Wo gesoffen wird - und wo man wegsieht

Montag, 26. September 2011

Vor einigen Wochen riss der Qualitätsjournalismus eine Studie an, die von der Charité abgehalten wurde. Erschrocken stellte man da fest, dass Schwangere häufiger Alkohol konsumieren als gedacht. Wo die Studie Erwähnung fand, schlug sich auch stets derselbe Nebensatz nieder: dass ein gelegentliches Gläschen noch keinem Fötus geschadet habe - was ein Irrtum sei, dem besonders häufig Frauen aus der Mittelschicht erliegen. Direkter konnte man manchmal auch lesen, dass es besonders Frauen aus der Mittelschicht seien, die in der Schwangerschaft Alkohol trinken.

Das ist schon ein wenig erstaunlich, denn seit geraumer Zeit wurde der Öffentlichkeit seitens den Medien eingebläut, dass es die Unterschicht sei, dieses Sammelsurium aus Faulpelzen und Schmarotzern, die alkoholisiert durch die Tristesse ihres Alltags taumelt. Das sei so besorgniserregend gewesen, dass man sich dazu genötigt sah, den Regelsatz des Arbeitslosengeld II um den Alkoholgehalt zu schmälern. Alkoholismus wurde als ein charakterlicher Mangel der Unterschicht dargestellt. Verantwortungsloses Saufen gehörte nach dieser Ansicht auch ins Milieu der Tagediebe.

Jetzt aber macht die Charité klar, dass verantwortungsloser Alkoholkonsum nicht, oder nicht ausschließlich, die Sache von Hartz IV-Empfängern sei, sondern auch, oder noch viel mehr, die Mittelschicht ausmache. Nicht die verwahrloste Hartz-Schlampine, das adrette Mittelstands-Muttchen trinkt mehr Alkohol. Man muß das gar nicht mit großer Moralingabe ahnden. Aber ausmalen darf man sich wohl schon mal, wie es gewesen wäre, wenn uns die Studie bewiesen hätte, dass es ausgesprochen häufig Frauen von ganz unten sind, die trotz Kugelbauch Alkohol in sich hineintrinken. Wäre auch da nur ein Nebensatz gefallen? Wäre der ebenfalls untergegangen oder bestenfalls eine Randnotiz gewesen?

Man darf annehmen, dass wenn eine Studie ergeben hätte, es seien mehr Schwangere aus der Unterschicht, die söffen, so hätte das erneut öffentliche Diskussionen beschworen. Der Qualitätsjournalismus hätte die Verwahrlosungen beschrieben. Er hätte der Unterschicht vorgeworfen, zu viele Kinder zu bekommen und dann diese Kinder auch noch pränatal zu verhunzen. Kein Wunder, würde es dann geheißen haben, dass Kinder aus der Unterschicht selbst mal zur Unterschicht würden - bei solchen verantwortungslosen Müttern, die ihren Kindern schon im Mutterleib schaden, kann nichts aus dem Nachwuchs werden! Welche Sanktionen wohl mancher harte Hund oder manche noch härtere Hündin medienwirksam gefordert hätte? Schwangeren, die Alkohol trinken, den Mehrbedarf streichen vielleicht? Man war bislang immer innovativ, denen die kaum noch etwas haben, noch etwas von diesem "kaum noch etwas" wegzunehmen. Früher brauchte man ausreichend perverse Phantasie, um sich ein solches Szenario auszumalen. Heute reicht ein Blick in die jüngere Vergangenheit.

Aber es sind nur verstärkt Mittelschichtsschwangere, die erhöhtem Alkoholkonsum frönen. Die Charité sagt damit ja auch, dass Alkoholkonsum ein Problem aller gesellschaftlichen Schichten ist - was aber derzeit als Meinung nicht salonfähig ist, denn erstens, übt sich die Mittelschicht gerne im Selbstbetrug und, zweitens, soll der Konsum ja eine exklusive Angelegenheit der Hartz IV-Empfänger bleiben. Deshalb reicht ein Nebensatz. Deshalb warnt keiner, fordert keiner öffentlich Konsequenzen. Das noch ungeborene Leben aus dem mittleren Element der Gesellschaft erhält keine Verfolgungsbetreuung - die steht nur dem Bodensatz zu...



13 Kommentare:

Björn 26. September 2011 um 10:32  

Herzlichen Dank für die wieder einmal treffenden Worte. Tatsächlich habe ich heute das erste Mal von dieser Studie gelesen (und eigentlich lese ich doch recht viel, glaube ich zumindest zu meinen), was Ihre Worte ja nur noch kräftiger unterstreicht.

potemkin 26. September 2011 um 11:10  

Alkohol ist in unserer Gesellschaft der Stressabbauer schlechthin. Dass die Mittelschicht mehr und mehr unter Stress leidet (Abstiegsängste, höhere Anforderungen am Arbeitsplatz, Zeitnot), ist bekannt. Stress erlebt aber ebenso die sog. Unterschicht, durch behördliche Massnahmen, aber auch durch massive Existenzängste. Und vergessen wir auch nicht die höheren Schichten: Dort wird nur diskreter und edler gesoffen, und Gründe haben auch die...

klaus baum 26. September 2011 um 11:17  

Was glaubt man wohl, wer all die Weine trinkt, von denen ich nur exemplarisch folgende nennen möchte: Sassicaia, Brunello di Montalcino von Biondi Santi, Chateau Lafitte Rothschild, Mouton Rothschild, Chateau Latour usw.

Diese und ähnlich klassifizierte Weine kann sich nur leisten, wer für Wein viel Geld übrig hat. In der Regel die Oberschicht.

Anonym 26. September 2011 um 11:19  

Lieber Roberto J. de Lapuente,

treffend.

Was mir aber als nächstes gleich einfiel ist, dass hier ja die "Mittelschicht" gemeint ist, und die gehört ja auch nicht zur neuen selbsternannten "Elite".

Hetzt man nun medial eben gegen alles, nur nicht gegen die "Elite", die angeblich nicht menschlich sein soll - mit all den menschlichen Makeln, die du hier so trefflich beschreibst?

Und die schwangere Mittelschichtsmama merkt immer noch nicht, dass die mit der schwangeren "Unterschichtsmama" in einem Boot sitzt - Nein, lt. der Taz-Journalistin Ulrike Herrmann meint die immer noch mit, der sie eigentlich verachtendenden "Elite-Mama" (z.B. Frau Von der Leyen) in einem Boot zu sitzen....

Trauriger Gruß
Bernie

Hartmut 26. September 2011 um 11:33  

Danke für den treffenden und sehr gut geschriebenen Artikel. Er kristallisiert genau die Denkweise in der Gesellschaft, und zwar aller Schichten, genau beschreibend, heraus.

Es ist schon eine nicht mehr zu überbietende Brutalität und Grausamkeit, den armen der ärmsten Menschen in dieser Gesellschaft noch den einzigen "Seelentröster" den sie haben quasi wegzunehmen und dann noch auf eine so heuchlerische, perfide, zum Kotzen erregende Art und Weise, wo mir fast die Worte fehlen !

Hierzu ein fiktives Beispiel:

Sagt der Chef zum Vorarbeiter, wenn der Arbeiter Schulze nochmal betrunken zur Arbeit kommt, sag mir Bescheid.
Kurz darauf meldet der Vorarbeiter dem Chef ergebenst und pflichtgetreu dem Chef ,Schulze ist wieder betrunken zur Arbeit erschienen.- Der Chef schenkt 2 Glas teuersten Cognacs ein und sagt,prost, darauf müssen wir erst mal einen trinken - jetzt kann ich Schulze endlich rauswerfen...

Zum Thema ein sehr empfehlenswertes Buch:

Im Zeitalter der Sucht, Wege aus der Abhängigkeit, Anne Wilson Schaef

Allen Lesern einen schönen Tag
wünscht
Hartmut

Anonym 26. September 2011 um 11:41  

Danke - der Artikel trifft wieder mal den Nagel auf den Kopf!

Mit dem Alkohol ist es eh so eine Sache. Ein Droge? Das kommt drauf an. Der edlen Weinbrand aus Frankreich, der "schöne", der "große" Rotwein? Aber nein, das sind Delikatessen (Hagen Rether: "Bei uns heißen die Drogenbarone Winzer")

Die Besoffenen auf dem Oktoberfest? Aber nein, das ist Teil der bayerischen Tradition und Zeichen der moralischen Überlegeneheit des Westens. Diesen Rausch findet auch die CSU wunderbar! Und wehe dem CSU-Politiker, der nicht mindestens zwei Maß verträgt (und laut Beckstein dann sogar noch ohne Probleme Autofahren kann - er ist ja ein richiger Bayer und kann das locker weg stecken. Herr Wiesheu konnte das ja auch).
Schlimm wird es nur, wenn die Armen, die sog. "Unterschicht" zum Gläschen oder Fläschchen greift. Dieses "Pack, das schon nicht arbeitet und dann auch noch auf unsere Kosten im Dauerrausch dahinsiecht". Und natürlich sind es alle Arbeitslosen, die den ganzen Tag saufen (gibt der Regelsatz ja auch locher her). "Das weiß man doch. Ich hab sie doch gesehen auf RTL. Soll mir keiner sagen, dass die nicht alle so sind, irgendwie." Es lebe das Vorurteil und die Heuchelei!

Anonym 26. September 2011 um 12:43  

Wieso ergeht sich die Mittelschicht gerner in Selbstbetrug als z.B. die Oberschicht (so liest sich das)?

Anonym 26. September 2011 um 13:41  

"[...] Es lebe das Vorurteil und die Heuchelei![...]"

Völlige Übereinstimmung, zumal ich Sohn eines "Drogendealers" (=Winzers) war.

Mein Vater meinte immer, als Ausrede für seinen Alkoholgenuß:

"Ein richtiger Winzer trinkt seinen Wein".

Es hat ihn letztendlich 2006 ins Grab, irreparabel zerstörte Leber und Darmkrebs, gebracht.....und seither rühre ich keinen Wein mehr an....

Apropo:

Es ist nicht allein der Alkoholgenuß der tötet, schon die Produktion von Alkohol kann lebensgefährlich sein - Bei Winzern ist es ein offenes Geheimnis, dass Leberkrebs und - krankheinten, sowie Arsenvergiftungen zum Risiko des Berufes gehören...ist sogar eine anerkannte Berufskrankheit bei Winzern....

...ich will nicht wissen was sonst alles im Spritzmittel für die Rebe, und dem Haltbarmachen des späteren Weines giftiges (für Menschen) mit reingemischt wird - Übrigens,ich schreibe nicht von der üblen Weinpanscherei sondern von der ganz stinknormalen Weinproduktion....

...sorry, ich schweife ab, aber der "Drogendealer" von Hagen Rether hat mich etwas getroffen ;-)

Gruß
Bernie

Anonym 26. September 2011 um 15:49  

Anonym klaus baum hat gesagt...

"Was glaubt man wohl, wer all die Weine trinkt, von denen ich nur exemplarisch folgende nennen möchte: Sassicaia, Brunello di Montalcino von Biondi Santi, Chateau Lafitte Rothschild, Mouton Rothschild, Chateau Latour usw."

Diese edlen Tropfen gibt's doch im LIDL im eineinhalb Liter Karton für 99 Cent nur für Hartz 4 Bezieher, jedoch nur gegen Vorlage eines Hartz 4 Bescheides!

BITTE UNBEDINGT WEITERSAGEN!

Feucht-fröhliche Grüße von
Bakunin :-)

landbewohner 26. September 2011 um 18:18  

gesoffen wird überall -für diese weisheit hätts keine studie gebraucht. aber richtig ist, wenn der hartzer seine not oder seine frust im billigalk ertränkt, dann ist er eben der typische hartzer, machts der facharbeiter oder die arge angestellte, dann sind sie eben alkoholkrank, die besoffene upperclass tussi samt manager sind leider dem stress erlegen und bedauernswerterweise aus der spur geraten. die stellung in der gesellschaft schafft es auch hier ein und denselben sachverhalt anders zu werten.

Anonym 26. September 2011 um 21:34  

Die Lage ist doch unverändert logisch auch nach dieser "Erkenntnis".
Die Mittelschickt trägt mehr zum Bruttosozialprodukt bei und darf daher trinken, die Unterschicht trägt weniger zum Bruttosozialprodukt bei und soll daher eher nicht trinken.
Die Logik ist nach vor einleuchtend, man kann nur halten davon, was man will...

Anonym 26. September 2011 um 21:41  

Nachtrag zu meinem Kommentar eben:
Es ist ja mit dieser Gesetzesänderung nicht mal so, dass die Unterschicht nicht trinken soll, sondern sie soll ruhig von ihrem selbstverdienten Geld trinken - so wie die Mittelschicht.

Anonym 28. September 2011 um 02:23  

@über mir:

That´s the point. Es geht nicht darum Alkohol zu ächten. Es geht darum, den Opfern (aka. Moderniesierungsverlierern) verfehlter Politik die Solidarität der "Restbevölkerung" zu entziehen.
In D funktioniert das ganz besonders gut. Die Knöpfe "Nationalchauvinismus", "Xenophobie" oder "Sozialschmarotzer" gehen immer. Die letzten Beiden lassen sich auch ganz vorzüglich kombinieren.

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