Sie haben das Wort gestohlen

Montag, 30. September 2013

Schon am Wahlabend fingen die Medien Stimmen ein, die sich traurig zeigten, dass nun bald kein liberales Element mehr im Bundestag vertreten sein wird. Manche sahen darin sogar eine schädliche Entwicklung der Demokratie. Entwarnung, Leute, alles nicht so bitter! Wir kommen schon länger ohne ein solches Element aus. 

Es stimmt natürlich, der parlamentarischen Vertretung des Volkes täte ein liberaler Anteil nicht schlecht. Es ist aber mitnichten so, dass der Liberalismus im Oktober 2013 aus dem Bundestag auszieht. Das tat er schon irgendwann vorher. Wieso merkt man das erst jetzt? Denn liberal im klassischen Sinne, gab sich die liberale Fraktion im Bundestag, gekennzeichnet mit der Abbreviatur FDP, schon lange nicht mehr. Eher war es so, wie es General Bolívar in García Márquez' Buch "Der General in seinem Labyrinth" ausdrückt: "Ich weiß nicht, woher die Demagogen das Recht nehmen, sich Liberale zu nennen [...]. Sie haben das Wort gestohlen, nicht mehr und nicht weniger, wie sie alles stehlen, was ihnen zwischen die Finger kommt."

Die Philosophie von Liberalismus, die seit vielen Jahren im Bundestag vorkam, kannte die Freiheit nur als Prinzip des Marktes. Liberalismus sollte nach dieser Schule etwas sein, was der Wirtschaft - und nur der Wirtschaft - nützt. Er forderte Entbürokratisierung und Deregulierung, Aufhebung von lästigen Schutzgesetzen und die Vorfahrt für Profite. Klassischere Auslegungen von Liberalismus kamen nicht vor. Verfassungsliberale oder sozialliberale Vorstellungen gab es so gut wie gar keine mehr. Die FDP wollte nur die Unternehmen vom Zugriff des Staates bewahren. Den Bürger hingegen nicht.

Wir hätten einen Liberalismus gebraucht, der nach der Bekanntgabe immer weiterer Überwachungspraktiken laut Halt! gerufen hätte. Nicht erst jetzt, da Prism über uns kam. Schon vorher (Kameras auf öffentlichen Plätzen, Trojaner etc.) wäre es die Aufgabe des Liberalismus gewesen, die private Freiheit der Bürger zu erhalten. Liberalismus wäre gewesen, wenn man gegen die Verfolgungsbetreuung von Arbeitslosen (bis in deren Privatleben und ihre Wohnung hinein) aufgestanden wäre. Wo war das liberale Element des Bundestages, als sich die Öffentlichkeit immer stärker gegen die Muslime positioniert hat? Liberalismus bedeutete doch immerhin auch mal, dass jeder so leben können sollte, wie er das möchte. Auch in Sachen Religion. Im Zuge einer Politik, die sich dem Schutz vor dem Terror verschrieben hat, wurden Grundrechte eingeengt - ohne liberalen Aufschrei. Waren all die Parolen gegen Arbeitslose besonders liberale Blüten dieser Stimme der Freiheit im Parlament?

Ex-Innenminister Baum beklagte schon vor zwei Jahren, dass linksliberale Elemente in der FDP nicht mehr zu finden seien. Er sagte: "... ich stelle mir eine liberale Partei vor, die konsequent liberal ist, auf allen Feldern der Politik, das heißt, ihr liberales Lebensgefühl überall zeigt, also, sozusagen ein ganzheitlicher Liberalismus." Das war schon deutlich. Es ging aber noch weiter: "[Die Partei] hat sich schon seit langer Zeit wegbewegt von meinen Idealvorstellungen, wie eine liberale Partei aussehen sollte. Das Schlimmste war, dass sie sich verengt hat, dass sie ihre Breite, politische Themenbreite nicht mehr gepflegt hat. Sie ist verkümmert. Sie ist vertrocknet."

Dieser von Gerhart Baum geforderte "ganzheitliche Liberalismus" ist natürlich auch nicht jedermanns Sache, muss man mitnichten in Totalität als richtig erachten. Aber mit einem Liberalismus im Bundestag, der konsequent für ein liberales Lebensgefühl in Gänze eintreten würde und der nicht nur wirtschaftsliberal agierte, könnte man eher umgehen, als mit diesem radikalen Liberalismus, der nur Kürzungen von Arbeitnehmervorteilen, Deregulierungen und Besserstellungen von Unternehmen kannte. Der also kurz gesagt, seinen Freiheitsdrang nur über die Ökonomie abstrampelte.

Vermutlich wissen junge Leute heute gar nicht mehr, dass Liberalismus auch Grundrecht-Liberalismus oder sozialer Liberalismus sein kann. Sie wissen nicht, dass diese Haltung auch als Korrektiv gegen staatliche Willkür und gesellschaftliche Benachteiligung wirken müsste. Liberal zu sein heißt für jene Generationen, die nur diesen einseitigen FDP-Liberalismus, den man unter dem eigentlich falschen Label "Neoliberalismus" verortet, dass man einen (Arbeits-)Markt möchte, auf dem keine Instanz über Anstand und Vernunft wacht und auf dem festgeschriebene Regeln nicht existieren. Liberal zu sein bedeutet für diese jungen Leute vor allem, völlig amoralisch dem Spiel zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beizuwohnen und bei Problemen lediglich mit profitorientierten Lösungsansätzen zu hantieren.

Wenn man nun die Neuaufstellung der Liberalen thematisiert, Lindner als Hoffnungsfigur hinstellt, dann zeigt das nur, dass diese Leute nichts gelernt haben. Als würde man einen Schlachter in die Pâtisserie stellen und sagen: Da, mach uns mal ne Tart. Diese ganze Larmoyanz von diesen Leuten mit gelben Parteibuch, die sich vom Wähler unverstanden fühlen, zeugt nur davon, wie weit weg die Liberalen vom Liberalismus eigentlich sind. Denen geht es nicht um ein liberales Weltbild, sondern um Posten an den Schalthebeln, um sich gegenseitig Vorteile in der Wirtschaft zu verschaffen.

Sah man am Wahlabend in die Gesichter, die bei der Wahlparty (die dann keine wurde) zugegen waren, dann muss man sich fragen: Glaubt man wirklich, dass diese Horde junger Pfaue und eitler Sakko-Gecken, teilweise keine dreißig Jahre alt, aber schon versorgt oder beerbt, den Liberalismus wieder zu einer Stilrichtung deutscher Politik machen können, die man als respektabel ansieht, als eine Art von Sendungsbewusstsein? Mehr als Wirtschaftsliberalismus ist mit diesen Karrieristen nicht drin. Auch wenn die FDP 2017 wieder in den Bundestag einzieht: Das liberale Element wird auch dann weiterhin fehlen.


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Die Fahrkarten bitte!

Samstag, 28. September 2013

Eine historische Chance für die Demokratie, aber die letzte Chance für die Sozialdemokratie.

Der Vorschlag von Die Linke, das Regierungsvakuum zu nutzen, das "linke" Übergewicht in die Waagschale zu werfen, um der Union einen flächendeckenden Mindestlohn abzuluchsen, ist die letzte Chance, die die Sozialdemokratie bei Menschen aus dem Prekariat hat. Bügelt sie dieses Vorhaben ab, dann dürften 25,7 Prozent bei einer Bundestagswahl künftig unerreichbar bleiben. Ob davon eine andere Linkspartei profitieren könnte, bleibt eher abzuwarten. Wofür auch? Der Kanzlerin wird doch nun eine linke Überholspur angedichtet.

Der Mindestlohn könnte kommen. Schnell kommen sogar. Es liegt nur an der Sozialdemokratie und an den Grünen. Wahlen verlieren und Wahlversprechen trotzdem verwirklichen: Das ist eine historische Chance. Wenn die an der Eitelkeit der Sozialdemokratie scheitert, dann hat sich die Partei überlebt, dann geht es in den kommenden Jahrzehnten nur noch um ihre Abwicklung. Wer historische Stunden verstreichen läßt, der ist bald selbst Teil der Historie.

Ich möchte nicht schreiben müssen, dass eine Unterlassung jetzt schlimmer wäre als die Agenda 2010. Das wäre übertrieben. Zu sehr schmerzen die Folgen dieses Machwerks. Bei Arbeitslosen, bei Geringverdienern, Rentnern und Kommunen. Aber aus parteipolitischer Sicht wäre es wohl so. Die Agenda 2010 hat sie mehr schlecht als recht überlebt. Aber eben überlebt. Wenn sie jetzt das Herzstück dieses blutleeren Wahlkampfes auch nich verwirft, bloß weil sie beleidigte Leberwurst sein will, dann versetzt sie sich ins Koma. Ein Ja zum gemeinsam beschlossenen Mindestlohn ist zwar nicht gleich eine Neubelebung des sozialdemokratischen Gedankens, aber vielleicht ein Einstieg.

Die Tage, die wir erleben, gleichen einer kleinen Zäsur. Wer hätte das gedacht! Erst fliegt die FDP aus dem Bundestag und allen Wolken. Aus ihrem Wolkenkuckucksheim leider noch nicht. Dann will keiner so wirklich mit einer Kanzlerin regieren, die fast die absolute Mehrheit besitzt. Hier zeigt sich, wie isoliert diese Frau ist. Man erkennt, dass diese wahrscheinliche Kanzlerschaft stärker denn je eine Medienkanzlerschaft ist, ein hochgeschriebenes Produkt ohne politischen Inhalt. Und nun werden sogar Minderheitsregierungen empfohlen. Und das in Deutschland! Im Land von Vollkasko und Sicherheitsbedürfnis. Was ist denn der Deutsche ohne seine stabile Regierung und seiner Gewissheit, dass auch morgen sein Regierungschef eine sichere Mehrheit hinter sich hat? Und in dieser vielleicht nur kurzen Phase schickt sich die potenzielle Opposition (die keine Koalition sein will) an, eigene Vorschläge durchzudrücken.

Revolutionär ist das natürlich nicht. Jedenfalls nicht klassisch. Aber es ist ein wenig so, wie sich Lenin Revolution in Deutschland vorgestellt haben soll. Wenn die Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, sagte er, dann kauften sie sich erst noch eine Fahrkarte. Dieses Ticket fällt nicht in den Tarifraum, in dem die Barrikaden gegen den konservativ-neoliberalen Zugriff auf die Gesellschaft aufgestellt sind. Aber ein Lebenszeichen ist dieses Vorhaben allemal, ein guter Ansatz, den Parlamentarismus doch noch als nicht völlig postdemokratisiert abzustempeln. Wenn sich die drei Mindestlohn-Parteien dazu entschließen, dann könnte man sagen: Da schau her, es geht ja doch was! Opposition wäre so nicht einfach nur als Scheißzeit zwischen den Regierungsjahren gekennzeichnet, sondern als wesentlicher Bestandteil der Politik. Nicht nur als Korrektiv (obwohl das auch sehr wichtig ist), sondern auch als Gestaltungskraft.

Der Mindestlohn ist keine vage Forderung. Er ist zum Greifen nahe. So nahe, dass die Kommentatoren der Tageszeitungen schon den Untergang der Wettbewerbsfähigkeit (für viele nur ein anderes Wort für Ausbeutung) prognostizieren. Dietrich Creutzburg von der Frankfurter Allgemeinen schafft es sogar, einen Kommentar zu schreiben, in dem er andeutet, dass der Mindestlohn nichts bringen werde, ohne auch nur ein Argument oder eine Erklärung anzubringen. Quintessenz seiner Zeilen: Soll er nur kommen, der Mindestlohn. Die werden schon sehen, was sie davon haben. Hähähä. Sein hämisches Händereiben vermag ich leider lautmalerisch nicht anzudeuten, ich kann nur feststellen, dass es zwischen den Zeilen seiner Botschaft stattfindet.

Sollte die Sozialdemokratie und die Grünen im Schlepptau wieder mal Nein sagen, weil sie sich von Die Linke nicht kommandieren lassen wollen, dann reiben sich neben Creutzburg auch ganz andere die Hände. Das gilt es zu vermeiden. Wird es nicht vermieden, dann hat die SPD ihre letzte Chance verspielt.


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Mal den Jürgen würgen

Freitag, 27. September 2013

Über Sympathisanten von Die Linke, die sich für Merkel entschieden.

Er stimmt mir und meinen Genossen, wie er sie nennt, oft zu. Die Linken haben schon richtige Ansichten, sagt er dann. Bei mir muss man aufpassen, findet er. Denn ich würde ihn noch glatt umdrehen, zum Kommunisten machen. Deshalb sei ich sein gefährlichster Arbeitskollege, meint er augenzwinkernd. Infantile Scherze, die das Arbeitsklima auflockern. Am Donnerstag vor der Bundestagswahl sagte er mir dann, dass er am Sonntag für Merkel stimmen wolle. Das Motiv dahinter: Uns gehe es ja gut. So ist er, der Jürgen.

Dieses Phänomen kennen viele Linke. Viele Werktätige und Arbeitslose geben ihnen recht. Im wesentlichen stimmen die Schwerpunkte, die die politische Linke setze. Mehr sozialer Ausgleich und die Einhaltung demokratischer Prozesse. Das kann man unterschreiben. Gewählt wird aber konservativ. Die Wahl scheint in diesem Land ein sadomasochistischer Drang zu sein, ein intellektueller Selbstverrat, bei dem man das glatte Gegenteil dessen wählt, was man eigentlich möchte.

Jürgen ist vielleicht der typische Merkel-Wähler. Kein Konservativer. Er ist höflich, lustig und kollegial. Aber auch duckmäuserisch, obrigkeitstreu und wenig phantasievoll. Er liebt seine Strukturen. Was nicht strukturiert ist, nennt er sofort Chaos. Gewiss ist das ein wenig spießig. Aber jeder sollte seinen Spleen haben dürfen. Er ist nicht mal Bild-Leser, guckt aber viel Plasberg und Jauch und glaubt sich da auch umfassend informiert. RTL sieht er kritisch - aber er sieht es. Manchmal fängt er dann an, mir einige (für ihn) kuriose Positionen von Talkshow-Gästen auszubreiten und ich winke nur ab. Kümmert mich wenig, was da geredet wird. Aber ihn beschäftigt es.

Sozialer Ausgleich ist notwendig, findet er. Der Arbeitsmarkt sei eine Katastrophe. Die Arbeitsbedingungen würden immer schlechter. Mieten unbezahlbar. Stromkosten für Arme kaum mehr zu bezahlen. Jürgen hat das alles erkannt und pflichtet mir in so existenziellen Fragen uneingeschränkt bei. Dass sich was ändern muss, sieht er auch ein. Als ich ihm sagte, dass der freie Markt in vielen Gebieten nicht angebracht sei, in staatliche Obhut gehörten, runzelte er die Stirn und gab mir auch da recht. Wagenknecht nennt er hochintelligent. Gysi auch. Lafontaine findet er nicht sympathisch, aber hält ihn für einen begnadeten Redner. Aber was nützte es? Er stimmte ja doch für Merkel. Manchmal möchte ich den Jürgen einfach nur würgen.

Aber das hilft ja auch nichts. Schließlich ist Jürgen wie so viele andere den neoliberalen Kampagneros erlegen, die ihre angebotsorientierte Sicht von der Welt als Vernunft hinstellen. Deren offenes Linken-Bashing überhört Jürgen zwar. Aber ihre latente Sozialstaatsfeindlichkeit nimmt er als Sachzwang wahr. Dass sie das Zusammenleben der Menschen als reine Geldfrage ansehen, hinterfragt er nicht. Ethische Bewertungen läßt die Begrenzung auf Finanzierbarkeiten halt nicht mehr zu. Natürlich muss man sehen, wie etwas bezahlt wird - aber wenn das nicht mit dem moralischen Aspekt des menschlichen Miteinanders korreliert, dann betreibt man die methodische Sinnentleerung des organisierten Zusammenlebens. Jürgen spricht freilich nie von Ethik.

Und so wählt Jürgen keine Partei, die ... ich will nicht sagen, "... die gut für ihn wäre", ich sage lieber: "... die besser für ihn wäre". Er wählt, was sonst noch so da ist. Das schlechte Gewissen nach Jahren der Kampagnen gegen Die Linke machen es möglich. Und das alles in Zeiten, da linke Politik, nachfrageorientierte Ökonomie und alternative Konzepte eigentlich Hochkonjunktur haben müssten.

Ach komm, Jürgen, ist mir scheißegal, antwortete ich ihm. Er wollte mir nach der Wahl doch unbedingt noch einen Grund nennen, weshalb er sich für Merkel ausgesprochen habe. Lass es, jetzt ist es eh zu spät, bat ich ihn. Er ließ sich allerdings nicht abbringen. Weil ich ihr das meiste Vertrauen schenke, sagte er. Du solltest deiner Frau vertrauen und nicht irgendwelchen Weibern, die du gar nicht kennst, sagte ich ihm. Er schaute mich doof an. Mein Satz erinnerte mich plötzlich an einen Ausspruch eines früheren Bundespräsidenten. Kennst du das vom Heinemann, als man ihn fragte, ob er Deutschland liebe und er sagte: Ich liebe nur meine Frau, fragte ich Jürgen. Ich wollte ihm damit nur deutlich machen, dass Liebe und Vertrauen und all diese Worte nicht für die Politik nützlich sind, sondern im Privatleben bleiben sollten. Ach Heinemann, das war eh ein Scheißpräsident, gab er zur Antwort. Total senil und orientierungslos, schob er nach und ging weg. Er verwechselte Heinemann mit Lübke.


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Nichtwähler haben keine Wahl

Donnerstag, 26. September 2013

Ich werde nicht wählen, sagte mir ein Bekannter vor der Bundestagswahl. Er wüsste nicht, was ihm das bringen sollte, erklärte er mir in trockenem Ton. Einen Tag später traf ich einen anderen Bekannten. Er kündigte dasselbe an. Seine Erklärung war fast identisch. Bringt nichts - und zusätzlich reizt ihn das Angebot auch nicht besonders. Auch seine Erklärung wirkte gefasst. Als sei diese Erkenntnis vieler Lebensjahre eine besondere Weisheit, an der zu rütteln sich nicht mehr lohne.

Das deckt sich mit Zahlen, die das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung vor einiger Zeit veröffentlichte. Nichtwähler gehören demnach verhältnismäßig oft den unteren Schichten an, verdienen weniger als Menschen aus der Mittelschicht und haben einen niedrigeren Schulabschluss. Die Wahlbereitschaft sank zwar in den letzten Jahren in allen gesellschaftlichen Gruppen. Im Prekariat sank sie allerdings besonders stark. Fast 60 Prozent der Nichtwähler kommen aus den zwei unteren Fünfteln der Einkommensstatistik.

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Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit!

Mittwoch, 25. September 2013

Das Ausscheiden aus dem Bundestag kostet 600 Mitarbeitern der FDP den Job. Womöglich sind sie froh darüber, dass ihr alter Arbeitgeber doch nicht die Arbeitsagentur abgeschafft hat, wie er das in seiner Hochzeit mal plante. Wohin würden die jetzt arbeitslosen Ex-FDP-Mitarbeiter sonst gehen? Man kann nur hoffen, dass sich diese Leute nicht zu sehr in einer spätrömischen Dekadenz einrichten. Leistung muss sich nämlich lohnen. Und Nicht-Leistung darf nicht belohnt werden. Wer arbeiten will, liebe Ex-FDP-Angestellte, der findet auch Arbeit. Die Zeichen am Arbeitsmarkt stehen ja günstig. Ihr kennt das ja, euer Chef war ja auch Wirtschaftsminister. Vielleicht hat der eine oder andere von euch sogar diese ganzen positiven Wasserstandsmeldungen verfasst, die den Niedriglohnsektor kaschierten und zum rosigen Arbeitsmarkt stilisierten.

Was hat euer Ex-Arbeitgeber nicht alles für Sprüche geliefert, als er noch obenauf war: Älteren Arbeitslosen wollte er die Bezüge kürzen. Das Arbeitsamt abschaffen und privatisieren. Arbeitslose sollten wahlweise Schneeschippen oder in Altenheimen aushelfen. Und diese rücksichtsvolle Art in Jobcentern verurteilte er energisch. Es brauche nämlich mehr Härte im Umgang mit Faulpelzen. Arbeitsvermittler, die nicht gnadenlos seien, würden ihren Beruf verfehlen. Auf der Facebook-Seite eures Ex-Brotgebers hetzten aktive Parteimitglieder ungeniert. "Bodensatz der Gesellschaft" und "Schmarotzer" waren noch die freundlicheren Titulierungen. Und dass es ohne Gegenleistung selbstverständlich keine staatliche Hilfe mehr geben sollte, betonte die FDP in selbstverständlicher Regelmäßigkeit.

Meine Güte, für so ein Unternehmen habt ihr gearbeitet? Ist wirklich sozial, was Arbeit schafft? Auch wenn man bei Asozialen schuftet? Ich war immer der Ansicht, dass nicht jeder Arbeitsplatz erhaltenswert ist. Man sollte keine Stellen erhalten, bei denen man für ein Butterbrot arbeitet. Und man sollte keine Stellen erhalten, deren Sinngehalt es lediglich ist, dem Prekariat sogar die Butter auf dem Brot madig zu machen.

Und wie ist es nun, liebe Arbeitslosen aus dem Hause der FDP? Seid ihr bereit ins Altenheim zu gehen? Bietet euch an, engagiert euch, zeigt dass ihr arbeiten wollt! Macht Praktika, damit ihr interessant bleibt für den Arbeitsmarkt. Seid nicht zu anspruchsvoll. Nehmt Lohneinbußen in Kauf. Auch der Niedriglohnsektor bietet Optionen. Mancher hat es via Leiharbeit schon zu einer ganz großen Karriere geschafft. Habt ihr doch selbst immer behauptet, ihr und euer Boss. Wer wird denn daran zweifeln? Seid froh, liebe Ex-FDP-Mitarbeiter, dass es keinen Mindestlohn gibt. Der hätte eine Wiedereinstellung bei einem anderen Arbeitgeber nur erschwert. Und kommt bloß nicht auf die Idee, euch im Müßiggang einzunisten. Zeitig aufstehen, Strukturen bewahren, kein Privatfernsehen, sitzt nicht zu oft auf eurer Couch. Spekuliert ja nicht darauf, nach einem Jahr im Arbeitslosengeld I euch den Reichtum des Arbeitslosengeldes II zu gönnen. Das Leben ist doch kein Zuckerschlecken nach SGB II.

Bevor ich es vergesse, ihr erhaltet drei Monate kein Arbeitslosengeld. Denn eure Arbeitslosigkeit ist selbstverschuldet. Wer sich so aufführt wie ihr, wer die Eskapaden seines Dienstherrn so unterstützt, wie ihr es getan habt, der ist letztlich selbst an seiner Arbeitslosigkeit schuld. Aber tröstet euch: Noch gibt es Prozesskostenhilfe, eure FDP hat es nicht mehr geschafft, sie einzustampfen. Klagt doch! Auf Staatskosten Gerichte bemühen und nichts leisten: Das haben wir vielleicht gern!


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Das Gesuch der alten Dame

Dienstag, 24. September 2013

Eine tragische Komödie?

Claire Zachanassian, die Hauptfigur in einer rabenschwarzen Tragikomödie von Dürrenmatt, hat sich einen neuen Namen zugelegt. Sie heißt jetzt Angela Merkel. Sie wird der grünen Gemeinde ein Angebot unterbreiten. Davon muss man ausgehen, wenn man den Stimmen des Wahlabends unbedarft lauschte. Man müsse schließlich alle demokratischen Parteien anhören. Sie wird ein Angebot machen und die Grünen werden sich ein Angebot machen lassen. Sie werden es mit Skepsis entgegennehmen.

Kurze Inhaltsangabe: Die Milliardärin Claire kommt zurück in ihren Heimatort. Sie war als arme Schluckerin davongelaufen. Nun will sie Rache an ihrem ehemaligen Geliebten Alfred, der sie schlecht behandelt und vor Gericht bloßgestellt hatte. Die Bürger sollen ihn töten und erhalten dafür eine Milliarde. Sie sind natürlich zunächst empört. Ja, glaubt denn die mit ihrem Geld, kann uns einfach einkaufen?

Klar werden die Grünen das Angebot mit Bauchweh verarbeiten. Der Bauch tut ihnen ja immer weh. Er schmerzte, als sie zum Teil einer Kriegsregierung wurden und als man die Überwachung als Neuausrichtung der Innenpolitik verabschiedet hatte. Bei Hartz IV tat er offenbar weniger weh. Sie werden mit einer Parteiführung hadern, die doch immer ganz deutlich machte, dass es Schnittstellen mit den Christdemokraten nicht gibt.

Sie werden die Offerte zunächst nicht ganz so brüsk ablehnen wie die Einwohner jener Kleinstadt namens Güllen. Aber sie werden zweifeln und hinterfragen und den Medien stecken, dass die Union sich schon bewegen müsse. Denn so finde man keinen Platz zum Andocken. Dann spielen sie das Angebot runter, nonchalant wie die Güllener. Bis der Lehrer auftritt, der Alfred rät, er solle doch nicht so sehr am Leben hängen. Allerlei Moralisten empfehlen ihm nun indirekt den Selbstmord. Der Lehrer ist natürlich kein Lehrer in unserer tragikomödiantischen Realität. Es wird wohl eher ein Realo sein. Herr Kretschmann, Sie?

Und plötzlich wird man erkennen, dass Frau Merkel eigentlich eine Grüne sei - wenn auch in der falschen Partei. Wer hat denn den Atomausstieg forciert? War es nicht die Kanzlerin? Und hat sie sich nicht neulich aus einem internationalen Krieg herausgehalten? Und überhaupt: Krieg ist nicht gleich Krieg. Menschenrechtskriege sind keine imperialistischen Feldzüge. Was ist denn bitteschön schlimm an militärischen Operationen, die es nur gibt, damit die Welt ein besserer Ort wird? Wenn man ganz genau hinschaut: Auch Merkels Gesellschaftspolitik ist doch liberal und tolerant. Ihr Sozialstaatsverständnis ist doch dem grünen Verständnis ganz nahe. Immer gewesen. Es war nie anders. Das waren nur immer irgendwelche unverbesserlichen Fundis, die getönt haben, es gäbe da dicke Differenzen.

Die Grünen werden noch anmerken, dass auch Merkel sich noch bewegen müsse. Und sie werden um Merkel kreisen und annehmen, dass ihre Runden um sie eigentlich der Bewegungsablauf der Merkel ist. Wie Autofahrer, die im Kreisverkehr um den Arc de Triomphe kariolen, und die voller Erstaunen sagen: Guck, der Bogen bewegt sich mit! Und siehe da, sie bewegen sich schon. Roth soll gehen. Macht sie die Bahn für jemanden frei, der die Koalitionsfähigkeit herstellen soll? Herr Kretschmann, na?

So geben sie dem Gesuch der alten Dame nach. Wie die Güllener. Claire konnte sich der Niedertracht und der korrumpierenden Wirkung ihrer finanziellen Potenz sicher sein. Früher oder später würden sie ihre Bitte erfüllen. Die schönen Posten, mit denen sie heute unter dem Namen Angela Merkel winkt, sind auch nicht zu verachten. Da tötet man den letzten Rest Glaubwürdigkeit gerade so, wie sie den armen Alfred meuchelten. Um den scharten sie sich, kamen immer näher, Alfred verschwand im Auflauf und lag plötzlich tot da. Alle waren es und keiner ist es gewesen.

Dies Geschichtlein gäbe es noch in der sozialdemokratischen Variante. Dann aber nicht als Tragikomödie sondern als Drama. Und da das wirkliche Leben selten witzig ist, wird uns wohl eher die dramatische Version ereilen. Gemeinsam ist beiden Versionen nur, dass es sich um Protagonisten handelt, die sich als linke Alternative verstehen wollten und die trotzdem die Koalition mit der Union erwägen. Aus Vernunft, wie sie sagen. Weil mit Die Linke wollen sie nicht. Weshalb auch immer.

Oder sagen wir es ehrlicher: Weil sie keine linksliberale Alternative sein wollen, sondern nur ein milderer und freundlicher Konservatismus. Verlogen und verblendet in ihrer eigenen Existenz - wie die Leute aus Güllen. Sie hoben hervor besser zu sein, anständiger als Claire. Am Ende zeigt sich, dass sie im selben "Sumpf der Unmenschlichkeit und Morast der Unmoral" (wie es in mancher Interpretation steht) waten, wie die alte Dame.


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Das Wahlergebnis hinter dem Wahlergebnis

Montag, 23. September 2013

Bei der Bundestagswahl wählten...
  • ... 28,5 Prozent aller Wahlberechtigten gar nicht.
  • ... 29,3 Prozent aller Wahlberechtigten die CDU/CSU.
  • ... 18,2 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD.
  • ... 6,1 Prozent aller Wahlberechtigten die Linke.
  • ... 6,0 Prozent aller Wahlberechtigten die Grünen.
  • ... 3,4 Prozent aller Wahlberechtigten die FDP.
  • ... 3,3 Prozent aller Wahlberechtigten die AfD.
  • ... 1,5 Prozent aller Wahlberechtigten die Piraten.
Fast hätte die Union die absolute Mehrheit mit nicht mal annähernd 30 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten erreicht. Sollte es zur Großen Koalition kommen, besteht die Opposition nur aus 12,1 Prozent.


Bei der Landtagswahl in Hessen wählten...
  • ... 26,8 Prozent aller Wahlberechtigten gar nicht.
  • ... 27,3 Prozent aller Wahlberechtigten die CDU.
  • ... 21,9 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD.
  • ... 7,9 Prozent aller Wahlberechtigten die Grünen.
  • ... 3,7 Prozent aller Wahlberechtigten die Linke.
  • ... 3,6 Prozent aller Wahlberechtigten die FDP.
  • ... 2,9 Prozent aller Wahlberechtigten die AfD.
  • ... 1,4 Prozent aller Wahlberechtigten die Piraten.
Die fiktive rot-rot-grüne Mehrheit käme auf 33,5 Prozent aller Stimmen. Die mögliche Jamaika-Koalition summierte sich auf 38,8 Prozent.

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Die Frau, die nichts tat und viel gewann

oder Die erste ganz große Dame der deutschen Postdemokratie.

Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, ist noch nicht ganz klar, ob die Konservativen die absolute Mehrheit haben oder nicht. Klar ist nur, dass es Zuwächse für eine Politik gab, die sich inhaltlich nicht nur im Kreis drehte, sondern als Umteilungssystem von unten nach oben wirkte.

Was wir erleben ist nicht der Sieg oder gar die politische Bestätigung von Angela Merkel, sondern die Ver-Popstar-ung politischer Protagonisten. Politische Inhalte vermittelte sie kaum. Sie strauchelte in der Wahlarena und sprach im Dialog mit Steinbrück (im Volksmund Kanzlerduell genannt) fein säuberlich um den heißen Brei. Was sie wirklich konnte war das Repetitio ihrer Floskeln und der für sie vorgeschriebenen Sprachbilder. Trotzdem reicht es für eine (absolute) Mehrheit. Fast ist es so wie es Der Postillon scherzhaft meinte: Sie ist so beliebt, weil sie so beliebt ist. Andere Erklärungen wirken da nur unglaubhaft.

Klar ist ja auch, dass eine etwaige absolute Mehrheit auf niedrigem Niveau entsteht. Nie haben 42 oder 43 Prozent hierzu gereicht. Das liegt an vielen starken Parteien unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde, die den Schwellensatz hinunterziehen. Trotzdem: Kaum etwas erklärt besser diesen Sieg, als diese Beliebtheit um der Beliebtheit willen. Irgendwie bestimmte dieser irrationale Impuls die Menschen, sich für jemanden auszusprechen, der in der Sozialpolitik versagte, die Außenpolitik brutalisierte, die Sicherheitspolitik totschwieg (Stichwort "Prism") und keine klare Prinzipien an den Tag legte. Aber weil sie so beliebt war, weil sie so niedlich guckte und so tapsig wirkte, darf sie es nochmal, jetzt sogar gestärkt probieren.

Mit politischer Leistung hat das relativ wenig zu tun. Merkel hat sich nach diesem Wahlkampf und dem Wahlausgang auch gleich aus der Zunft der Politiker verabschiedet. Jetzt ist sie mehr. Sie hat den Aufstieg zum Popstar geschafft. Teilweise war sie das vorher schon. Nun geht es aber bloß noch um Imagepflege, um die Stilisierung, um die Unterhaltung ihrer Aura. Sie ist die Frau, die wenig tat und viel gewann. Politische Konzepte juckten sie immer reichlich wenig. Aber jetzt ist es klarer denn je: Sie ist der Inhalt ihrer Politik. Sie ist ihre Politik. Jetzt muss sie noch weniger politisch leisten als vorher. Der Popstar-Effekt: Die Rolling Stones können heute auch durchschnittliche Nummern schreiben, sie werden Begeisterungsstürme ernten. Hey, es sind die Rolling Stones! Angie, Angie, where will it lead us from here? Zum Mindestlohn sicher nicht.


Sie ist ein unmusikalischer Popstar, ein unpolitischer Politiker, ein inhaltsloser Inhalt. Ein Oxymoron, das Contradictio in adiecto. Oder anders gesagt: Sie ist die erste ganz große Dame der deutschen Postdemokratie. Eine Kreatur des Medienzirkus, die weiß, wie sie sich verkaufen muss und die mit heißer Luft Zustimmung einfährt. Dieser Wahlabend ist die endgültige Ankunft dieser Republik in der Postdemokratie, in der politische Aspekte nichts zählen, wenn man zum Ausgleich hierzu nur mediabel genug ist.

Na sicher, der Brandt war auch in gewissen Kreisen ein Popstar. Aber er hatte noch Inhalte, Botschaften, schuf Aufbruchstimmung. Er musste etwas vorweisen, um jemand zu werden. Während Brandt versuchte, etwas aus der Scheiße zu basteln, die die Konservativen in den Jahren zuvor produziert hatten, macht Merkel aus Nichts etwas. Brandt fiel auf die Knie und Merkel tat nichts außer Sparanweisungen zu geben. Nur im postdemokratischen Medienzeitalter ist es möglich, dass man ohne Können und Kenntnis zum Popstar wird.

In den letzten Jahren haben Parteien, die Wähler verloren hatten, gerne behauptet, sie seien vom Wähler nicht ausreichend verstanden worden. Das war Selbsttrost. Diese Analyse trifft jetzt auf diese Bestätigung Merkels auch zu. Sie ist nicht verstanden worden. Und das war ihr großes Glück. Sie tut indes alles dafür, nicht verstanden zu werden. Hierfür redet sie extra undeutlich. Dafür lobt sie die wirtschaftliche Lage des Landes ohne zu sagen, dass die nur im Vergleich zu einer europäischen Wirtschaft so gut dasteht, die eigentlich am Boden kriecht. Im Vergleich mit Spanien sind wir spitze. Sagt sie aber nicht.


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Ich wähle nicht einfach Die Linke ...

Samstag, 21. September 2013

... ich wähle den Breitband-Zugang zu einer gerechteren Gesellschaft.

Eine Empfehlung für Sonntag möchte ich nicht geben. Das klingt dann nämlich so, als würde der dicke Fachmann hübsche Ratschläge erteilen. Ich kann nur von meinem Gespür sprechen. Und das hat sich seit der letzten Bundestagswahl kaum verändert.

Ich halte mich bei der aktuellen Wahl an Steinbrück. Keine Sorge, den wähle ich nicht. Aber in der Wahlarena hat er versucht einen Nichtwähler zu überzeugen. Er belehrte den Mann, dass er die Partei wählen sollte, die seinen Vorstellungen am ehesten entspricht. Von dem Unsinn, den er verzapft hat, dass das Wahlrecht eigentlich eine Wahlpflicht darstelle, halte ich hingegen wenig. Man sollte Menschen nicht in die Pflicht nehmen, sondern sie überzeugen. Aber im Sinne Steinbrücks, die Partei zu wählen, die mir am meisten entspricht, werde ich am Sonntag handeln. Nicht alles, was sie meint und glaubt, finde ich immer richtig. Aber sie ist ja auch nicht mein Klon, der sich wie ich bewegen und ticken soll.

Ich wähle nicht einfach eine Partei, nicht einfach nur Die Linke. Um die geht es mir ja nur marginal. Mir geht es um so viel mehr - und ich wähle so viel mehr. Denn ich wähle die Aussicht auf eine sozialere Gesellschaft, ich wähle Hoffnung und Lichtblick. Die Partei, die Partei, die kommt mir hierzu gerade recht. Sie ist mir Mittel zum Zweck. Wer Die Linke wählt, der wählt nicht einfach eine Partei, sondern die Chance auf mehr Gerechtigkeit, eine andere ökonomische Linie, ein gesünderes Menschenbild. Der wählt die Aussicht auf Unterbrechung der neoliberalen Umstrukturierungsprozesse.

Die Partei ist nur ein notwendiger Weg dorthin. Ihre Graben- und Flügelkämpfe, ihr ideologischer Background, ihre Interna und Innereien sind mir unwichtig. Das alles wähle ich nicht. Ich wähle eine Idee. Konstantin Wecker schrieb vor Jahren mal etwas ähnliches. Er schrieb, dass er nie in seinem Leben Parteimitglied war. Er, der Poet, habe auch nicht vor, das zu ändern: "Denn ich bin der Meinung, dass die Politik poetischer werden muss und nicht umgekehrt." Diese Passage zitierte ich auch schon vor vier Jahren, als mehr als hundert Blogs ein Bekenntnis ablegten.

Parteien sind die Zugangstechniken, über die das Zusammenleben der Menschen in der Demokratie arrangiert wird. Die Partei, die ich wählen werde, betrachte ich als Breitband-Zugang in eine gerechtere Welt. Alle anderen sind analoge Modems, die sich hineinwählen und rausfliegen, hineinwählen und rausfliegen und die dann den Geist aufgeben, weil eine langfristige Verbindung eh nicht vorhält. Die Linke ist das 16.000 kBit/s-DSL - bei allen anderen Parteien rasselt es noch beim Einwählen, da surft sie schon. Sie surfte schon auf der Welle des Mindestlohns, da winkten die anderen Modems nur ab. Bis sie selbst mal online waren und erste zaghafte Mindestlöhne in kleinen Branchen verabschiedeten. Und das traf bei vielen Themen zu.

Bei all dem vergesse ich nie, Die Linke ist nur der Zugang, aber nicht meine Welt.


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Alles schläft, einsam wacht

Freitag, 20. September 2013

Zur Erinnung, bevor sich die Deutschen wieder für sie entscheiden.

Am Sonntagabend wird Merkel erneut mit voller Wucht auf die deutsche Erde aufschlagen und die Erschütterung wird auch den Rest Europas erfassen. Die Kollision wird kein Weltuntergang sein, wird aber die Welt, wie wir sie kennen, weiter demontieren. Die klammheimliche Entdemokratisierung wird weitergehen.

Richtlinieninkompetenz

Die Regierungszeit dieser Frau hat gezeigt, dass sie eine Freundin hohler Worte ist. Sie wackelte orientierungslos durch ihre Amtszeit. War mal für etwas, mal dagegen. Besonders spektakulär war dieser Wackelmut, als sie ihre geliebte Brückentechnologie aufgab, um hernach der Atomenergie doch ein Ende zu bereiten. Ging es um Aufklärung, tauchte sie im Ozean von Worthülsen und schaler Phrasen ab. Sie interpretierte Kanzlerschaft neu: Unter ihr ging es stets nur darum, wie sie am geschicktesten ihre Richtlinieninkompetenz vertuschen und verbergen kann. Die Suggestion der Empathie beherrschte sie makellos. Sie spielte die Kümmerin, wenn es opportunistisch war und machte doch deutlich, dass sozialer Ausgleich nur bedingt mit ihr machbar sei.

Machen wir uns jedoch nichts vor: Sie ist nicht der Teufel. Kein Generalangriff auf die Demokratie. Keine potenzielle Despotin, auch wenn sie sich in Europa hin und wieder so aufführte. Sie wird nicht einfach mal flott das Grundgesetz auflösen und den Notstand zur Grundlage einer weiteren Amtszeit erheben. Trotzdem ist sie eine elementare Gefahr für diese Demokratie. Eine schleichende Gefahr. Ihr Postulat von der "marktkonformen Demokratie" ist ein indirektes Ermächtigungsgesetz im Schneckentempo: Nicht brutal durchgesetzt, sondern langsam und betulich installiert, mit Rationalität schmackhaft gemacht. Sie wirkt als Evoluzzerin, als Entdemokratisiererin der kleinen Schritte, als eine Mama Humanitas, die rücksichtsvoll und ohne Eile, dafür aber ohne falschen Trost und nachdrücklich die Sachzwänge der Märkte exekutiert.

Speziell dieser Wahlkampf hat nochmals verdeutlicht, auf welche Weise sie gefährlich für uns ist - und eigentlich für jedes demokratische Gemeinwesen wäre. Der aktuelle Wahlkampf war in nuce das, was ihren Regierungsstil ausmachte: Ein gezieltes Anästhetikum.

Opiat wider dem Volk

Sie sediert die res publica, sie narkotisiert das Interesse und facht dieses ohnehin vorhandene Phänomen unserer Epoche, die so genannte Politikverdrossenheit, weiter an. Ihr Wahlkampf baute darauf, möglichst wenige Protest- und Wechselstimmungswähler an die Urnen zu holen. Je geringer die Wahlquote, desto mehr Chancen rechnete sie sich aus. Sie spekuliert stets darauf, die Gesellschaft möglichst zu entpolitisieren. Der optimale Bürger ist in ihrem Weltbild ein apolitischer Eigenbrötler, der sein privates Umfeld prägt, sich ansonsten aber möglichst wenig Gedanken um Allgemeines und die Allgemeinheit macht.

Merkel ist die Narkoseärztin der Demokratie. Bedingt auch Chirurgin, die gewisse antidemokratische Eingriffe befürwortet und auch unterstützt. Die dreckige Arbeit mit dem Skalpell überlässt sie aber lieber anderen. Sie ist für die Anästhesie zuständig, schaltet das bürgerliche Bewusstsein und das öffentliche Schmerzempfinden aus, indem sie rhetorische Mittel verabreicht, die im zentralen Nervensystem des Gemeinwesens wirken. Auch als Lokalanästhesistin ist sie dabei tätig, setzt nur bestimmte Teile unter Lähmung, um den Chirurgen der autoritären Postdemokratie die Arbeit zu ermöglichen. Sie fungiert während der schmerzhaften Eingriffe gerne als Opiat, das die Schmerzen nimmt, ein wohliges Gefühl verbreitet und die Amputation mit einem kleinen Rauschzustand versetzt.

Alles schläft, einsam wacht

Für Merkel kommt mündig von müde. Der mündige Bürger ist für sie ein müder Bürger, ein politikmüder Zeitgenosse, der sich als Privatier begreift, nicht als einer, der sich in die Belange des Gesamtgesellschaft einmischen sollte. Kant würde deshalb heute vielleicht schreiben: Aufklärung über Merkel ist der Ausgang des Wählers aus seiner von oben verschuldeten Müdigkeit.

Es ist fast ein bisschen wie bei Dornröschen und Merkel ist darin die dreizehnte Fee, die den Hofstaat in einen tiefen Schlaf versetzt. Vielleicht keine hundert Jahre, auch wenn sich die Zeitspanne mittlerweile ewig anfühlt - aber doch lange genug, um der "neuen Ordnung der Märkte" in die Schuhe zu helfen. Wie die dreizehnte Fee nach ihrem Fluch nicht mehr im Märchen gesehen wurde, so wird eines Tages Merkel entrücken und alle werden annehmen, dass diese postdemokratische Dornenhecke, die sie uns als Wunder der Gartenkunst zurückgelassen hat, immer schon da war. Ob irgendwann ein Prinz kommt, der den Hofstaat wachküsst, bleibt abzuwarten.


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Keine Pflicht zum Ungehorsam gegen den Überwachungsstaat?

Donnerstag, 19. September 2013

Empörte Gemüter weisen den Vergleich von Prism mit der Überwachung im Sozialismus zurück und verurteilen ihn, da die sozialistische Überwachung aus Ihrer Sicht singulär gewesen sei. Für sie ist die hiesige Überwachung in Ordnung, weil gesetzlich. Doch dieser Vergleich hinkt.

Als Kunde von Vodafone habe ich mich letzte Woche geärgert. Hat also ein Hacker nun allerhand Daten von mir aus dem Vodafone-Bestand abgegriffen. Nach einem Tag war mein Ärger zwar nicht verflogen, aber ich fragte mich, was der Hacker eigentlich anderes gemacht hat, als westliche Geheimdienste es tun. Die Antwort: Fast nichts. Er hat nur einen markanten Punkt beim Datensatzraub vergessen. Er kann sich nicht auf Gesetze berufen, die ihm den Diebstahl gestatten.

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Rot-Grün in Ohnmacht

Mittwoch, 18. September 2013

Eine rot-grüne Chronik in den klassischen Farben schwarz und gelb.

Zwei Lesebändchen hat sich der Verlag als Gag ausgedacht. Eines in Rot und eines in Grün. Das rote Bändchen war passend schon nach wenigen Tagen aufgedröselt. Das grüne hielt etwas länger. Das drängte sich mir als Metapher auf.

Quelle: Verlag C.H.Beck
Edgar Wolfrum legt eine Chronik jener denkwürdigen Schröder/Fischer-Jahre vor, die kaum ausführlicher ausfallen konnte. Er erzählt dabei eine Geschichte vom Scheitern und Getriebensein, von Eitelkeit und Selbstverblendung, von einer Regierung, die sich in weiten Teilen von der konservativen Opposition und ihrer schreibenden Zunft anleiten ließ. Und er erzählt, wie sich das Rote in jener denkwürdigen Koalition stärker abnutzte als das Grüne. Wie bei den beiden Lesebändchen. Vom Geflecht blieben nur einige lose Fäden. Vom "linken Projekt" nur wenige Fasern - das ist sie, die am Buchblock befestige Metapher aus Stoff.

Mit welchem Elan ging diese Gesellschaft den Wechsel nach Jahren schwarz-gelber Agonie an. Endlich sollte der Mief gelüftet werden und das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft gestärkt hervorgehen. Der Neoliberalismus griff bereits um sich und die Sozialdemokratie sollte ihn an die kurze Leine nehmen. Heute wissen wir mehr.

Wolfrum zeichnet die Regierungszeit Schröders unter anderem als eine Ära des Getriebenseins. Und das ist sicherlich nicht ganz falsch. Weder freute sich die rot-grüne Koalition über Bundeswehreinsätze im Ausland, die aber von den Bündnispartnern erwartet wurden. Noch hat sie den 11. September 2001 eingeplant, der dann die Sicherheits-, Außen- und Innenpolitik beeinflusste. Zur Agenda 2010 wurde sie von der Weltuntergangsstimmung der Medien gepeitscht. Manchmal klingt das bei Wolfrum wie eine Entschuldigung. Aber immerhin er läßt stets ein breites Stimmungsbild entstehen, indem er Befürworter und Kritiker zitiert.

Etwas mehr Courage und Chuzpe hätte den Sozialdemokraten und Grünen im Strudel der Weltenläufte gutgetan. Die Verweigerung am Irak-Einsatz war so eine Haltung. Auch wenn man nachher erfuhr, dass Deutschland trotzdem zur passiven Hilfe herangezogen wurde, muss man doch attestieren, dass das damalige Nein Schröders mutig war. Mehr solcher Nein gegen auferlegte Zwänge hätte man sich gewünscht. Vielleicht hätte dann die fortschreitende Neoliberalisierung verhindert werden können.

So aber wurde aus Rot-Grün eine Zeit der Enttäuschung. Wolfrum schreibt aber auch, dass es eine Wendezeit war. Es zog anfangs ein liberaleres Klima in der Bundesrepublik herauf. Geschlechterpolitisch regte sich etwas. Und die geschichtliche Aufarbeitung Deutschlands wurde betrieben wie nie zuvor. Entschädigungen an Zwangsarbeiter ausgezahlt und die historische Verantwortung betont. Allerdings so exzessiv, dass Deutschland fast wie der zwar gedemütigte, aber doch moralische Sieger des Weltkrieges aussah. Schröder stand ja auch neben den Staatschefs der Siegermächte, die eine Militärparade zum Festtag des Sieges in Moskau abnahmen. Fischer ließ sich gar zum Ausspruch "Nie wieder Auschwitz!" hinreißen, um den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo ethisch zu legitimieren.

Das rot-grüne Projekt hätte etwas werden können. Vielleicht hat man nach dem Kohl nicht gleich Filet erwartet, aber doch etwas Genießbareres. Peu a peu brachen dann unter Rot-Grün frostige Zeiten an. Der soziale Winter wurde als nachhaltigste Errungenschaft jener Ära installiert. Die Agenda 2010 als großer Wurf verkauft und Millionen Menschen in die Aussichtslosigkeit eines teils zentralisierten, teils dezentralisierten Verwaltungsapparates geschmissen. Das Menschen- und Gesellschaftsbild des Neoliberalismus zog in die Sozialgesetzgebung ein. Man verwaltete nicht mehr Arbeitslose oder Arbeitsunfähige, man hatte es urplötzlich mit Schmarotzern, Betrügern und Schwindlern zu tun.

Wolfrum bemüht häufig die Sichtweise der neoliberalen Wahrnehmung, des ökonomisch angebotsorientierten Mainstream. So unterstellt er der Schröder-Regierung zum Beispiel, dass sie aus Gründen des demographischen Drucks reagieren musste, die Riester-Rente lediglich ein Produkt dieses Sachzwangs war, dass es quasi keine Alternativen hierzu gab. Es stimmt zwar, dass die Regierung so handelte, beleuchtet aber nicht die demographischen Fakten, die viel zu oft aus neoliberalen Think Tanks stammten. So ist das bei Rot-Grün an der Macht häufig. Überalterung und zu hohe Lohn- plus Nebenkosten, Globalisierung und unbezahlbarer Sozialstaat: Die ewigen Formeln des Mainstreams hinterfragt Wolfrum leider zu selten.

Manchmal drängte sich deshalb beim Lesen der Eindruck auf, als habe der Autor sein Buch falsch betitelt. Statt Rot Grün an der Macht wäre Rot-Grün in Ohnmacht trefflicher gewesen. Die sieben Jahre an der Macht scheinen nach dieser Lesart eine Ära der Ohnmachtsimpulse gewesen zu sein. Man reagierte nur, agierte defensiv, ließ sich Debatten, Reformen und Handlungsweisen aufzwingen.

Diese stilisierte Ohnmacht dient so als gewisse Entlastung. Rot-Grün war folglich eine getriebene Regierung. Und keine durchtriebene. Viel zu viele Felder seien nach Wolfrum durch Sachzwänge so beeinträchtigt gewesen, dass man kaum Handlungsspielraum hatte. Wirtschaftliche Interessen und teils aufgebauschte Wasserstandmeldungen machten Politik. Man hat sich viel zu leicht unterbuttern lassen. Er bringt das zu oft als Entschuldigung vor und nicht als Vorwurf.

Trotzdem ist Rot-Grün an der Macht schon jetzt als Standardwerk jener Jahre einzuordnen. Es erfasst den Zeitgeist und die Denkmodelle dieser seltsamen Zeit der Jahrtausendwende - und es skizziert die oft naive, manchmal allerdings auch dreiste Herangehensweise von Sozialdemokraten und Grünen, die ihr Menschenbild gründlich revidiert und es fast in Konservative umgeschult hatten. Rot-Grün an der Macht ist eine reichhaltige Chronik. Es ist die lesenswerte Geschichte vom Niedergang einer volksparteilichen Linken. Dieser Niedergang ist letztlich das nachhaltigste Erbe dieses "linken Projektes".

Rot-Grün an der Macht von Edgar Wolfrum ist im Verlag C.H. Beck erschienen.


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Der Gänswürger, der Kneißl und die CSU

Dienstag, 17. September 2013

Der irrationale Respekt der Bayern gegenüber Spitzbuben.

Als Bayer in der Ferne muss ich mal etwas zur Ehrenrettung von Land und Leute sagen: Die Leute sind dort wesentlich liberaler und lockerer, als es dieses Wahlergebnis vom Sonntag dokumentiert. Diese Affinität zu den Christsozialen ist eines der ganz großen Rätsel dieses Landstrichs.

Ich will nicht sagen, dass die Bayern grundsätzlich aufgeschlossene und weltoffene Leute wären. Ihnen hängt zum Beispiel ganz zurecht der Makel der Fremdenfeindlichkeit an - die wird aber im gepflegten Egalitarismus betrieben. Ob nun Holsteiner oder Syrer, Berliner oder Mexikaner: Der Bayer ist bei allen gleich skeptisch; Xenophobie ist dort gegen jeden gerichtet, der nicht aus Bayern ist. Lieber ist ihm letzlich ein gemütlicher Türke als irgendein Besserwessi. Und es heißt dort nicht umsonst manchmal: Saupreiß türkischa.

Es gibt ein anders Bayern: In Bayern gab es eine kurze Weile eine Räterepublik. Sie fiel dort auf fruchtbaren Boden. München war das liberale Pflaster der Bohème. Marieluise Fleißer stellte sich gegen ihre und meine Heimatstadt. In den Metropolen regieren heute noch eher Sozialdemokraten als Konservative. Es gab und gibt dort ein linkes Spektrum. Da sind Hans Söllner und natürlich Konstantin Wecker und dieser stetige bayerische Hang zur dezenten Anarchie, zur skeptischen Haltung gegenüber Macht. Mir fällt auch noch Gerhard Polt ein und die Biermösl Blosn und Carl Amery. Alles bestimmt keine bekennenden Linken, aber doch liberal, humanistisch und kritisch und sicherlich nicht der "Staatspartei" zugeneigt. Und noch eine Frage: Woher kommen Pelzig und Priol?

Und klar, dann gibt es die andere Seite. Während Erich Mühsam in München seine Rote Hilfe organisierte, predigte bereits ein gewisser Adolf Hitler in Bierkellern. Die Nationalsozialisten nannten München gar die Hauptstadt der Bewegung. Auch das war und ist Bayern.

Es ist nicht so, wie sich das manche vielleicht vorstellen, dass man den Menschen in Bayern diesen Stockkonservatismus anmerkt, den man ihnen nachsagt. Die Menschen dort sind meist so, wie sich Linke freundliche Leute vorstellen: Locker, humorvoll, extrovertiert und hilfsbereit. Ich will nicht schwelgen. Ich habe so viele Arschlöcher auch in Bayern kennengelernt. Aber die gibt es überall. Was ich sagen will ist nur, dass man die Bayern jetzt nicht in moralische Sippenhaft nehmen kann, bloß weil knapp 30 Prozent aller Wähler dieser Bande von PR-Trachtlern ihre Stimme gegeben haben.

Im bayerischen Gemüt gibt es eine Veranlagung für liberalen Geist, für linke Positionen und alternative Wege. Warum das alles nicht abgerufen, warum immer wieder dieser parteipolitische Flügel der bayerischen Wirtschaft gewählt wird, ist fast unerklärlich und kommt der Gemütslage vieler Bayern überhaupt nicht nahe. Man verwechsle bitte nicht die CSU mit den Menschen in Bayern. Man falle nicht auf dieses geschickte Spiel der Christsozialen herein, die gerne behaupten, sie spiegeln das Bayerische wider. Klar doch, Bayern ist auch muffig, spießig und bigott. Alles, was die CSU ist. Aber das ist doch nicht ganz Bayern.

Und noch ein Einschub: Nicht alle Kommunalpolitiker der CSU sind verfilzte Handlanger der Korruption. Manche sind auch Kümmerer und behandeln die Bürger fair. Ich habe so oft von krassen und weniger offensichtlichen ausländerfeindlichen Normen erzählt, die ich in meiner Kindheit und Jugend erlebte. Es gab auch Lichtblicke. Ausgerechnet auch von CSU-Leuten. Mein Vater musste viele Jahre mehr Miete für eine Sozialwohnung bezahlen als seine deutschen Nachbarn. Das war für den Vermieter - eine gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft - eine Art Rückversicherung. Der Spanier hätte ja auf die Idee kommen können, einfach aus Deutschland abzuhauen. Meine Mutter schrieb dann irgendwann einen langen Brief an den CSU-Bürgermeister, thematisierte diese Diskriminierung und bekam Antwort und Hilfe: Die Zuschläge wurden künftig nicht mehr erhoben und die bisherigen Zahlungen erhielt mein Vater zurück. Es sind längst nicht alle in diesem Verein ignorante Idioten.

Die Stimmen zur Landtagswahl in Bayern ärgern mich. Sie sind versucht, Bayern als schrecklich rückschrittliches Bundesland hinzustellen. Als Hort des weiß-blauen Egoismus. Seehofer ist nicht der Prototyp eines Bayern. Strauß war es auch nicht. Und kaum jemand stammelte je wie Stoiber. Natürlich brüskiert dieses Mia san mia die Menschen in Deutschland. Die Frage ist natürlich, was man damit verbindet. Wie die CSU den Länderfinanzausgleich als anti-bayerisches Teufelswerk? Oder ist es eher als kultureller Patriotismus zu verstehen?

Ich würde als jemand, der fast sein ganzes Leben in Bayern verbrachte, gerne erklären können, warum ausgerechnet diese reaktionäre CSU solche Ergebnisse einfährt. Warum sie immer wieder die Regierung spielen darf. Ich kann nicht. Oder sagen wir: Ich kann es nur versuchen.

Das Wahlverhalten und die Alltagserfahrung sind in Bayern nicht deckungsgleich. Womöglich hält man dieses Prinzip des Eine-Hand-wäscht-die-andere, vulgo Korruption genannt, nicht für besonders schlimm. Man könnte ja auch selbst davon profitieren. Da wäre es ja blöd, wenn man jetzt gegen den Filz ist. Jemand der dreiste Geschäfte macht, der betrügt und hintergeht, über den sagt man im anerkennenden Ton schon mal: A Hund is a scho. Bedeutet: Diese Frechheit hat Courage. So sprach man über Strauß. Jeder hat gewusst, was das für einer war. Aber man hatte seine Finten als Chuzpe anerkannt und ihn einfach machen lassen.

Insofern wäre die Wieder- und Immer-wieder-Wahl der CSU der bayerischen Abneigung für von oben verordnete Regeln und Gesetze zu verdanken. Es ist ja in Bayern kein Skandal, wenn man sich nicht an Gesetze hält, sondern wird als ein Akt der Courage betrachtet.

Da gibt es Reminiszenzen: Man gedenkt heute noch liebevoll dem Donaumoosräuber Gänswürger oder dem Raubmörder Kneißl. Sie gelten als wackere Burschen, die sich gegen die Regierung, den König und den Staat gestellt und "ihr Glück in die eigene Hand genommen hatten". Das ist wahrlich eine kuriose Romantik in der bayerischen Volksseele. Denn es ist ja nicht so wie andernorts, wo man diversen Räubern eine Aura der Anständigkeit (Stichwort: Robin Hood) verliehen hat. Nein, man weiß ganz gut, dass diese Kerle gnadenlose Schänder und eiskalte Mörder waren. Trotzdem schwingt da immer das Stereotyp vom Outlaw, vom Rebell gegen die Obrigkeit mit, von jemanden, der seinen Weg gegen alle Widerstände ging. Das bayerische Gemüt bewundert skurrilerweise genau solche Typen besonders, wenn sie sich gegen die Legalität gestellt hatten. Wenn sich einer gegen den Massengeschmack oder den Zeitgeist stellt, bewundert man ihn nicht, sondern hält ihn für einen unappetitlichen Typen.

Das könnte man einen bürgerlich-radikale Anarchismus gegen die Machthaber nennen. Eine Haltung, die in der bayerischen Mentalität, zwischen Sturheit und Stolz mäandernd, verankert scheint. Ein Reflex, der auf die CSU angewandt natürlich nicht mehr gilt, denn sie bietet Amigo-Dienste nicht gegen die Obrigkeit an - sie ist selbst die Obrigkeit. Den Kneißl- oder Gänswürger-Effekt hält man nur aufrecht, indem man eine Art Bavarian Angst entfacht, nach der die CSU nicht mehr Obrigkeit, sondern eine am Rande der Legalität arbeitende Bande gegen die Übergriffe aus Berlin ist.

Das ist sicherlich keine zufriedenstellende und schon gar keine ausführliche Erklärung. Das ist mir bewusst. Aber es ist ein Versuch. Dieser irrationale Respekt vieler Bayern vor den Spitzbuben, die Anerkennung ihres Treibens als Leistung, nicht als etwas, was zu es zu bestrafen gilt, macht die Christsozialen zur ewigen Option. Je mehr die auf dem Kerbholz haben und je raffinierter die Schliche, desto eher werden sie gewählt. Hund sans scho, de Leit von da CSU. Wenn die mal anständig werden, dann schaut die Sache anders aus. Anstand wird natürlich auch in Bayern geschätzt: Wenn man ein Nichts ist - oder nur wenig darstellt. Aber als jemand, der in der Öffentlichkeit steht, sollte man schon etwas auf dem Kerbholz haben, um als Mannsbild von Schrot und Korn angesehen zu werden. Sonst gilt man als langweilig und ist unwählbar. Und auch hier ist wichtig: Frauengeschichten und Drogen gelten nicht als Skandale. Es müssen schon materielle Schnippchen sein. Geldbörsen wie beim Kneissl oder Schmuck wie beim Gänswürger. Die Bevorteilung von Unternehmen von Freunden und Bekannten, wie es bei der CSU Usus ist, ist die Fortführung dieser Schandtaten - mit demselben Effekt bei der Bevölkerung.

Wer auf sich und seine Leute schaut, und sei es mittels halbseidenen Aktionen, der erhält Lob, den klopft man auf die Schulter. Dass die Allgemeinheit von solchen Aktionen nichts hat, bei denen ein Minister seinem Vetter einen Auftrag der öffentlichen Hand zuschustert, wird dabei einfach übersehen. Es ist fast ein bisschen so wie bei Dagobert, als der mit allerlei Tricks und unverfrorenen Witz sein Lösegeld forderte. Die RAF hatte eine Weile denselben Rückhalt. Erst war es ja nur herrlich ungezogen, was die Leute da taten. Nachher wurde es erst mörderisch. Bei Dagobert regten sich einige Zeitgenossen tierisch auf, dass die Menschen auf seiner Seite standen. Schließlich sei er ein Krimineller. Diese Haltung ist in Bayern Dauerzustand.

Trotz allem: Bayern ist nicht die CSU. 70 Prozent aller wahlberechtigten Bayerinnen und Bayern haben die CSU nicht gewählt. Das muss man auch mal hervorheben. Von Staatspartei kann also keine Rede sein.


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Das Wahlergebnis hinter dem Wahlergebnis

Montag, 16. September 2013

Bei der Landtagswahl in Bayern, wählten...
  • ... 36,1 Prozent aller Wahlberechtigten gar nicht.
  • ... 29,9 Prozent aller Wahlberechtigten die CSU.
  • ... 13,0 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD.
  • ... 5,6 Prozent aller Wahlberechtigten die Freien Wähler.
  • ... 5,4 Prozent aller Wahlberechtigten die Grünen.
  • ... 2,1 Prozent aller Wahlberechtigten die FDP.
  • ... 1,3 Prozent aller Wahlberechtigten Die Linke.
Die absolute Mehrheit der Christsozialen ergibt sich aus dem Stimmen von weniger als einem Drittel aller Wahlberechtigten. Der in Seehofers Eigenlobrede gefallene Satz, dass jeder zweite Bayer die CSU gewählt habe, stimmt damit nicht. Es war nicht mal jeder dritte Bayer. Die sich selbst als im Aufwind fühlende SPD feiert nach 2008 und 2003 das drittschlechteste Ergebnis bei einer bayerischen Landtagswahl seit 1946.

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Karlsruhe is ned Bayern

Protokoll darüber, was Seehofern seinen Spezln gegen 18:34 Uhr noch gesagt haben könnte.

Liebe Freunde, wir können stolz sein: Die Wahl ist gewonnen! Und wir haben sogar noch zugelegt.
[Langer Beifall] 
Und wenn ich so frei sprechen darf, dieser Sieg ist weit mehr als nur ein Sieg. Denn er hat uns bewiesen: Die Demokratie ist in Bayern intakt.
[Beifall und Jubel]
Demokratie hat unsere Partei immer so definiert: Eine geistig überlegene Gruppe - überhebliche Zungen würden sagen: eine Avantgarde - leitet die Geschicke für den Rest. Demokratie war für uns nie, dass diese Gruppe um ihre Posten fürchten muss, bloß weil sie Dinge getan oder ignoriert hat, die die Masse für unangebracht hält. Das ist nicht das Wesen der Demokratie, das ist Populismus. Etwas, das die Medien gerne mit Demokratie verwechseln.
[Buh-Rufe - Zuruf: Scheiß-Presse!]

Liebe Freunde, unser bayerisches Demokratieverständnis ist einzigartig. Die Bayerinnen und Bayern sind nach so vielen Jahren CSU-Regierung geistig so vorangeschritten, unsere Bemühungen nicht gleich abzustrafen, nur weil wir hin und wieder mal etwas getan haben (oder nicht), was das Schandmaul namens Volksmund als "Scheiße bauen" bezeichnen würde.
[Gelächter]

Wir haben es geschafft, dass wir in unserem Freitstaat auch mal jemanden wegsperren können, der uns lästig wurde, ohne gleich beim Wahlgang abgestraft zu werden.
[Beifall]
Das ist insofern ein grandioser Sieg, weil selbst Karlsruhe bestätigte, dass dieser Freiheitsentzug verfassungswidrig war. Aber, liebe Freunde, wir wissen ja: Karlsruhe is ned in Bayern.
[Stürmischer Beifall und Gelächter]
Wir haben diesen Mann lange Jahre eingesperrt gehalten, wussten - oder sagen wir: ahnten - schon länger davon, dass er nicht eingesperrt gehört und haben trotzdem nichts unternommen. Aussitzen und sich dumm stellen. Und? Hat es uns etwa geschadet?
[Gelächter - Zuruf: Mia san mia!]

Hat es nicht! Und warum nicht, liebe Freunde? Weil die Demokratie die beste aller Regierungsformen ist, wenn ein Volk mündig genug ist zu erkennen, sich nicht zu viele unnötige Gedanken zu machen. Dafür sind ja wir da.
[Beifall]
Das voreilige Händereiben der Sozialdemokraten ist ein Relikt aus grauen Tagen, da die Demokratie noch ungefestigt war. Uns zieht nichts so schnell aus dem Sattel.
[Beifall]
Bei uns herrscht Mündigkeit und daher die CSU. Der mündige Bürger nimmt Ungereimtheiten zwar wahr, wählt aber trotzdem wie eh und je. Linke nennen das Abstumpfung.
[Buh-Rufe]
Ist es aber nicht! Wir wissen das! Das ist der Reifegrad der demokratischen Kultur. Man muss auch mal aushalten können. Als Gesellschaft Missstände aushalten können. Als Partei Vorwürfe aushalten können. Ein Weggesperrter macht uns doch nicht gleich regierungsunfähig.
[Zuruf: Gerade deshalb sind wir regierungsfähig!]

Natürlich haben wir schon seit vielen Jahren mit dämlichen Vorwürfen zu kämpfen. Wir würden nur eine Politik umsetzen, die unseren Freunden in der Wirtschaft dient und die nicht immer ganz transparent ist. Amigos haben sie uns genannt.
[Buh-Rufe]
Diese kleinkarierten Romantiker. Aber, liebe Freunde, Politik für Unternehmen kann nicht hinausposaunt werden. Das Unternehmertum lebt doch davon, dass es sein Herz nicht auf der Zunge trägt. So macht man Geschäfte. Leise und zurückhaltend.
[Zuruf: Die Romantiker gehören auch in die Psychiatrie]
Hat uns diese Verschleierung, diese Klientelpolitik und Wirtschaftsnähe etwa geschadet? Schaut euch die Wahlergebnisse des heutigen Abends an und beantwortet euch die Frage selbst.
[Tosender Beifall]

Wir können es uns mittlerweile leisten, Leute nach Berlin zu schicken, die in schlechteren Tagen als Persilschein für eine Abwahl gegolten hätten. Wären unsere Bürgerinnen und Bürger nicht so reif, hätte mancher unserer Leute uns beträchtlich schaden können. Wären sie nur ein wenig kleinlicher, hätten sie uns Guttenberg verübelt. Wären sie nur populistisch beeinflussbarer, sie hätten die Prism-Herunterspielungen von Friedrich als Indikator für eine Abstrafung an der Urne benutzt. Wir sind so weit, dass man uns sogar solche Typen vergibt.
[Vereinzelt Gelächter]

Unser Meisterstück war aber der Mollath. Ich habe in meinem Umfeld gehört, wie sich einige die Hände gerieben und gesagt haben, dass die CSU jetzt mausetot ist, weil nennenswerte Partei- und Regierungsmitglieder über diesen Fall im Bilde waren und den Mann trotzdem in der Anstalt hielten. Dreißig Prozent und weniger!, unkten sie. Zeitenwende und endlich Sozialdemokratie in Bayern!, sagten sie mir auf den Kopf zu.
[Gelächter - Zuruf: Idioten]
Ja, Liebe Leute, seht doch mal ein, dass wir nun die Ernte für unsere gute Bildungspolitik in unserem Bundesland einfahren. Gebildete Bürgerinnen und Bürger lassen sich halt nicht von solchen Lappalien beeindrucken, sie wählen uns trotzdem.
[Beifall]
Würde man die Bürger mit Mollath konfrontieren, würden sie sagen, dass es dieser Besserwisser und Miesepeter nicht besser verdient hat. Demokratie bedeutet auch, sich als Wähler nicht zu sehr vom Elend einzelner Menschen beeindrucken zu lassen.
[Zuruf: Wir sind die Demokratie]

Richtig. Aber Demokratie, liebe Freunde, ist für dieses Romantikerpack Teilhabe und Mitsprache, Wahlrecht und Optionen. Nebensachen letztlich. Die Abwahl sei angeblich der Normalzustand der Demokratie, sagen diese Leute arrogant. Nur wo es Abwahl gibt, meinen manche Politologen, da lebe auch der demokratische Geist. So ein Unsinn!
[Gelächter - Zuruf: Wer sagt denn sowas - Zuruf: Linker Quatsch]
Demokratie ist für uns: Mia san mia - und ned den andan!
[Lauter Beifall]
Unter uns, liebe Freunde: Demokratie ist, wenn wir bescheissen, hinterziehen, vernebeln, vertuschen, unschuldig wegsperren, schuldig freilassen, mauscheln, privilegieren oder benachteiligen (je nach Zielgruppe), korrumpieren und geldwert einschieben können, ohne gleich kleinlich um unsere Wiederwahl fürchten zu müssen.
[Stürmischer Beifall]
In diesem Sinne: O'zapft is. Wieder mal.
[Minutenlanger Beifall]


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Der transzendente Mittelfinger

Samstag, 14. September 2013

Stinkefinger. Die Kanzlerin hat uns einen gezeigt. Erst neulich. Ich habe es beinahe ganz genau gesehen. Wir wollten Stellungnahme zu Prism und der NSA. Und sie zeigte uns lediglich den Mittelfinger.

Sie zeigt ihn nicht, sie tritt
wie einer auf.
Hast du den Steinbrück gesehen?, fragte mich gestern ein Kollege. Hat der doch tatsächlich in dieser Wahlarena einem Zuschauer nen Stinkefinger gezeigt. Er brachte was durcheinander. Ah ja?, fragte ich zurück. Wird der Empfänger schon gebraucht haben. Oder auch nicht. In der Stimme meines Kollegen schwang Entrüstung mit, konnte man die für ihn jetzt zur Selbstkenntnis gewordene Unwählbarkeit Steinbrücks nach diesem Fingerspiel heraushören. Das mache man nicht. Es sei nämlich unanständig. Dass er eigentlich dauernd einen Stinkefinger von der politischen Kaste gezeigt bekommt, scheint ihn nicht weiter zu tangieren. Merkel zeigt doch dauernd so einen Finger, sagte ich ihm. Also metaphorisch. Er fragte mich, was das jetzt mit griechischem Schnaps zu tun habe. Tja, auch er hat ein Wahlrecht.

Natürlich war es unanständig. Nicht der Stinkefinger. Die gesamte Collage. Es war unanständig, dass sich Steinbrück zum stümperhaften Marcel Marceau gemacht hat, zum pantomimischen Einfaltspinsel, der sein Image mit Abzügen wie aus einer Commedia dell'arte aufwerten wollte. Es kommt einer Unanständigkeit gleich, dass er glotzt, grinst, sich das Hemd aufreißt, posiert wie so ein kamerageiles Flittchen im RTL-Begleitheft von The Bachelor. Hat er das nötig? Oder genereller und entpersonalisiert gefragt: Hat man das heute als Politiker im Wahlkampf nötig? Muss man mit stummfilmischen Mimiken und Gestiken punkten? Ist das hip?

Das ist die Unanständigkeit einer Klatschpresse-Gesellschaft. Eine andere Unanständigkeit ist die, von der politischen Verantwortung dauernd den Stinkefinger gezeigt zu bekommen, ohne ihn hierbei eigentlich direkt zu sehen. Das ist beliebtes Verhalten von Politikern. Zuletzt bei Prism. Merkels Gestammel und Herausgerede war als Stinkefinger an all jene gerichtet, die sich Aufklärung erhofften. Diese Eigenart, dem Sujet so aus dem Wege zu gehen, das ist das ganz geschickte Ihr-könnt-mich-mal! politischer Verantwortung.

Nur über diese Unmengen an Stinkefinger, die man uns täglich zeigt, wenn man Erklärungen und Aufklärungen haben möchte, regt sich kaum jemand auf. Man glaubt nur an das, was man sieht. Und Steinbrücks Finger ist überdeutlich. Merkels Mittelfinger schwebt nur als immaterielle Botschaft im Raum. Ist sinnlich nicht wahrnehmbar, ist ausschließlich transzendent. Es ist, als sei sie selbst hierzu zu lethargisch, als sei sie zu phlegmatisch, um das Ding auszustrecken. Ihre Lehensmänner deuten diese Bewegungsmüdigkeit dann als gute Kinderstube. Das ändert aber nichts daran, dass sie wie Steinbrück seinen Namensverunglimpfern, die Bürger immer wieder mit ihrem Ihr-könnt-mich-mal! oder ihrem Fickt-euch-doch! konfrontiert.


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Der Kerl, der es kann, weil er noch kann

Freitag, 13. September 2013

Besonders ekelhaft ist dieses Plakat, auf dem der hessische Ministerpräsident mit einer Liese kuschelt. Seine Liese? Keine Ahnung. Aber wahrscheinlich. Praktikantinnen sind eher selten auf Plakaten. Die hält man sich geheim unterm Schreibtisch. Wer so wirbt, muss ein armes Würstel sein. Was soll das bitte bedeuten? Dass der Typ noch Potenz im Schlauch hat? Ist die Liese vielleicht sowas wie der "Phallus auf sittliche Weise"? Das jugendfreie Symbol für Kraft und Fruchtbarkeit? Der Besorger und Fürsorger? Oder sollen wir uns, sofern sie seine Gattin ist, ein Beispiel an ihr nehmen? Immerhin hat sie den Kerl ja schon mal ausgewählt. Sollen wir es ihr gleichtun und auch Ja zu ihm sagen?

Natürlich gebraucht auch er kein Verb. Kennen wir ja. Welches sollte das auch sein? Kuscheln? Küssen? Kopulieren?

Die völlige Entleerung der Wahlkampfpraxis soll 1998 begonnen haben. Unter Politologen und PR-Fachleuten gilt jener damalige SPD-Wahlkampf als erster moderner seiner Art in der Bundesrepublik. "Innovation und Gerechtigkeit" stand überall geschrieben. Konkret war da nichts. Es war nur die auf Pappe gebannte ästhetische Untermalung einer gärenden Wechselstimmung im Lande. Womöglich hätte man in jenen Jahren der Spaßgesellschaft sogar mit dem Currywurst-Plakat, das die nordrhein-westfälische SPD Jahre später aufstellen sollte, die Wahl für sich entschieden.

Wahlkampf auf der Straße war nie geprägt von der Dominanz politischer Inhalte. Es wurde immer vergröbert, geschliffen und zum Zwecke des leichten Verstehens simplifiziert. Aber so grob missachtet wurden Inhalte zuvor kaum. Natürlich ging es vor 1998 auch stets um Gesichter und um eingängige Parolen. Dahinter steckte dann aber doch manchmal mehr.

Selbstverständlich war Brandt als Name auch schon fast eine Inhaltsangabe. Aber eben nicht ausschließlich. Der Mann war ja wirklich eine Alternative zum revisionistischen Politikbetrieb jener Tage. Auch auf den Plakaten von damals stand nicht das ganze Konzept. Und trotzdem wussten die Wähler, was sie mit Brandt erwarten würde. Die Plakate damals sollten auf den Geschmack bringen - heute sind sie nur geschmacklos. Und das, obgleich das Prinzip immer ähnlich war: Ein Kopf, ein Name, eine Parole.

Heute haben wir es jedoch mit reinem Personenkult und die allzeitige Bereitschaft zu tun, ständig Parolen zu repetieren, die völlig unbeleuchtet bleiben. Modern würde man sagen, dass die Wahlkampfparolen früherer Tage eine Art Teaser waren, die mehr bargen. Heute sind sie schon der ganze Text. Und oft nicht mal das.

In einem derart intellektuell verkümmerten Biotop ist es ganz normal, dass man sich mit seiner Frau ablichten läßt, um damit Werbung zu machen. Als sei es irgendwie aussagekräftig, dass da ein Kerl ein Frauenzimmer länger an sich binden konnte. Das soll wohl ein Zeichen von charakterlicher Stärke suggerieren, von Eignung für dieses Amt. Als sei die (eheliche?) Partnerschaft etwas, was den Kandidaten adelt oder prädestiniert. Er drängt sich ja schließlich in die Rolle des Ernährers und Versorgers. Und des Besorgers. Ein toller Hecht in allen Nischen. Und das kommt an.

Insofern trifft der vorher genannte "Phallus auf sittliche Weise" durchaus zu. Denn auf diese Potenz als Mann und Partner kommt es an, wenn man seine Frau mit auf das Werbeplakat zerrt. Der Inhalt seiner Botschaft ist der, dass er es kann, weil er noch kann. Er spielt mit allgemeinen Vorstellungen, spricht unbewusste Reflexe in der Masse an. Der Häkeldeckchen-Konservatismus verbindet mit Ehepartnern Konstanz, Sicherheit und Verantwortungsgefühl.

Meiner Großmutter waren Schröder und Fischer Dornen in ihren Augen, weil beide schon mehrfach verheiratet waren und nie bei einer Frau bleiben wollten. Jauch ärgerte sie, weil er seine Tante ewig nicht ehelichte. Ehe, eine nachhaltige Ehe, war für sie stets ein Gütesiegel. Mit der Ehe verbindet noch heute ein großer Teil der Gesellschaft nur Gutes. Jugendfrei nur Gutes. Dahinter gibt es jedoch die Metaebene, die fragt, was das Gute begründet. Und da landen wir zwangsläufig bei strotzenden Phalli, bei antiken Skulpturen mit steifen Schwanz, bei symbolischen Ausdrücken von Kraft und Ausdauer, von Fruchtbarkeit und Glück. Alles, was in patriarchalischen Bildern von glücklichen Eheleuten latent mitschwingt.

Wer allerdings als Politiker sonst nichts an inhaltlicher Ausrichtung hat, muss schon ein ganz armer Kerl sein. Was wäre er denn ohne seine Frau? Nicht mal als Ministerpräsident wählbar ...


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Der flatterhafte Präsident

Donnerstag, 12. September 2013

Mittwochs umarmte er noch einen Überlebenden aus Oradour-sur-Glane und fungierte als Botschafter des friedlichen Deutschlands. Freitags wünschte er sich eine angemessene Antwort für Syrien. Dahinter steckt mehr als einfach nur eine wechselhafte Woche im Amt des Bundespräsidenten.

Er sprach von Versöhnung und bedankte sich dafür, dass die Franzosen den Deutschen vergeben haben. Als er einen Überlebenden des SS-Gräuels kamerawirksam und symbolträchtig stützte, glaubte man darin den Geist des "Nie-wieder-Krieg!" herauslesen zu können. Bundespräsident Gauck erklärte, dass es ein völlig anderes Deutschland sei, das er repräsentieren dürfe. Dieses sei ein anderes als das Deutschland, welches in den Erinnerungen herumspukt. Der letzte Teil dieser Erklärung trifft natürlich völlig zu. Die Lehren aus Krieg und Gewalt hat er dennoch nicht so ganz gezogen.

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Es geht noch so wie früher

Mittwoch, 11. September 2013

oder Der Wahlkampf ist nur das beibehaltene Alltagsritual eines erkrankten Systems.

Wir erleben Wahlkampf so, wie
die Lädierte ihren Kegelabend.
Das was wir erleben ist doch kein Wahlkampf. Den Begriff habe ich natürlich in letzter Zeit auch schon mehrfach benutzt. Aus Mangel an Möglichkeiten. In Zeiten von "There is no alternative" ist manchmal selbst die Sprache alternativlos geworden. Ich sehe jedenfalls nur den uninspirierten und unmotivierten Abklatsch von etwas, das man nur im Anflug von Kühnheit als dem Wahlkampf artverwandt zuordnen würde.

Dort wo einst zeitlich und inhaltlich der Wahlkampf stand, formieren sich heute ausgehöhlte Traditionen. Manchmal nicht mal das. Oft ist es nur die plakative Peinlichkeit des Postengeschachers, die wir aus begrifflicher Verlegenheit "Wahlkampf" taufen. In ritualisierter Inbrunst bedruckt dieses System Pappe mit Gesichtern und Schlagwörtern, gibt phrasenhafte Interviews und vorgefasste Wortlaute vor. Man tut, was man immer tat. Nur ohne Seele.

Diese Attrappe, die aussehen soll wie ein Wahlkampf, ist der phlegmatische Versuch, postdemokratische Missstände hinter Normalität zu verkappen.

Schwerkranken Menschen rät die Schulpsychologie dringend, sich so viele Alltagsrituale wie nur möglich zu erhalten. Aus Gründen der Lebensqualität. So ist es auch im Falle dieses Systems, das wir aus alter Gewohnheit gerne noch Demokratie nennen, obgleich ihm immer häufiger Indizes abgehen, die auf eine Demokratie schließen lassen würden. Diesem System haben die Ärzte Rituale verordnet, um nicht an sein Siechtum erinnert zu werden.

Meist sind die erhaltenen Rituale des Alltags leider nur noch Fassade. Ein durch Krankheit körperlich beeinträchtigter Kegelbruder zum Beispiel geht zwar weiterhin zur Kegelrunde, sitzt dort aber nur noch am Tisch, pflegt die dortigen sozialen Kontakte so gut es geht. Ans Kegeln selbst ist dabei nicht mehr zu denken. Das ist freilich trotzdem wichtig, hat aber mit dem wöchentlichen Ritual des Kegelspielens freilich immer weniger zu tun.

Der Wahlkampf ist ein typisches, wenn auch unregelmäßiges Alltagsritual einer gesunden Demokratie. Da wird um Positionen und Alternativen gerungen. Man kennt Polemik und Übertreibung, will seine Inhalte vermitteln und aufzeigen, dass es anders und manchmal vielleicht sogar besser geht. Diesen Prozess nannte man irgendwann Wahlkampf, weil es einem Kampf der Positionen und Richtungen gleichkam, weil es ein argumentatives Ringen und Buhlen war. Was davon trifft beim postdemokratischen "Wahlkampf" noch zu?

Der öffentliche Diskurs greift trotzdem terminologisch auf "den Wahlkampf" zurück. Er ist die Pflege eines Alltagsrituals, das mal anders vollzogen werden konnte, als die Demokratie noch etwas gesünder dastand, als sie noch robuster war, weil nicht marktkonform therapiert. Der Begriff täuscht so, wie der kranke Kegelbruder sein Umfeld und sich selbst täuscht, wenn er sagt, er gehe heute Abend zum Kegeln. Tut er ja nicht. Aber so hat er doch immer dazu gesagt. Warum sollte er es jetzt ändern? Mit seinem Lebensrhythmus wenigstens sprachlich nicht brechen zu müssen, ist auch eine Möglichkeit, sich Lebensqualität einzuschenken.

Der aktuelle Wahlkampf gleicht der traurigen gebeugten Gestalt, die zu ihrem Sport geht, den sie aber nur noch beobachten kann. So tun als ob. Was psychologisch wertvoll für einen kranken Menschen sein kann, stellt für die an Morbus Hayek, am reaganomischen Fieber leidende Demokratie der Marktkonformität eine Gefahr dar. Sie macht sich vor etwas zu sein, was sie nicht mehr ist. Es geht noch so wie früher!, stellt sie fest. Sie redet sich ein, dass sie wenn schon nicht kerngesund, so doch wenigstens rüstig genug ist, um zu tun, was sie immer tat. Das verschleiert, wie schlecht es um sie bestellt ist.


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#Aufschrei der Dummheit

Dienstag, 10. September 2013

Aufklärung in Zeiten der Social Media
Quelle: Facebook
Nicht nur Occupy und Taksim sind Produkte so genannter Social Media. Auch die Befürworter der Todesstrafe zelebrieren dort Selbstbestätigung, moralisieren sich eine Argumentation herbei und stärken so ihre Weltanschauung. Die Todesstrafe mit so genannten Kinderschändern in Verbindung zu bringen, erfreut sich äußerster Beliebtheit. Man liket eindeutige Bilder, teilt Hinweise auf Justizskandale und lobt die Todesstrafe für Sexualdelikte in Ländern wie dem Iran. Die Sprache der Befürworter ist hierbei verroht. Der "Kinderschänder" wird entmenschlicht, man macht ihn zur Bestie und spricht ihm jegliches Anrecht ab, ein Mensch sein zu dürfen. Man spricht vom Schwein, das abgeschlachtet gehört und findet, dass selbst die Todesstrafe viel zu milde sei, weil sie nicht langsam tötete.

Beängstigend ist hierbei, dass es sich nicht um Neonazis handelt, die dieser Verrohung Vorschub leisten. Eine Facebook-Seite, die den phantasievollen Namen Todesstrafe für Kinderschänder trägt und das Banner in Schwarz-Rot-Gelb unterlegt, bemüht sich regelmäßig, ihre NPD-Ferne zu belegen. Daran muss man nicht unbedingt zweifeln. Diese Ansichten sind in der gesellschaftlichen Mitte in etwa so angekommen, wie der offene und ungenierte Rassismus. Man kann heute durchaus offiziös ein Bekenntnis zur Todesstrafe abgeben, ohne besonders scheel angesehen zu werden.

Auf den Pro-Todesstrafen-Seiten spricht man gerne von Gutmenschen, die Täterschutz betreiben würden, die Opfer alleine ließen. Das ist die viktimisierende Sprache von Menschen, die ihren persönlichen Drang zur Lynchjustiz mit rechtsstaatlichem Gefühl verwechseln. So fordert man nicht nur die Todesstrafe für etwaige Täter, sondern auch noch gleich einen Maulkorb für alle, die nicht für die Todesstrafe sind. Sie wollen nicht nur die moralischen Herren über Leben und Tod sein, sondern auch über das, was andere Mitmenschen für moralisch vertretbar halten dürfen und was nicht. Denn wer im Diensten einer guten Sache steht, der hat jedes Recht der Welt, der darf den physischen Tod einerseits und den intellektuellen Tod andererseits fordern.

Die #Aufschrei-Mentalität gebiert seltsame Blüten. Der #Aufschrei für die Todesstrafe macht das dramatisch deutlich. Facebook wird gerne als Medium der Freiheit gefeiert, weil sich darüber Demonstranten verabreden, Aktivisten austauschen und Aktionen wie Occupy organisieren. Leider trifft sich aber dort auch der Mob, der ungebildete Vollidiot (die Befürworter der Todesstrafe zitieren bei Facebook gerne aus der Bildzeitung) ist dort unter seinesgleichen. Man untermauert sich gegenseitig das hasserfüllte Weltbild, verargumentiert sich gegenseitig Standpunkte, die ja ohnehin vorher schon klar abgesteckt waren.


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Entlastung für die Heimatfront

Montag, 9. September 2013

Mann sollte die beabsichtigte amerikanische Intervention in Syrien als Beschäftigungsprogramm begreifen. Irgendwo und irgendwie müssen die Generationen junger Männer, die wenig mehr als die Lebensrealität in einer Kriegs- und Krisenregion ihren Erfahrungsschatz nennen dürfen, beschäftigt sein. Man braucht doch einen Katalysator für deren Know-How.

So gesehen ist die Absicht der US-Administration keine menschenrechtliche, sondern eine sozialhygienische. Jetzt, da der Krieg in Afghanistan peu a peu weniger Soldaten an sich bindet, wird es notwendig, neue Betätigungsfelder zu schaffen. Das Ghetto am Stadtrand nimmt auch nicht unbegrenzt Soziopathen auf. Und das amerikanische Gesundheitswesen mit seinen fachlich erstklassigen Psychiatern ist auf die High Society und auf zerstörte Ehen aus der gepflegten Vorstadt spezialisiert - und nicht auf paralysierte und schlafgestörte Ex-GIs, die sich Therapien nicht leisten können.

Insofern ist Obamas Vorhaben als eine Entlastung für Brooklyn und die Bronx, für alle Wohngegenden in denen Armut und Ausgrenzung herrscht, zu sehen. Eine Entlastung für diese Pufferzonen im Inneren der USA. Die nicht beliebig mit menschlichen Wracks abgefüllt werden können. Syrien ist die Entlastung der Heimatfront.

Das ist auch eine Lehre, die Old Europe, die Old Germany bereitet hat und die man nach Vietnam noch nicht berücksichtigte. In Deutschland hatte man einst nicht die Möglichkeit, die Generationen, die den Krieg als Normalzustand kennengelernt hatten, die direkt von der Schule in den Schützengraben gespuckt wurden, einfach in den nächsten Krieg zu schicken. Da haben diese kriegerischen jungen Leute zuerst ihre Gesellschaft von Innen terrorisiert und sich später selbst einen neuen Krieg ermöglicht.

Seit mehr als einer Dekade züchten sich die Vereinigten Staaten junge Leute heran, die zuhause nichts anderes als das Gefühl eines untergründigen Kriegsgrollens oder eben die Front weit weg von daheim kennen. Leute, die seit mehr als einem Jahrzehnt islamophobes Hurra-Geschrei geimpft bekommen. Die vermittelt bekamen, dass in den Ländern des Islam das Böse heimisch ist - und dass das Gute als GI dorthin geht. (Der bushianische Manichäismus wirkt noch nach.) Solche Leute integriert man nur schwer in den Frieden, den sie kaum kennen. Man kann auch nicht alle als Sheriff im Mittleren Westen oder als Security an der mexikanischen Grenze einsetzen. Und als Türsteher einer Disco sind sie unbrauchbar, weil sie jeden besoffenen Jugendlichen gleich als Selbstmordattentäter interpretieren.

Der Einsatz in Syrien ist eine innenpolitische Aktion. Um im Inneren Frieden zu haben, muss irgendwo Außen Krieg sein. Das haben die über den Rhein zurückströmenden Soldaten des Deutschen Heeres die Amerikaner gelehrt. Wer will schon Freikorps im Inneren, die nicht als Legionäre eines Konzerns apolitisch wirken, sondern sich vielleicht politisch formieren? Mit der ersten Variante kann man leben. Aber Sturmabteilungen sind grundsätzlich besser dort aufgehoben, wo das Böse lauert, nicht wo das Gute wertschöpft, wirtschaftet, expandiert und maximiert. Da stören sie nur den Ablauf.

Man stelle sich mal vor, die Bronx fasst nicht mehr alle Sozio- und Psychopathen, die die amerikanische Außenpolitik hervorgebracht hat. All die Bettnässer und Tagträumer, Menschenhasser und Gewaltbereiten, Halluzinierenden und Demoralisierten. Nee, bevor die nach Long Island drängen und in die gesitteten Bezirke New Jerseys rübermachen, lieber dorthin, wovon viele Amerikaner nicht mal wissen, wo es liegt. Erst wenn die Typen hilflos im Rollstuhl sitzen und als schlimmste aller gesellschaftlichen Katastrophen Rollie-Treffen am Washington Monument veranstalten, wie es die Veteranen des Vietnamkrieges tun, kann man sie wieder unter die Leute rollen lassen.

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