Traumanovelle
Mittwoch, 20. Januar 2016
Eine der wiederkehrenden Fragen der Menschheit ist jene, was man mit denen anstellt, die die Brutalität und die Gräuel des Krieges über einen längeren Zeitraum über sich haben ergehen lassen müssen. Modern gefragt: Wie reintegriert man Traumatisierte wieder ins Gemeinwesen? Sterbende Menschen, Feuer, erloschene Schicksale und Verwüstungen – all das macht ja was mit einem. Traumata sind mannigfaltig. Manche ziehen sich zurück, werden schweigsam. Andere bemessen dem menschlichen Leben und der Würde keinen Wert mehr. Sie werden Zyniker am Nächsten, erblicken bloß noch Organismen, die eben verenden, wo andere Mitmenschen sehen würden. Das Problem ist so alt wie die Zivilisation. Gelöst hat man es jedoch selten. Die psychologische Aufarbeitung von Traumata ist aber auch noch ein relativ junges Fach. Heute haben wir es in der Hand.
Cäsar musste seine Veteranen mit Land entschädigen, um sie bei Laune zu halten. Frankenkönig Karl zog, wie viele Regenten und Krieger, von Feldzug zu Feldzug, auch um keine marodierende Gruppe kriegssozialisierter Männer im Reich erdulden zu müssen. Der Dreißigjährige Krieg traumatisierte (mehr als jeder Krieg zuvor) auch die Zivilbevölkerung. Zumindest auf deutschen Boden. Nach Jahrzehnten des Blutes und des Hungers, des Brandschatzens und des Kannibalismus, des Vergewaltigens und der Seuchen, war das Leben nicht mehr dasselbe. Es gibt natürlich keine Erhebungen, doch unzählige Berichte, wonach das Trauma noch viele Dekaden anhielt. Mancher Historiker erging sich gar in der Behauptung, dass diese Ära den deutschen Nationalcharakter geprägt habe wie keine andere. Allerdings führt jene These an dieser Stelle etwas zu weit.
Nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland voller junger Männer, deren Schule der Schützengraben war und deren Lehrmittel der krepierende Kamerad an der Seite. Diese Männer wirkten mit an der Zersetzung der Weimarer Republik, prügelten sich durch die Straßen deutscher Städte, wurden Corpsmitglied oder landeten gleich bei der SA. Diese Gruppierung, die durch den Krieg traumatisiert menschlicher Regungen verlustig wurde, war die Basis von Hitlers Erfolg. Anderes Beispiel: Vietnam-Veteranen griffen zur Flasche, neigten zu familiärer Gewalt oder wurden gelegentlich zu Amokläufern. Die Litanei könnte ausladend ergänzt werden. Jede Episode zeigt, dass der Krieg traumatisiert und Menschen zurücklässt, die verlernt haben in menschlichen Kategorien zu empfinden und je nach Traumatisierungsgrad mehr oder weniger »gewaltbereit« (auch und vor allem im Sinne von »ohne Respekt vor menschlicher Würde«) sind.
Über die Verfassung von Menschen, die den Schrecken des Zweiten Weltenbrandes erlebt haben, gibt es keine Evalution. Nur Erzählungen. Der Historiker Sönke Neitzel sagte unlängst in einem Interview, dass das Leben danach weiterging und keine »traumatisierten Zombies« durch das Land liefen. Aber das darf bezweifelt werden. Alleine der Umstand, dass er Traumata für die psychischen Auswüchse von Untoten hält, zeugt von seinem Anspruch. Es gab in jenen Jahren sicherlich verstärkt häusliche Gewalt, versteckte Übergriffe und Aggressionen. In den Schulen hielt man es ähnlich. Der Ausbruch der 68er-Generation hatte unter anderem auch mit solchen Erlebnissen in der Familie zu tun; daher erspähten die jungen Leute zum Beispiel eben auch in der Familie die Keimzelle gesellschaftlicher Gewalt. Die Kommunen sind die Folge traumatisierter Haushalte. Zudem wird von regem Alkoholismus berichtet. Zum Psychologen wäre man ohnehin nicht gegangen. Es gab ja auch wenige ärztliche Niederlassungen dieser Art. Außerdem wollte man nicht als Spinner gelten. Man verdrängte und der ökonomische Aufschwung half dabei mit, die erlittenen Qualen zu kanalisieren, sie durch ein Konsumsurrogat zu ersetzen. Der Rest ist Erzählung, ist Leiche im Keller mancher Familie. Es wurde nicht darüber gesprochen. Das war Zeitgeist, auch über dem Teich. In »Die besten Jahre unseres Lebens« von William Wyler kommen US-Soldaten zurück nach Hause und erzählen nichts, trinken nur oder sind seelisch mitgenommen. Und deren Frauen machen auch einfach weiter und werden nicht damit fertig, dass ihre Männer sich völlig verändert haben.
Vor einigen Jahren allerdings verbreiteten einige Medien neue Erkenntnisse aus Erhebungen. Viele ältere Menschen der Kriegsgeneration würden an den Folgen jener Ära noch immer leiden, hieß es da. Vielleicht brach da nur endgültig hervor, was man über Jahrzehnte verborgen hielt. Aber das ist nur Spekulation, Zahlen gibt es wie gesagt nicht. Es gehört aber zum Erfahrungsschatz der Menschheit, dass es nach erlebten Gräueln für die Menschen nicht einfach weitergeht.
Nun sind wir bei den Menschen, die zu uns kommen und von denen man sagt, dass sie sich seltsam benehmen würden. Seltsam, weil sie respektlos seien. Gegenüber Frauen und Männern. Gegenüber menschlicher Würde an sich. Menschenrechte fielen ihnen schwer. Die Vorwürfe sind Legion, sind emotionalisiert und vieles davon mag in seinem Detailreichtum nicht zutreffen. Aber ansatzweise mag da Wahres beinhaltet sein. Dass es schwierig ist, etwaige Menschenrechte verinnerlicht zu haben, wenn man fortwährend in einem Szenario lebte, in dem es Menschenrechte nicht gab, in dem jegliche Rücksichtnahme auf Menschlichkeiten verworfen wurden, müsste mit weitaus mehr Empathie für die Geflüchteten wahrgenommen werden. Die Historie lehrt uns – wie gesagt -, dass von brutaler Gewalt Traumatisierte nicht ohne Weiteres integrierbar sind.
Die psychologische Betreuung in den Flüchtlingsunterkünften ist marginal, herrscht teilweise gar nicht vor. Die Gelder, ohnehin knapp bemessen, können weitestgehend nur die materielle Not eindämmen. Fachliche Unterstützung bei der Verarbeitung von Kriegserfahrungen wäre - wenn wir schon diese leidige Debatte über Flüchtlinge führen müssen, denen wir jedwede Empathie absprechen – eine erste Maßnahme, um traumatisierte junge Leute integrierbar und ihnen den Respekt vor dem menschlichen Leben und das Grundrecht auf körperliche und psychische Unversehrtheit kenntlich zu machen. Man sucht zwar unter Studenten Hilfskräfte, die auch die psychische Verfassung abfedern sollen. Aber den jungen Leuten fehlt es an Erfahrung und Praxis, um sich dieser kolossalen Aufgabe stellen zu können. Denn manchen der Geflüchteten müssen soziale und universelle Konventionen nicht etwa neu beigebracht werden, sondern sie müssen sie überhaupt erst erlernen. Wer seit dem Teenageralter Kriegserfahrungen machte, der kennt keine andere geistige Schule als Hunger, Angst und Gewaltexzesse, dem lehrt das Leben schnell, dass Egoismus, Wegschauen und Gegengewalt funktionierende Überlebensstrategien sind.
Was die Geflüchteten hier im Exil erwartet ist das Gegenteil von Respekt. Sie werden kriminalisiert und werden von einem großen Teil der Öffentlichkeit als Schädlinge bezeichnet und behandelt. Rechte Schlägertrupps und anonyme Brandstifter machen ihnen das Leben schwer und lassen sie nur schwerlich zur Einsicht geraten, dass es hierzulande ein anderes Konzept von menschlicher Würde gibt, als jenes, dass sie kennengelernt haben. Sie sehen in gewaltbereite Gesichter, sollen aber gleichzeitig einsehen, dass manche ihrer »gewaltbereiten« (vor allem im oben genannten Sinne) Anwandlungen völlig falsch sind in dieser Gesellschaft.
Jeder von uns ist Produkt seines Umfeldes, ist geprägt von Erlebnissen und Erfahrungen, von Eindrücken und den Ängsten, denen man uns aussetzt. Nicht jeder entwickelt dieselben Überlebensstrategien und mentalen Selbsttäuschungen, um durch eine schwere Zeit zu kommen. Manche ziehen sich zurück, andere werden aggressiver. Was bedeutet, dass nicht jeder Geflüchtete potenziell gewalttätig ist. Doch auch die stillen Traumatisierten benötigen die Schaffung von Vertrauen in ein Menschenbild, das nicht von Gewalt dominiert ist, um zu genesen und um als Bürger mit sensibilisierter Wahrnehmung ankommen zu können.
Stellen wir uns nur mal vor, dass der Streit um das Menschenbild, in den wir schlittern, den neue Rechte gegen Demokraten und Linke führen, irgendwann in ein Patt gerät, die Gemüter weiter erhitzt. Stellen wir uns vor, wir verlieren die Fassung und geraten in eine Auseinandersetzung, die irgendwann in Straßenkämpfe und dann in einen Bürgerkrieg führen. Aus dem besorgten Bürger würde ein bewaffneter Bürger. Aux armes, citoyens / Formez vos bataillons. Frankreich jedenfalls würde schnell fallen, auch die dortige Gesellschaft wankt zwischen Weltbildern. Und dann erleben wir das in Zentraleuropa drei Jahre lang. Unsere Kinder kennten nur Krach, blieben den Schulen fern, sähen oft Blut, viel Feuer und manchen Toten auf der Straße. Sexuelle Gewalt wäre keine Seltenheit, wie in jedem Krieg. Wo wir uns noch Jahre zuvor empört hätten, stumpften wir ab. Wir stumpften ab, um mental überleben zu können. Und dann wird der Druck unerträglich und wir flüchten, kratzten unser letztes Geld zusammen, um die Schlepper bezahlen zu können, die uns über die Ostsee nach Norwegen brächten.
Man kesselte uns in Unterkünften ein und begrüßte uns mit Breivik-Plakaten, die die Sehnsucht nach Reinigung von fremden Elementen preisgäben. Ständig fürchteten wir, dass man uns zurückschicken könnte. Und wir spürten, wie unsere Kinder den Krieg in ihrem Benehmen hätten. Wir allerdings auch, nur nicht so ausgeprägt. Jugendliche Flüchtlinge aus Deutschland machten abends, was sie gelernt haben im Krieg: Sich nehmen, was man bekommen kann, was man will. Und die Norweger kriminalisierten uns und wollten schnelle Abschiebung, die Ausschaffung in eine Gegend, in der wir jede Minute dem Tod ausgesetzt sind. Und in einem solchem Klima aus Kriegserfahrung und Abschiebeangst, aus Kriminalisierung und Pathologisierung, aus Isolation und fehlender psychologischer Betreuung, sollen wir die Wesensmerkmale, die der Bürgerkrieg uns auferlegt hat, einfach wieder und ohne psychologische Betreuung ablegen?
Cäsar musste seine Veteranen mit Land entschädigen, um sie bei Laune zu halten. Frankenkönig Karl zog, wie viele Regenten und Krieger, von Feldzug zu Feldzug, auch um keine marodierende Gruppe kriegssozialisierter Männer im Reich erdulden zu müssen. Der Dreißigjährige Krieg traumatisierte (mehr als jeder Krieg zuvor) auch die Zivilbevölkerung. Zumindest auf deutschen Boden. Nach Jahrzehnten des Blutes und des Hungers, des Brandschatzens und des Kannibalismus, des Vergewaltigens und der Seuchen, war das Leben nicht mehr dasselbe. Es gibt natürlich keine Erhebungen, doch unzählige Berichte, wonach das Trauma noch viele Dekaden anhielt. Mancher Historiker erging sich gar in der Behauptung, dass diese Ära den deutschen Nationalcharakter geprägt habe wie keine andere. Allerdings führt jene These an dieser Stelle etwas zu weit.
Nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland voller junger Männer, deren Schule der Schützengraben war und deren Lehrmittel der krepierende Kamerad an der Seite. Diese Männer wirkten mit an der Zersetzung der Weimarer Republik, prügelten sich durch die Straßen deutscher Städte, wurden Corpsmitglied oder landeten gleich bei der SA. Diese Gruppierung, die durch den Krieg traumatisiert menschlicher Regungen verlustig wurde, war die Basis von Hitlers Erfolg. Anderes Beispiel: Vietnam-Veteranen griffen zur Flasche, neigten zu familiärer Gewalt oder wurden gelegentlich zu Amokläufern. Die Litanei könnte ausladend ergänzt werden. Jede Episode zeigt, dass der Krieg traumatisiert und Menschen zurücklässt, die verlernt haben in menschlichen Kategorien zu empfinden und je nach Traumatisierungsgrad mehr oder weniger »gewaltbereit« (auch und vor allem im Sinne von »ohne Respekt vor menschlicher Würde«) sind.
Über die Verfassung von Menschen, die den Schrecken des Zweiten Weltenbrandes erlebt haben, gibt es keine Evalution. Nur Erzählungen. Der Historiker Sönke Neitzel sagte unlängst in einem Interview, dass das Leben danach weiterging und keine »traumatisierten Zombies« durch das Land liefen. Aber das darf bezweifelt werden. Alleine der Umstand, dass er Traumata für die psychischen Auswüchse von Untoten hält, zeugt von seinem Anspruch. Es gab in jenen Jahren sicherlich verstärkt häusliche Gewalt, versteckte Übergriffe und Aggressionen. In den Schulen hielt man es ähnlich. Der Ausbruch der 68er-Generation hatte unter anderem auch mit solchen Erlebnissen in der Familie zu tun; daher erspähten die jungen Leute zum Beispiel eben auch in der Familie die Keimzelle gesellschaftlicher Gewalt. Die Kommunen sind die Folge traumatisierter Haushalte. Zudem wird von regem Alkoholismus berichtet. Zum Psychologen wäre man ohnehin nicht gegangen. Es gab ja auch wenige ärztliche Niederlassungen dieser Art. Außerdem wollte man nicht als Spinner gelten. Man verdrängte und der ökonomische Aufschwung half dabei mit, die erlittenen Qualen zu kanalisieren, sie durch ein Konsumsurrogat zu ersetzen. Der Rest ist Erzählung, ist Leiche im Keller mancher Familie. Es wurde nicht darüber gesprochen. Das war Zeitgeist, auch über dem Teich. In »Die besten Jahre unseres Lebens« von William Wyler kommen US-Soldaten zurück nach Hause und erzählen nichts, trinken nur oder sind seelisch mitgenommen. Und deren Frauen machen auch einfach weiter und werden nicht damit fertig, dass ihre Männer sich völlig verändert haben.
Vor einigen Jahren allerdings verbreiteten einige Medien neue Erkenntnisse aus Erhebungen. Viele ältere Menschen der Kriegsgeneration würden an den Folgen jener Ära noch immer leiden, hieß es da. Vielleicht brach da nur endgültig hervor, was man über Jahrzehnte verborgen hielt. Aber das ist nur Spekulation, Zahlen gibt es wie gesagt nicht. Es gehört aber zum Erfahrungsschatz der Menschheit, dass es nach erlebten Gräueln für die Menschen nicht einfach weitergeht.
Nun sind wir bei den Menschen, die zu uns kommen und von denen man sagt, dass sie sich seltsam benehmen würden. Seltsam, weil sie respektlos seien. Gegenüber Frauen und Männern. Gegenüber menschlicher Würde an sich. Menschenrechte fielen ihnen schwer. Die Vorwürfe sind Legion, sind emotionalisiert und vieles davon mag in seinem Detailreichtum nicht zutreffen. Aber ansatzweise mag da Wahres beinhaltet sein. Dass es schwierig ist, etwaige Menschenrechte verinnerlicht zu haben, wenn man fortwährend in einem Szenario lebte, in dem es Menschenrechte nicht gab, in dem jegliche Rücksichtnahme auf Menschlichkeiten verworfen wurden, müsste mit weitaus mehr Empathie für die Geflüchteten wahrgenommen werden. Die Historie lehrt uns – wie gesagt -, dass von brutaler Gewalt Traumatisierte nicht ohne Weiteres integrierbar sind.
Die psychologische Betreuung in den Flüchtlingsunterkünften ist marginal, herrscht teilweise gar nicht vor. Die Gelder, ohnehin knapp bemessen, können weitestgehend nur die materielle Not eindämmen. Fachliche Unterstützung bei der Verarbeitung von Kriegserfahrungen wäre - wenn wir schon diese leidige Debatte über Flüchtlinge führen müssen, denen wir jedwede Empathie absprechen – eine erste Maßnahme, um traumatisierte junge Leute integrierbar und ihnen den Respekt vor dem menschlichen Leben und das Grundrecht auf körperliche und psychische Unversehrtheit kenntlich zu machen. Man sucht zwar unter Studenten Hilfskräfte, die auch die psychische Verfassung abfedern sollen. Aber den jungen Leuten fehlt es an Erfahrung und Praxis, um sich dieser kolossalen Aufgabe stellen zu können. Denn manchen der Geflüchteten müssen soziale und universelle Konventionen nicht etwa neu beigebracht werden, sondern sie müssen sie überhaupt erst erlernen. Wer seit dem Teenageralter Kriegserfahrungen machte, der kennt keine andere geistige Schule als Hunger, Angst und Gewaltexzesse, dem lehrt das Leben schnell, dass Egoismus, Wegschauen und Gegengewalt funktionierende Überlebensstrategien sind.
Was die Geflüchteten hier im Exil erwartet ist das Gegenteil von Respekt. Sie werden kriminalisiert und werden von einem großen Teil der Öffentlichkeit als Schädlinge bezeichnet und behandelt. Rechte Schlägertrupps und anonyme Brandstifter machen ihnen das Leben schwer und lassen sie nur schwerlich zur Einsicht geraten, dass es hierzulande ein anderes Konzept von menschlicher Würde gibt, als jenes, dass sie kennengelernt haben. Sie sehen in gewaltbereite Gesichter, sollen aber gleichzeitig einsehen, dass manche ihrer »gewaltbereiten« (vor allem im oben genannten Sinne) Anwandlungen völlig falsch sind in dieser Gesellschaft.
Jeder von uns ist Produkt seines Umfeldes, ist geprägt von Erlebnissen und Erfahrungen, von Eindrücken und den Ängsten, denen man uns aussetzt. Nicht jeder entwickelt dieselben Überlebensstrategien und mentalen Selbsttäuschungen, um durch eine schwere Zeit zu kommen. Manche ziehen sich zurück, andere werden aggressiver. Was bedeutet, dass nicht jeder Geflüchtete potenziell gewalttätig ist. Doch auch die stillen Traumatisierten benötigen die Schaffung von Vertrauen in ein Menschenbild, das nicht von Gewalt dominiert ist, um zu genesen und um als Bürger mit sensibilisierter Wahrnehmung ankommen zu können.
Stellen wir uns nur mal vor, dass der Streit um das Menschenbild, in den wir schlittern, den neue Rechte gegen Demokraten und Linke führen, irgendwann in ein Patt gerät, die Gemüter weiter erhitzt. Stellen wir uns vor, wir verlieren die Fassung und geraten in eine Auseinandersetzung, die irgendwann in Straßenkämpfe und dann in einen Bürgerkrieg führen. Aus dem besorgten Bürger würde ein bewaffneter Bürger. Aux armes, citoyens / Formez vos bataillons. Frankreich jedenfalls würde schnell fallen, auch die dortige Gesellschaft wankt zwischen Weltbildern. Und dann erleben wir das in Zentraleuropa drei Jahre lang. Unsere Kinder kennten nur Krach, blieben den Schulen fern, sähen oft Blut, viel Feuer und manchen Toten auf der Straße. Sexuelle Gewalt wäre keine Seltenheit, wie in jedem Krieg. Wo wir uns noch Jahre zuvor empört hätten, stumpften wir ab. Wir stumpften ab, um mental überleben zu können. Und dann wird der Druck unerträglich und wir flüchten, kratzten unser letztes Geld zusammen, um die Schlepper bezahlen zu können, die uns über die Ostsee nach Norwegen brächten.
Man kesselte uns in Unterkünften ein und begrüßte uns mit Breivik-Plakaten, die die Sehnsucht nach Reinigung von fremden Elementen preisgäben. Ständig fürchteten wir, dass man uns zurückschicken könnte. Und wir spürten, wie unsere Kinder den Krieg in ihrem Benehmen hätten. Wir allerdings auch, nur nicht so ausgeprägt. Jugendliche Flüchtlinge aus Deutschland machten abends, was sie gelernt haben im Krieg: Sich nehmen, was man bekommen kann, was man will. Und die Norweger kriminalisierten uns und wollten schnelle Abschiebung, die Ausschaffung in eine Gegend, in der wir jede Minute dem Tod ausgesetzt sind. Und in einem solchem Klima aus Kriegserfahrung und Abschiebeangst, aus Kriminalisierung und Pathologisierung, aus Isolation und fehlender psychologischer Betreuung, sollen wir die Wesensmerkmale, die der Bürgerkrieg uns auferlegt hat, einfach wieder und ohne psychologische Betreuung ablegen?
9 Kommentare:
Sehr geehrter Herr De Lapuente,
mit großem Interesse habe ich Ihren fantastischen Artikel "Traumanovelle" gelesen, dessen Inhalt ich aus tiefem Herzen zustimme.
Meine Frage an Sie wäre, ob Sie mir erlaubten, diesen Artikel auf meinem Blog "SalvaVenia" (salvaveniaxxl.wordpress.com)zu rebloggen?
Danke im Voraus schon mal für eine kurze Benachrichtigung sowie
mit bestem Gruße
Der Salva
Hallo Salva,
klar, kein Problem. Link zu ad sinistram sollte aber erfolgen.
Das Dilemma ist: Man kann die Leute ja nicht aus Rücksicht einfach kriminell gewähren lassen.
Und Therapeuten lassen sich nicht aus dem Boden stampfen - man sehe sich die Wartezeiten an, einen Termin zu bekommen...
Wenn man zu dem Schluss kommt, dass an die Neuankömmlinge nicht dasselbe rechtliche Maß wie an die "eingesessenen" Bürger angelegt werden darf, dann würde die Logik eindeutig gebieten, eine eigene, mildere Strafgesetzgebung für die Neuankömmlinge einzuführen.
Herzlichen Dank.
Der Reblog findet sich hier: https://salvaveniaxxl.wordpress.com/2016/01/20/reblogged-traumanovelle/.
Weiterhin immer den besten Erfolg wünscht
Der Salva :)
Lieber Roberto,
ein beeindruckend einfühlsamer und wissender Artikel!
Eigentlich ist es doch relativ einfach, sich in die Situation der Flüchtlinge hineinzuversetzen; die Medien bringen die grausamen und erschreckenden Bilder aus den Herkunftsländern, die man im Kopf haben könnte oder sollte, bevor man diese Menschen kritisch beäugt!
Umso entsetzlicher, empörender und unverständlicher ist es, dass Parteien, die die Attribute "sozial" und "christlich" in ihren Namen tragen, eine die Verrohung und die Gleichgültigkeit verhinderndes menschliches Maß vermissen lassen!
Mit freundlichen Grüßen
Hans Steih
Ein sehr toller Artikel!
Einzig hätte ich mir einen Verweis darauf gewünscht, dass die Traumatisierung unter allen Betroffenen auch zu Suiziden führt, sowohl bei Soldaten als auch Flüchtlingen. Ich vermute auch, dass die Suizidrate in den Kriegsländern und unter den Binnenflüchtlingen ziemlich hoch ist, jedoch aufgrund der fehlenden Erfassung gar nicht wahrgenommen wird.
Zum Suizid unter Soldaten und Flüchtlingen siehe z.B.:
http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/USA/soldaten.html
http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/64050/Suizidrisiko-von-Fluechtlingen-durch-Screening-auf-psychische-Erkrankungen-reduzieren
http://www.fluechtlingsrat-bayern.de/suizid-wuerzburg.html
Lieber Roberto J. de Lapuente,
mein Gedanke, als selbst Betroffener ist, dass die Flüchtlinge vom Regen in die Traufe fliehen. Deutschland selbst ist ein inhumanes Land geworden, seit den Hochzeiten des schrödersch-fischerschen Neoliberalismus, und zwar nicht allein in der Innenpolitik sondern im ganz banalen Alltag.
Wie bereits erwähnt, ich weiß von was ich schreibe, da ich eine Mutter habe, die zunehmend dement wird, selbst nicht mehr weiß ob ich unser Unternehmen hier weiter betreiben kann, Geschwister habe die nur eine Last statt eine Tugend sind - alle drei sind berufstätig, und haben weder Dank, noch ein gutes Gewissen, dass ich die saisonfreie Zeit als Aufsichtsperson über meine parkinson- und demenzkranke Mutter verbringen muss statt auf Bewerbungstour zu gehen. Unser Unternehmen steht vor dem Aus und ich sollte spätestens bis Mitte März eine andere Herausforderung gefunden haben, aber mit dem Bewerben habe ich noch nicht richtig begonnen, da es eben nicht geht, wenn die ständig pflegebedürfte Person im selben Haushalt wie ich den ganzen Tag Aufsicht benötigt - es ist zum verrückt werden, und ganz ohne Bürgerkrieg.
Na ja, am Wochenende soll eine polnische Pflegeperson kommen und dann kann ich loslegen aber solange muss ich noch den Knecht für meine Geschwister spielen, die, wie bereits erwähnt völlig berufsgeil aber verantwortungs- und gewissenlos gegenüber dem eigenen Bruder sind - dt. Neoliberalismus eben.
Die Flüchtlinge werden es auch noch merk(e)ln - Obwohl? Ich hab ja gerade in der hiesigen Zeitung gelesen, dass die ersten sich schon darüber beschweren in einer hiesigen Flüchtlingsunterkunft, dass man ihnen zwar eine Unterkunft gewährt sie aber ansonsten völlig vergessen zu haben scheint - so Flüchtlinge hier in BW....
Ich bin, dank meiner nicht-hilfsbereiten Geschwister, wohl auch schon "traumatisiert"? Und dies ganz ohne Krieg...oder Gewalterfahrung....na ja, auch egal, als Angehöriger von Pflegebedürftigen ist man allein in .de.....mit all seinen täglichen Sorgen...und Nöten.....
Zynische Grüße
Bernie
Hallo Herr de Lapuente,
meine vollste Zustimmung zum Geschriebenen.
Meine vollste Hochachtung vor Ihren Fähigkeiten, dieses Thema, so prägnant, so wuchtig und intelligent zu verarbeiten. Es wird von allen, die angeblich Verantwortung tragen, von den Bürgern, von den angeblich nun selbst Betroffenen Deutschen, die mit Flüchtlingen negative Momente erlebt haben wollen, vollständig ausgeblendet, negiert.
Ihr Text muss in den Schulen, 8te oder 9te Klasse spätestens, zur eingehenden Diskussion gestellt werden, dort kann man vielleicht noch ein Umdenken erreichen.
Ich fürchte, für die meisten Deutschen über 20 ist es zu spät, Einsicht und Nachdenken zu generieren.
Ich habe gestern noch auf "Fliegende Bretter" gegen die Befürwortung von Krieg, egal durch welche fadenscheinigen Vorwände schöngeredet, eindeutig und vielleicht auch harsch kommentiert. Es nutzt nur nichts, bei Menschen mit eingefahrenen Denk- und Verhaltensmustern, die dazu noch wirklich überzeugt sind, das es "gute" und "schlechte" Gewalt gibt.
Nochmals: Danke.
@ Alles Nur Satire
"Ich habe gestern noch auf "Fliegende Bretter" gegen die Befürwortung von Krieg, egal durch welche fadenscheinigen Vorwände schöngeredet, eindeutig und vielleicht auch harsch kommentiert."
Leider gibt es Friedenspreisträger wie den muslimischen Deutsch-Iraner Navid Kermani, gefeierter Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015, der sich vehement für den Einsatz ausländischer Bodentruppen in Syrien ausspricht (aktuell groß im SPIEGEL), um die Terrormiliz IS zu bezwingen, weil dies der einzige Weg sei.
Und ich fürchte, wenn so ein medial überall stattfindender Friedenspreisträger das sagt, hat das millionenfach mehr Gewicht in der Debatte als alles, was wir jemals dazu sagen.
Die Linke muss sich leider auch mit Hunderten "Danke Bomber Harris"-Plakatträgern auseinandersetzen, die als links verstanden werden wollen.
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