegen das Evangelium, das man ja eigentlich verkünden soll.
Hoffentlich wird die Kirchensteuer abgeschafft, denn genau die hindert die Bischöfe in meinen Augen daran, den Finger in die Wunde zu legen und zwar nicht verklausoliert, sondern unmißverständlich und klar! Die deutschen katholischen Kirchenfürsten wollen nicht auf das viele Geld verzichten, legen sich deshalb lieber nicht mit der Regierung an, sondern schwurbeln und werfen in ihren Predigten mit Wattebällchen. Das darf nicht sein!
Wenn sich Linke und Katholiken zusammenraufen könnten, dann wäre das wirklich eine echte Chance zum Wechsel!
Danach können wir uns dann gerne über die katholische Sexualmoral und andere Themen zoffen.....
BaföG für alle macht Sinn , weil viele Eltern auf dem Weg der Unterstützung großen Druck auf ihre Kinder ausüben , um sie in die gewünschte Richtung zu lenken.
Zwar besteht Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung , aber wer verklagt schon seine Eltern , das ist praxisfremd.
So entsteht der paradoxe Effekt , daß Kinder aus besser situierten Elternhäusern oft unfreier sind in ihrer Entscheidung , während BaföG-Berechtigte keine Rücksicht nehmen müssen auf den elterlichen Druck.
Keine Streitkultur zu haben ist insbesondere für "die Deutschen" charakteristisch". Deutsche haben nur eine Arbeitskultur: "Schaffe net schwätze!" Deswegen ist u.a. auch die Weimarer Republik gescheitert und Hitlers Antipathie gegen alles Intellektuelle und gegen jede Art von Pluralismus war einer der Gründe für die Begeisterung, mit der sich so viele Deutsche auf die nationalsozialistische "Arbeiterdiktatur" ein gelassen haben.
Das ist auch heute nicht anders, und wenn man "normale" Leute aber auch politische Kommentatoren über politisches Handeln labern hört, könnten einem die Tränen kommen über so viel Sehnsucht nach "Einheit", "Einigkeit" -> Alternativlosigkeit!
Eine "despektierliche" Bemerkung zu Wahl-o-mat und Co.:
"Hier ist Ron der Seher, mit wem spreche ich"?
Ja die Harmonie! Das Streben nach ihr steckt in uns Deutschen so tief drinnen und hat doch soviel Unheil angerichtet: Der Kaiser, der Führer, der erste Kanzler, die Mutti-Kanzlerin, sie alle verdanken dem Harmoniebedürfnis der Teutonen einen Großteil ihres Erfolges. Eine Streitkultur wie in Frankreich gibt es hier nicht. Das kürzlich stattgefundene Streitgespräch der vier 'kleinen' Parteien war da eine wohltuende Ausnahme, aber das Medienecho war verheerend. Es fehlte eben die Harmonie, denn die haben heftig gestritten und das Schlimmste: Sie haben den anderen nicht ausreden lassen! Sowas mögen wir garnicht...
Vielleicht passt ja zum Thema Übereinstimmung und Nichtübersteimmung Adornos Satz aius der Negativen:
Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität.
PS. und off topic: Seitdem Du diesen Antirobot dazwischen geschaltet hast, kann ich nur noch durch Zufall eine Anmerkung posten, denn infolge des Nachlassens meiner Sehschärfe kann ich oft die Zahlen nicht lesen, weil sie zu dunkel auf dunklem Hintergrund sind und auch die Buchstaben sind oft für mich nicht entzifferbar.
@anonym: du hast meine volle zustimmung. in lateinamerika gab es die berührungsängste mit den linken kräften nicht, stichwort: befreiungstheologie.
und immerhin haben die conquistadores aus europa das christentum nach südamerika gebracht.
Wal-O-Mat, klar. habe mit der von mir zu wählenden Partei ein Übereinstimmung von 66% erzielt. Also genug % für eigene Meinung. Außerdem hat die Partei Flügel, Richtungskämpfe usw., diese wurden jetzt, in Wahlkampfzeiten etwas hintangestellt.
Eine Kaderpartei mit internen Ergebnissen die immer zwischen 80 und 100% liegen ist nicht wählbar!
MfG: M.B.
Nur ganz am Rande. Elternschaft kann auch bei Berufstätigkeit gelebt werden. Das heißt, wenn Mann und Frau die Pflichten teilen und Frau nicht immer Staubwischen will ;) Es darf auch mal staubig aussehen oder die Fenster nicht so sehr sauber sein. Wenn man sich mindestens 3 Stunden am Tag intensiv mit seinem Kind beschäftigt und alles andere liegen lässt, geht das (ich bin aus dem Osten). Wirklich nur ein Einwurf nicht ganz zum wirklichen Thema passend, muss auch nicht veröffentlicht werden, kann gern gelöscht werden.
Ein für mich entscheidender Faktor fällt in diesen Betrachtungen immer fahrlässig, wie ich finde, unter den Tisch:
Der volksvertreterische Faktor.
Wichtig ist für mich der Anteil der Quereinsteiger einer Partei, die auch schon ein anderes Leben hatten als das des Politikers.
Wenn ich da die erste und zweite Etage der LINKEn anschaue, die praktisch seit der Jugend ihr Leben in Kadersitzungen verbracht hat, befällt mich das kalte Grausen. Das gilt für andere etablierte Parteien natürlich genauso.
Das sind aufgrund ihrer Vita keine Volksvertreter.
Sicher ist man nicht automatisch geeigneter, wenn man nicht nur einen politischen Werdegang hatte, aber ein fundierter außerpolitischer Tätigkeitsbezug zum Leben ist für mich unerlässlich für jemanden, der als Volksvertreter gewählt werden möchte.
Zu meinem Punkt, dass es politisch am volksvertreterischen Aspekt mangelt, hier nun ein möglicher Lösungansatz, wie ich ihn vertrete, formuliert von dem Schriftsteller Eugen Ruge (Gewinner des Deutschen Buchpreises 2011) in der aktuellen Ausgabe der ZEIT:
"Wie stellen wir den Regierenden ein souveränes Parlament gegenüber? Eine repräsentative Volksvertretung, die die Arbeit der wie auch immer gewählten Regierung wirksam kontrolliert, anstatt sie, wie es heute der Fall ist, automatisch mehrheitlich abzunicken.
Ist es uns eigentlich klar, dass ein ausgewürfeltes Parlament die Zusammensetzung unseres Volkes wesentlich besser repräsentieren würde als das gegenwärtige Verfahren?
Ich kenne die sofortigen Einwände: Sind 'einfache' Menschen denn überhaupt in der Lage, über komplizierte Sachfragen zu entscheiden? Kann man die Leute aus ihrem Leben, ihrer Ausbildung, ihrer Karriere oder gar aus der selbstständigen Geschäftstätigkeit herausreißen? Und so weiter.
Die Antwort auf alle diese Fragen ist: Ja.
Menschen wachsen mit ihren Aufgaben. Die Vermittlung verfahrenstechnischer Fähigkeiten lässt sich (z.B. durch Rotationssysteme) organisieren. Hier geht es um Interessen! Wenn man den Menschen die Fähigkeit abspricht, ihre Interessen zu vertreten, müsste man auch freie Wahlen verbieten.
Und was die zweithäufigste Frage betrifft: Jahrzehntelang haben wir es für möglich gehalten, Zigtausende junge Menschen für Monate oder Jahre zum Wehrdienst zu verpflichten. Jetzt soll es unmöglich sein, einige Hundert gegen gute Bezahlung zu einer qualifizierten, in jeder Beziehung bereichernden Tätigkeit zu verpflichten?
Nein, man muss diesen Vorschlag nicht annehmen, und alle, die auch nur einen Zipfel der politischen Macht in der Hand haben, werden sich gegen solche Ideen mit aller Kraft zur Wehr setzen, werden sie zur Gefahr hochstilisieren oder sie lächerlich machen. Aber die Wahl ist ein Anlass, darüber nachzudenken. Die Gefahr, dass solche Träume zu schnell wahr werden, besteht wohl kaum."
Der hellste Kommentar zur Wahl bisher.
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