»Do schaun S' hin, Fräulein«, sagt der Karl Valentin, »da horchen S' zu.« So ganz kann er sich für das »Du« wohl noch nicht entschließen, und manchmal sagt er gar »Du, Fräulein«.
Die Liesl sperrt Augen und Ohren auf. Spielt das Lehrmädel vom Valentin. Sie zählt innerlich Haß- und Wutworte der drei Bayern gegen die Fremden mit. Es juckt sie, diese Worte durcheinanderzumischen und auszusprechen, sie noch giftiger, noch absurder zu machen.
Nicht einmal Raubtieren, denkt sie, bringen die Menschen heute eine solche Abwehr entgegen wie den Fremden.
[…]
Diese Drohgebärden! Einer der drei hebt wütend den Arm mit dem Bierkrug, als wolle er auf den Afrikaner einschlagen, aber er hält inne und führt den Krug an den Mund, säuft, spuckt aus. Einer schickt Boxhiebe beim Reden durch die Luft, die dennoch ins Schwarze treffen. Absichtsbewegungen, zu Ersatzhandlungen geronnen.
[…]
Die drei Bayern haben jetzt genug Haßworte und Bier strömen lassen und entfernen sich von dem »Buschmann« um ihr Zuhause, ihre feste Burg, aufzusuchen, wo ihnen das Fremde nichts anhaben kann. Aber ihre Worte verschwinden nicht. Ihre Gesichter, ihre Stimmen, ihre Gestalten hängen noch im Raum, vor allem aber am Valentin und an der Liesl, sind an ihnen haftengeblieben und nehmen den Weg nach innen. Sie gehören hinfort zu ihrem künstlerischen Mobiliar.
Die Liesl juckt's, ein wenig zu spielen. Sie nimmt eine Lehrerinnenhaltung ein, eindeutig in ihrer Dominanz, und fragt: »Was haben wir in dieser Unterrichtsstunde gelernt? Karl! Wir haben über die Fremden gesprochen. Aus was bestehen die Fremden?«
Der Valentin ist nur kurz überrumpelt, dann denkt er nach, nimmt eine Schülerhaltung ein und sagt: »Aus Frem und aus den.« Der Valentin hat eine klare Frage flugs durch die Gehirnwäsche der Silbentrennung in zwei fremde Silben verdreht.
Der Liesl als Examinierenden fällt nur ein kleines Lob und eine Replik ein:
»Gut – und was ist ein Fremder?«
Der Valentin, der sich gern Worte raussucht, die einen Doppelsinn haben, hat rasch die Antwort:
»Fleisch, Gemüse, Obst, Mehlspeisen und so weiter.«
»Nein, nein, nicht was er ißt, will ich wissen, sondern wie er ist.«
Worauf der Valentin einmal durchschnauft, in eine renitente Körperposition geht und widerborstig entgegnet:
»Ja, ein Fremder ist nicht immer ein Fremder.«
Das Weiterführende dieses Gedankens verschlägt der Liesl kurz den Atem, dann funkeln ihre Augen vor Vergnügen. Aber sie bleibt in ihrer Rolle und fragt:
»Wieso?« Sie weiß im selben Augenblick, wohin ihn diese Frage führt, ja, sie hat ihn unbewußt dahin geleitet (oder er sie?).
Der Valentin will nicht auf halbem Wege stehenbleiben:
»Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.«
Jetzt kontert die Liesl mit einer für ihre Neugierde und ihren Wissensdurst typischen Frage, eingeleitet durch ein Lehrerinnenlob:
»Das ist nicht unrichtig. - Und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd?«
Dem Valentin obliegt es, ihr nun auf unmißverständliche Weise klarzumachen, daß er ihrer Fragerei haushoch überlegen ist. Er wirft sich in die Hühnerbrust:
»Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist, und zwar so lange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt, dann ist er kein Fremder mehr.«
[…]
»Sehr richtig! - Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, bleibt er dann immer ein Fremder?«
Diese in heiterem Ton hervorgebrachte, fast triumphierend herausgeschmetterte Frage, bei der sich ihr Busen dehnt, ringt dem Valentin eine kurze Besinnungspause ab. Für eine Weile erblickt sie sein ratloses Blinzeln, dann sieht sie: Er hat's (und zieht gleichzeitig einen Zettel hervor, macht sich Notizen):
»Nein. Das ist nur so lange ein Fremder, bis er alles kennt und gesehen hat, dann ist ihm nichts mehr fremd.«
[…]
»Es kann aber auch einem Einheimischen etwas fremd sein?«
Jetzt stehen dem Valentin wieder Material in Hülle und Fülle zur Verfügung, und er holt aus:
»Gewiß, manchem Münchner zum Beispiel ist das Hofbräuhaus nicht fremd, während ihm in der gleichen Stadt das Deutsche Museum ...«
»... sehr fremd ist«, vollendet die Liesl und resümiert: »Damit wollen Sie also sagen, daß der Einheimische in mancher Hinsicht in seiner eigenen Vaterstadt zugleich noch ein Fremder sein kann. - Was aber sind Fremde unter Fremden?«
»Fremde unter Fremden sind: wenn Fremde über eine Brücke fahren, und unter der Brücke fährt ein Eisenbahnzug mit Fremden durch, so sind die durchfahrenden Fremden Fremde unter Fremden ...«
- Barbara Bronnen, »Karl Valentin und Liesl Karlstadt« -