Ist es nicht gemütlich?
Samstag, 30. Juli 2011
Die Tage des Lagers auf dem Ettersberg, Buchenwald genannt, waren nun passé. Mehrere Tage, manchmal Wochen, verblieben die ehemaligen Insassen noch im oder am Lager, selbst dann, wenn sie gesundheitlich noch relativ einwandfrei waren. Auch Gérard verweilte dort nach seiner Befreiung durch die Amerikaner noch einige Tage, desillusioniert und noch erfüllt von den Schrecken, der ihm widerfuhren. Tage später machte er sich mit einigen ehemaligen Mithäftlingen auf den Weg in ein nahegelegenes Dorf, um sich am dortigen Brunnen zu laben. Dort angekommen erblickte Gérard ein Haus, dessen Fenster exakt in Richtung Lager ausgerichtet waren. Er teilte eilig seinen Kollegen mit, dass er es betreten möchte. Die winken desinteressiert ab und lassen ihn ziehen. Zielstrebig klopfte er an die Türe. Nach einer Weile öffnete ihm eine alte Frau.
Er betrat das Haus, begutachtete die Zimmer, eilte daraufhin die Treppe nach oben und landete im Wohnzimmer. Noch im Türstock verharrend sah er, dass sich im Fenster der Schlot des Lagerkrematoriums abzeichnete. Näherte man sich diesem Fenster, so konnte man beinahe das gesamte Lager überblicken. Die Frau erklärte ihm, dass dies ihr Wohnzimmer sei. Und Ist es nicht gemütlich?, fragte sie ihn. Gérard rang mit den Worten, wahrscheinlich weniger in diesem Augenblick selbst, als später, da er sein Erlebnis zu Papier brachte. Fragte ihn die Alte doch tatsächlich, um es hier nicht gemütlich sei! Und im Fenster war der Schlot zu erkennen.
Er, der Schlot, war in den Fensterrahmen geklemmt, fast wie in einen Bilderrahmen. Bewunderte man vom Türstock aus das Zimmer, so glaubte man, es hänge ein Bild an der Wand, ein Gemälde von einem Krematoriumsschlot, eine grausam-romantische Zeichnung als Schmuck dieser gemütlichen Stube. Im Gemälde, das keines war, da verbrannten Leiber; ein Blick aus dem Fenster zeigte den Ort, an dem die Marter zum täglichen Ritus wurde. Ist es nicht gemütlich hier?
Saß die Alte etwa jeden Abend da, häkelte bei Kerzenschein, lungerte in ihrem bequemen Sessel, trank Tee, fraß Gebäck, während sich dort drüben, auf der Fensterbank, der Tod ausbreitete? Das heißt, nicht auf der Fensterbank selbst, aber sie war der Beobachtungsposten ins Totenreich hinüber, dort geriet das Verrecken ins Blickfeld. Diese Fensterbank, sie war der Vorposten, eine Landzunge zur Hölle, die in diese Gemütlichkeit schwappte.
Gérard geisterte dieses Ist es nicht gemütlich? noch Jahrzehnte später im Kopf herum. Diese Alte ging ihm nicht aus dem Sinn. Auch, dass sie ebenfalls erzählte, ihre beiden Söhne seien gestorben, gefallen an irgendeiner der vielen Fronten, die sich um das Reich schlängelten. Haderte die Alte etwa, wenn sie abends in ihrem Sessel saß? Haderte sie mit ihrem Leben? Mit dem Führer? Oder doch eher mit diesen feindlichen Subjekten, die man leider nicht alle per Zug an ihre Fensterbank fahren, zu ihrer Aussicht machen konnte? Wähnte sie sich leidend, wie niemand sonst, während vor ihrem Fenster eine kaltblütige Regentschaft Menschen zerrieb? Sah sie vor lauter Tod, den Tod nicht mehr? Hungerte sie mäßig, sodass sie den auszehrenden, erlahmenden Hunger vor ihrem Haus nicht erkannte? War die Gemütlichkeit, auf die sie stolz schien, der Rückzugsort? Schottete sie sich dort vom Gang der Welt ab, von Buchenwald und Söhnen, die ins Feld zogen und in Felder zurückblieben?
Gérard: so rief man Jorge Semprún damals. Und die kleine Parabel auf eine Welt, die scheinbar von Menschen verschieden wahrgenommen wird, und das selbst dann, wenn beide Welten unmittelbar aufeinandertreffen, nur durch eine Fensterbank geschieden sind, findet sich in seiner "großen Reise" wieder, die er 1944 antrat - die er angetreten gemacht wurde. Diese Fensterbank scheint vergänglich. In unseren Breitengraden wohnt niemand mehr am Rande eines Arbeitslagers, hat niemand mehr Ausblick auf Schornsteine, aus denen menschliche Leiber geblasen werden. Die Menschheit ist fortgeschritten, hat sich von archaischen Gemütlichkeiten losgelöst. Fortschritt! In diesem treuen Glauben an das Hier und Jetzt, wird gerne übersehen, dass es dieselben Gemütlichkeiten noch gibt. Fortschritt ist, wenn man eine Fensterbank nicht mehr braucht, wenn man sich nicht mehr gemütlich auf ihr abstützen muß, um ein Schauinsland, ein Schauinslager halten zu können - Fortschritt ist, nicht mehr direkt an Lagern hausen, in einem Zimmer mit Ausblick aufs Meer der Tränen leben zu müssen - Fortschritt ist, die Entbehrungen an Körper und Seele, die Gewalt, Unterdrückung und Unrecht aus dem bequemen Sessel heraus zu bestaunen, mit Fernbedienung, ohne Mühe, seine Ellenbogen auf das harte Holz einer Fensterbank zu pressen.
Unsere Fensterbank hat zuerst die Form eines schwerfälligen Kastens angenommen, später nahm sie die Gestalt einer relativ flachen Scheibe an. Bilderfluten vom Elend erreichen uns. Ausgehungerte Gestalten aber, die diesem Elend lebend entflohen, klopfen fürwahr nicht mehr an unsere Türen. Wir, die wir unsere Fensterbänke mit schönerer Aussicht belohnen, die wir unsere Welt für die Habenichts abriegeln, haben die Jammergestalten ausgesperrt. Das ging damals zu Weimar noch nicht, was die Alte, die Gérard Einlass gewährte, sicherlich bedauerte. Wenn wir demnächst fragen, ob es nicht wieder mal gemütlich sei, so denke man an dieses Fenster, in dem sich der Schlot Buchenwalds abbildete, man denke an das Wohnzimmer, das nur wenige Meter Luftlinie zu den Gebirgen von Leichen, seine Gemütlichkeit verströmte. Man erinnere sich daran, dass wir die wenigen Meter Luftlinie durch lange Reisen mit Luftfahrtunternehmen ersetzt haben und dass unser Fensterbrett, diese gemütliche Ablage für Blumentöpfe wie Ellen, erst in neuerer Zeit ein unschuldiges Dasein fristet - es gab Zeiten, da war es der Einblick in das Totenreich. Der ist heute im Sessel vorm dem Kasten, dort bluten, verhungern, verrecken Menschen. Ist es nicht gemütlich?
Er betrat das Haus, begutachtete die Zimmer, eilte daraufhin die Treppe nach oben und landete im Wohnzimmer. Noch im Türstock verharrend sah er, dass sich im Fenster der Schlot des Lagerkrematoriums abzeichnete. Näherte man sich diesem Fenster, so konnte man beinahe das gesamte Lager überblicken. Die Frau erklärte ihm, dass dies ihr Wohnzimmer sei. Und Ist es nicht gemütlich?, fragte sie ihn. Gérard rang mit den Worten, wahrscheinlich weniger in diesem Augenblick selbst, als später, da er sein Erlebnis zu Papier brachte. Fragte ihn die Alte doch tatsächlich, um es hier nicht gemütlich sei! Und im Fenster war der Schlot zu erkennen.
Er, der Schlot, war in den Fensterrahmen geklemmt, fast wie in einen Bilderrahmen. Bewunderte man vom Türstock aus das Zimmer, so glaubte man, es hänge ein Bild an der Wand, ein Gemälde von einem Krematoriumsschlot, eine grausam-romantische Zeichnung als Schmuck dieser gemütlichen Stube. Im Gemälde, das keines war, da verbrannten Leiber; ein Blick aus dem Fenster zeigte den Ort, an dem die Marter zum täglichen Ritus wurde. Ist es nicht gemütlich hier?
Saß die Alte etwa jeden Abend da, häkelte bei Kerzenschein, lungerte in ihrem bequemen Sessel, trank Tee, fraß Gebäck, während sich dort drüben, auf der Fensterbank, der Tod ausbreitete? Das heißt, nicht auf der Fensterbank selbst, aber sie war der Beobachtungsposten ins Totenreich hinüber, dort geriet das Verrecken ins Blickfeld. Diese Fensterbank, sie war der Vorposten, eine Landzunge zur Hölle, die in diese Gemütlichkeit schwappte.
Gérard geisterte dieses Ist es nicht gemütlich? noch Jahrzehnte später im Kopf herum. Diese Alte ging ihm nicht aus dem Sinn. Auch, dass sie ebenfalls erzählte, ihre beiden Söhne seien gestorben, gefallen an irgendeiner der vielen Fronten, die sich um das Reich schlängelten. Haderte die Alte etwa, wenn sie abends in ihrem Sessel saß? Haderte sie mit ihrem Leben? Mit dem Führer? Oder doch eher mit diesen feindlichen Subjekten, die man leider nicht alle per Zug an ihre Fensterbank fahren, zu ihrer Aussicht machen konnte? Wähnte sie sich leidend, wie niemand sonst, während vor ihrem Fenster eine kaltblütige Regentschaft Menschen zerrieb? Sah sie vor lauter Tod, den Tod nicht mehr? Hungerte sie mäßig, sodass sie den auszehrenden, erlahmenden Hunger vor ihrem Haus nicht erkannte? War die Gemütlichkeit, auf die sie stolz schien, der Rückzugsort? Schottete sie sich dort vom Gang der Welt ab, von Buchenwald und Söhnen, die ins Feld zogen und in Felder zurückblieben?
Gérard: so rief man Jorge Semprún damals. Und die kleine Parabel auf eine Welt, die scheinbar von Menschen verschieden wahrgenommen wird, und das selbst dann, wenn beide Welten unmittelbar aufeinandertreffen, nur durch eine Fensterbank geschieden sind, findet sich in seiner "großen Reise" wieder, die er 1944 antrat - die er angetreten gemacht wurde. Diese Fensterbank scheint vergänglich. In unseren Breitengraden wohnt niemand mehr am Rande eines Arbeitslagers, hat niemand mehr Ausblick auf Schornsteine, aus denen menschliche Leiber geblasen werden. Die Menschheit ist fortgeschritten, hat sich von archaischen Gemütlichkeiten losgelöst. Fortschritt! In diesem treuen Glauben an das Hier und Jetzt, wird gerne übersehen, dass es dieselben Gemütlichkeiten noch gibt. Fortschritt ist, wenn man eine Fensterbank nicht mehr braucht, wenn man sich nicht mehr gemütlich auf ihr abstützen muß, um ein Schauinsland, ein Schauinslager halten zu können - Fortschritt ist, nicht mehr direkt an Lagern hausen, in einem Zimmer mit Ausblick aufs Meer der Tränen leben zu müssen - Fortschritt ist, die Entbehrungen an Körper und Seele, die Gewalt, Unterdrückung und Unrecht aus dem bequemen Sessel heraus zu bestaunen, mit Fernbedienung, ohne Mühe, seine Ellenbogen auf das harte Holz einer Fensterbank zu pressen.
Unsere Fensterbank hat zuerst die Form eines schwerfälligen Kastens angenommen, später nahm sie die Gestalt einer relativ flachen Scheibe an. Bilderfluten vom Elend erreichen uns. Ausgehungerte Gestalten aber, die diesem Elend lebend entflohen, klopfen fürwahr nicht mehr an unsere Türen. Wir, die wir unsere Fensterbänke mit schönerer Aussicht belohnen, die wir unsere Welt für die Habenichts abriegeln, haben die Jammergestalten ausgesperrt. Das ging damals zu Weimar noch nicht, was die Alte, die Gérard Einlass gewährte, sicherlich bedauerte. Wenn wir demnächst fragen, ob es nicht wieder mal gemütlich sei, so denke man an dieses Fenster, in dem sich der Schlot Buchenwalds abbildete, man denke an das Wohnzimmer, das nur wenige Meter Luftlinie zu den Gebirgen von Leichen, seine Gemütlichkeit verströmte. Man erinnere sich daran, dass wir die wenigen Meter Luftlinie durch lange Reisen mit Luftfahrtunternehmen ersetzt haben und dass unser Fensterbrett, diese gemütliche Ablage für Blumentöpfe wie Ellen, erst in neuerer Zeit ein unschuldiges Dasein fristet - es gab Zeiten, da war es der Einblick in das Totenreich. Der ist heute im Sessel vorm dem Kasten, dort bluten, verhungern, verrecken Menschen. Ist es nicht gemütlich?
9 Kommentare:
Danke für diesen Artikel, der unmittelbar an den tiefsten Schichten meiner Seele gerührt hat.
Sofort fiel mir ein (rotziger) Spruch aus den 70ern ein:
"Stell dir vor es ist Krieg - und du hast keinen Fernseher zu Haus...."
Zwischen dem Geschilderten und heute liegen fast 70 Jahre - "gefühlt" hätte es auch gestern sein können.
Vielleicht ist dies ein (Imago), das eine wichtige Rolle in den gegenwärtigen so signifikant ansteigenden psychischen Erkrankungen, umschreibt.
Wie viele Menschen werden von so einem tiefsinnigen Text wohl heute noch berührt ?
Fulminant geschrieben, wie immer.
Übrigens, als jemand, der via Mutter ab und an mit Stammtischlern konfrontiert wird - meine Mutter hat einen kleinen Ausschank - kommen mir manchmal ob der zynischen Kommentare von so manchem Stammtischler die Zornesröten ins Gesicht, aber ich halte mich diplomatisch zurück.
Vor kurzem meinte doch so ein Stamm(tisch)gast, dass es sowieso zuviele Menschen gäbe, und die in Somalia Kinder zeugen, auf Teufel komm raus.....
...kommt einem dies nicht bekannt vor? Hat nicht Sarrazin bezogen auf hier lebende Muslime dasselbe behauptet? Tja, der dt. Michel scheint auch bei einer richtigen Hungersnot, wie der in Somalia, zu denken, die produzieren einfach zu viel Kinder, und es gäbe eh zuviel Menschen auf der Welt.....
...sarrazinsche Ansichten - nur diesmal, via Stammtischphilosoph, international ausgekotzt.....
Manche widern mich einfach nur noch an.....in Deutschland....
...ich weiß schon warum ich Stammtische verabscheue wie die Pest.....bin damit aufgewachsen....via Ausschank, den meine Eltern jahrelang betrieben haben....
Vielleicht schreibst du mal was über die Erfahrung von Gastwirten/-innen, die sich öfters als einmal auf die Zunge beißen müssen, um Geld zu scheffeln?
Ist ja nicht jeder Gastwirt so frei Gäste rauszuwerfen, denn ansonsten bleiben die anderen Gäste weg, und man verdient nichts mehr.....
...so das jahrelange Argument meiner Eltern, wenn ich denen meine Abscheu privat äußerte.....
Erschreckend die vielen Kommentare hier. Das Thema scheint ja viele Menschen zu berühren.
Ich denke dabei auch an Stuttgart 21:
Widerstand gegen Bauvorhaben und Stadtteilplanung kann sinnvoll sein, weil die Macht oft mit einzieht. Unterstellen wir, die Deutschen hätten im Dritten Reich den Bau der Hauptstadt »Germania« und den Völkermord verhindert. Das hätte ihnen Weltruhm eingebracht. Hätten sie aber »Germania« aus Gründen des Denkmalschutzes kritisiert und die Menschen getrost draufgehen lassen, wären sie verkommene Subjekte gewesen – was sie zweifellos waren. Auf heute bezogen: Jeder Bahnhofgegner und Bauer auf dem Trecker in Gorleben ist zu fragen, was er am nächsten Tag gegen die Versenkung von Flüchtlingsschiffen tun will.
Der Mann'sche Untertan jener Tage war so geübt im Wegschauen und Verdrängen, er hielt wohl auch den alljährlichen Ascheregen rund um die Lager für ein natürliches Wetterphänomen.
Schnee im Sommer, Alpinismus das ganze Jahr durch - Willkommen in Germanien.
Zeigt das nicht deutlich ,das die Probleme die diese Welt hat ,systemischen Ursprungs sind ? Es gibt unendlich viele Fronten ,an denen man gegen die Menschenfeindlichkeit kämpfen müssen - während die Menschenfeinde mit Geld alles machbare tun ,um den Menschen den Mut und die Kraft zu kämpfen aberziehen wollen.
Mir kommt es manchmal so vor, als seien die Menschen heute noch abgebrühter und zynischer als dazumals.
Zugegeben, das Elend der so genannten Dritten Welt ist mit den Verbrechen des Dritten Reiches nicht zu vergleichen, die Skrupellosigkeit und Herrenmenschenmentalität der Europäer und Nordamerikaner aber allemal.
- Da tingeln "Stars" zwecks Imagepflege durch Afrika und lassen sich mit betretener Miene inmitten hungernder Schwarzer filmen/fotografieren. Noch besser sind nur noch jene dekadenten Gestalten, die Fressgalas veranstalten, um Spenden für die Hungernden zu sammeln.
- Da nutzen Touristen (übrigens männliche wie weibliche) die Armut der Menschen vor Ort aus, um billig an Sex zu kommen.
- Da freuen sich die Schnäppchenjäger, wenn sie T-Shirts für einen Euro erstehen.
- Da mosern die Verbraucher, wenn der Kaffee oder der Kakao teurer werden.
- Da verhungern jährlich Millionen Menschen weltweit und wir fahren "Bio"sprit.
Tja, Hauptsache in den eigenen vier Wänden ist die Welt noch in Ordnung. Oder, um es mit Volker Pispers zu sagen:
"Wer hat schon was gegen Sklavenhaltung, solange er zu den Haltern gehört."
@pillo
Vortrefflicher Text, danke.
Gruß
Bernie
Und so lange man die Verantwortlichen nicht beim Namen nennt, wird es auch so weiter gehen, dass man sich Verhungernde, mit denen man nichts zu tuen hat vom Sessel aus anschaut.
Es betrifft mich nicht.
Alles andere ist doch Heuchelei.
Denkt dabei an Stuttgart21? Sorry, jetzt geh ich kotzen.
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