Demokratiebetrieb intakt

Sonntag, 18. September 2011

Die Wahl zu Berlin hat es erneut bewiesen: der Demokratiebetrieb funktioniert. Das ist mir sofort aufgefallen, als ich gegen 18:00 Uhr den Kasten laufen ließ. Der Demokratiebetrieb läuft, habe ich mir gleich gedacht, da kann man sagen, was man will: er läuft. Reibungslos, wenn man so mag. Der Betrieb läuft störungsfrei.

Quatsch, nicht wegen der Liberalen, die keiner außer einigen Verwandten des Spitzenkandidaten mehr gewählt haben - auch nicht wegen der Piraten, die erstmals Mandate erhielten. Diesen Betrieb meine ich nicht. Ich meine eher den Betrieb, der sich wahlsonntags hektisch ausbreitet, die ganzen Journalisten, die analysieren und Zahlen drechseln, die wunderbaren Animationen, Balken hie, Sitzverteilungskuchen dort - Mikrofone, die jeden Furz einfangen; Jubelbilder in Echtzeit, nachher als Wiederholung; Tränen live und später als Aufnahme. Und alle sind besonders gescheit und wissen, warum gewählt wurde, wie gewählt wurde und meinen es auch nochmals haarklein erklären zu müssen. Diesen Betrieb meine ich. Nichts anderes, nicht Abwahl und Neuwahl, nicht Prozentverluste- und -gewinne. Auf dieser Ebene ist es, wie Erdmann so vorwitzig sagt: man kann wählen was man will, am Ende steht eine neoliberale Regierung.

Da funktioniert der Demokratiebetrieb nicht besonders - nur das sieht man wahlsonntags nicht. Das wird hinter Vollanalysen des Geschehens verborgen, hinter ästhetischem Animationsmarathon. Und hinter Ansprachen, die uns erklären, dass Abwahlen stattfanden und neue Kräfte mandatiert wurden. Fast so, wie in einer Demokratie, die die Alternative lebt. Aber wir wissen ja ganz gut mittlerweile, dass alles was heute geschieht, alternativlos geschieht. Politik hat das Primat gar nicht zugunsten der Wirtschaft abgegeben, wie man irrtümlich immer wieder sagt - sie hat nur einfach die alternativlosen Vorstellungen der Wirtschaft übernommen und entschuldigt sich nun damit, an Sachzwänge gebunden zu sein. Wirtschaftsunternehmen werden alternativlos geführt, weil Alternativlosigkeit die Sache der Diktatur (des Profits) ist, nicht die der Demokratie. Sie werden quasi-stalinistisch geführt, nicht pluralistisch. Die Politik hat sich dieses strenge diktatorische Korsett angelegt - und das sieht man spätestens immer dann, wenn uns die Punkt-18:00-Uhr-Prognosen mitteilen, dass die kommende Regierung wieder neoliberal sein wird.

Diese ganzen Damen und Herren im Hosenanzug, die uns immer wieder wahlsonntags erläutern, wie intakt der Demokratiebetrieb doch ist, auch wenn es immer eine neoliberale Regierung in verschiedener Koloration ist, die frisch ans Werk geht - diese ganzen Herrschaften, sie sind der Demokratiebetrieb, den ich meine. Denn sie verwischen betriebsam, dass die Demokratie schon eine Postdemokratie ist. Und dieser Betrieb ist es, der noch klappt - ansonsten scheint es, als habe die Demokratie ihren Betrieb endgültig eingestellt.



11 Kommentare:

Anonym 19. September 2011 um 06:02  

Pressestimme zum Buch "Postdemokratie":

Die Deformationen der Demokratie, die er beschreibt, vollziehen sich nicht als Bruch und plötzlicher Systemwechsel (wie nach 1989 in Mittel- und Osteuropa), sondern als schleichender, undramatischer Verrottungsprozess, als ein allmählicher »Substanzverlust der Demokratie« bei durchaus intakt bleibenden institutionellen Strukturen.« (Claus Offe Frankfurter Allgemeine Zeitung )

Jedes Wort trifft zu!

Anonym 19. September 2011 um 08:19  

Danke für den Artikel.

Wie viele Begriffe im politischen Leben, ist dieser ganz besonders irreführend. Allein schon die Übersetzung, "Herrschaft des Volkes", ist mehr oder weniger eine Ironie. Allenfalls würde ich "Parlamentarische Demokratie" gelten lassen.
Demokratiebetrieb empfinde ich als eine treffende und bezeichnende Wortschöpfung.
Es ist in der Tat so, der Neoliberalismus ist durch keine Staatsform wohl mehr aufzuhalten und die Diktatur des Profits hat alle Regierungen und Bürger fest im Würgegriff.

Demokratie ist, wenn gemacht wird, was ich bestimme !

Mit diesem salopp, ironischen Spruch aus den 70ern möchte ich meinen Kommentar beschließen und wünsche einen sonnigen Montag.

Gruß
Hartmut

W.Buck 19. September 2011 um 08:40  

Der beste Kommentar, den ich zur Wahl bisher gelesen, bzw. gehört habe.

Ach könntest Du nur für einmal in den Tagesthemen der ARD in Vertretung dieses Herrn Schönenborn kommentieren .... aber das wäre ja dann ein Defekt in der Demokratie-Maschinerie.

Anonym 19. September 2011 um 08:44  

"Alternativlos"(nicht existent)

Das einzige was mir an Ihrem Artikel
nicht gefallen hat, war die Verwendung des von Fr.Merkel in die Welt gesetzten Ausdrucks(ich sträube mich ihn zu wiederholen), "alternativlos"!!! Es gibt zu allem,
und für alles eine Alternative!!!
Es wäre schön, wenn Sie in Zukunft
nicht da zu beitragen würden, diesen nicht existenten "Unbegriff"
weiter zu etablieren.

MfG

christophe 19. September 2011 um 09:04  

Dieser Analyse ist nur wenig hinzuzufügen. Außer vielleicht dem Verzweiflungsakt des 'mündigen' Wählers, der die Piraten auf 9 Prozent hievte. Auch ich habe mein Kreuzlein dort gemacht, obwohl ich mich mit diesen Seeräubern wenig befasst habe. Aber sie sind momentan sicherlich das kleinste Übel...

Anonym 19. September 2011 um 11:25  

Lieber Roberto J. de Lapuente,

wieder einmal ein vortrefflicher Text.

Es bleibt mir nur noch zu ergänzen, dass der Autor von "Postdemokratie" Colin Crouch ein neues Buch mit dem Titel "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus: Postdemokratie II" veröffentlicht hat, dass demnächst in Deutschland erscheinen soll.

Gruß
Bernie

Ludwig Trepl 19. September 2011 um 11:31  

"Ich meine eher den Betrieb, der sich wahlsonntags hektisch ausbreitet, die ganzen Journalisten, die analysieren und Zahlen drechseln, die wunderbaren Animationen, Balken hie, Sitzverteilungskuchen dort - Mikrofone, die jeden Furz einfangen; ..."

Vielleicht erklärt sich das ganz einfach so: In der Journalistenbranche drängeln sich die Knalldeppen der Nation wie nirgendwo sonst. Kaum einer möchte sich mit ihnen abgeben. Taucht ein Journalist auf dem Bildschirm auf, schaltet man um auf den Tatort, weil da Journalisten nur in Gestalt der lästigen Figuren vorkommen, die der Kommissar angewidert vom Tatort wegscheucht. Aber am Wahlabend schalten alle ein, weil sie wissen wollen - das kann man im Leben ja brauchen - wie der nächste Bürgermeister heißt. Und das nutzen die Journalisten gnadenlos aus. Von Beginn der Sendung an erzählen sie uns, daß es "spannend bis zum Schluß" bleiben wird, damit auch ja jeder sitzenbleibt und sich den ganzen grauenhaften Unfug, den sie ihm anbieten, über sich ergehen läßt.

Frank Benedikt 19. September 2011 um 15:20  

@ Anonym, #1:

Dem "plötzlichen Bruch und Systemwechsel" in Mittel- und Osteuropa kann ich nicht zustimmen. Wer seit den 70ern etwas genauer hingesehen hat, konnte die schleichende Erosion (den "Verrottungsprozess") dort bereits bemerken. Wäre dem nicht so gewesen, wäre wohl auch kaum ein Gorbatschow als "Konkursverwalter" des bankrotten Systems ans Ruder gekommen. Gut zwanzig Jahre später ist nun das hiesige System dran und man sollte sich immer wieder vor Augen halten: Geschichte ist nicht statisch!

antiferengi 19. September 2011 um 19:23  

Schöner Text, aber, naja, - wieso Demokratie? Eigentlich, heißt das seit einem Jahrzehnt schon Mediendemokratie. Komischerweise, erwähnen das diese lupenreichen Demokraten überhaupt nicht mehr. Die Demokratie einer statistisch strategisch vorgewärmten Bruderschaft, welche ihre Hoffnungen dann prozentual kalkulieren oder beerdigen kann.

Anonym 20. September 2011 um 00:34  

Ja genau das ist es, dieses unerträgliche Geschwätz von "Parteienforschern", "Politikexperten" und sonstigem Gesocks, welches zu solchen Demokratieveranstaltungen hervorgekramt wird, damit es wieder völligen Unsinn von sich geben kann.

Solange sich solches Geschmeiss im Fernsehen tummeln darf, braucht man sich über diese Demokratiedarsteller auf Marienhof-Niveau, welches sich Politiker nennt, nicht wundern...

Anonym 20. September 2011 um 10:33  

an den anonymen Vorredner, der da sagte: "dieses unerträgliche Geschwätz von "Parteienforschern", "Politikexperten" und sonstigem Gesocks"
Nennen Sie doch mal Namen, wen Sie gern im TV sehen würden zur Wahlberichterstattung. Ich würde schon mal Volker Pispers ins Rennen schicken. Wen noch?

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