Politik, die zum Leben nicht reicht
Montag, 30. April 2012
Die Regelsätze sind zu niedrig. Jetzt darf man es offiziell sagen, weil es ein Gericht offiziell gesagt hat. Dass die Regelsätze nach ihrer Neuberechnung nur popelige fünf Euro höher lagen als zuvor, scheint der Öffentlichkeit damals relativ entgangen zu sein. Die zu niedrigen Sätze waren damals schon skandalös, weil man es ja gewusst, mindestens aber geahnt und mitgefühlt hat - und sie sind heute skandalös - und weil man in diesem Land auf Kontinuitäten setzt, wird es auch hernach, sollte man mal wieder neu berechnen, skandalös bleiben.
Skandal hinter dem Skandal
Der wirkliche Skandal sind weniger die Regelsätze, die den Menschen die soziale und kulturelle Teilhabe verweigern. Es ist die Arroganz der Macht, die sich über die Gerichtsbarkeit hinwegsetzt, ohne Skrupel zu zeigen. Das tut sie nicht offensiv, nicht aggressiv - sie macht es transparent, mit dienstbeflissener Miene, etwaigen Gerichtsentscheidungen - wie damals, als das Bundesverfassungsgericht die Neuberechnung forderte - auch gerecht zu werden. Den Entscheidungen gerecht zu werden wohlgemerkt, nicht denen, die auf dieserlei Entscheidungen hoffen. So rechnet man eben hinaus und hinein, zieht ab und addiert, gibt in den fiktiven Warenkorb zur Berechnung oder nimmt heraus, setzt hier was an, läßt da was weg und schlägt von der dann entstandenen Summe pauschal zwanzig Prozent ab. Auftrag erledigt, Gerichtsentschluss umgesetzt - Regelsatzhöhe bewahrt.
Dieses Verhalten, das von der Öffentlichkeit nicht mal verurteilt wird, sondern mitläuferisch unterstützt, ist es, was den wirklichen Skandal auftischt. Ärgernis ist nicht unbedingt die Regelsatztiefe, die sich nicht am Alltag orientiert - das zwar auch, aber viel mehr Ärgernis ist, dass es mit dem Verfassungsbezug der regierenden Politik nicht weit her ist. Dass man oberste Instanzen wie das Bundesverfassungsgericht austrickst und damit denen, die von diesen Regelsätzen abhängig sind, eine lange Nase dreht und sie de facto von rechtsstaatlichen Beschwerde- und Klagewegen abschneidet. Dann gibt es zwar Kläger und Richter wie es in einem Rechtsstaat sein sollte - aber auch eine Legislative, die derart verschlagen und korrupt ist, dass sie sich den Teufel darum schert. Und es ist ein Skandal, dass die Medien bei diesem frechen Spiel mitmachen. Dass die Neuberechnung, die nur zur Festigung des alten Regelsatzes galt, ohne jegliche Kritik vollzogen werden konnte. Von der Öffentlichkeit, die vernünftlend die hohen Kosten angab, um die Verweigerung der Teilhabe zu rechtfertigen, muß man gar nicht erst sprechen.
Erst die Politik, dann die Regelsätze
Vielleicht wagt man sich erneut heran, die Regelsatzhöhe gerichtlich zu beanstanden. Dann heißt es Neuberechnung - nochmal ein Warenkorb. Den stellt man neu auf. Wenn man merkt, dass die Berechnung aus dem Ruder läuft, dann werden erneut Faktoren herausgerechnet. Kondome aus dem Hygiene- und Gesundheitssegment beispielsweise - die lächerlichen sieben Euro Beherbergungs- und Gaststättenleistungen könnte man ganz streichen - oder die alkoholfreien Getränke aus dem Posten Nahrungsmittel, denn schließlich besitzt heute jeder einen Wasserhahn und die Nebenkosten, die das Amt auch bezahlt, beinhalten ja Warm- und Kaltwasser. Vielleicht gibt das faktisch einen neuen, leicht erhöhten Regelsatz; drei oder vier Euro mehr, damit es nach was aussieht.
Man verschleppt den menschenwürdigen Regelsatz - immer mal einige Euro anpassen, nie aber den großen Wurf tätigen. Vielleicht gelingt es ja, die Habenichtse so noch über Jahre hinweg auszuhungern.
Eigentlich hätten Gerichte zuerst über die Praxis der Politik, die an den Wirtschaftsverbänden und den neoliberalen Think Tanks hängt, zu befinden. Einer Politik, die ihr Primat abgegeben hat, die von Ideologen geleitet wird und nicht dem Allgemeinwohl verpflichtet zu sein scheint, kann man keinen (Neu-)Gestaltungsauftrag erteilen. Erst hätte man mal gerichtlich festzustellen, dass der Aufrichtigkeitsgehalt der Politik zu niedrig angesetzt ist, bevor man erklärt, dass es die Regelsätze auch sind - zuerst sollte man verlesen, dass die Politik ihre wirtschaftliche Teilhabe der Wirtschaft verdankt, bevor man kundtut, dass es solche für die Leistungsempfänger nach SGB II nicht gibt - erst müsste man mal erklären, dass diese Politik zum Leben nicht reicht, bevor man nachschiebt, dass es die Regelsätze auch nicht tun...