Die letzten Tage der Menschheit?

Montag, 18. Januar 2016

Es geht nicht um die Wahl zwischen AfD oder anderen Parteien, nicht um Einwanderungsende oder humanitäre Hilfe. Das sind nur die direkten Optionen. Aber in denen liegt so viel mehr. Es geht um unser Weltbild. Ja, viel mehr noch um unser Menschen- und Gesellschaftsbild. Wie wir leben und wie wir Gemeinwesen und das Kontinentalbündnis organisieren wollen. Darum, mit welchem Konzept von Gemeinschaft wir in die Zukunft zu gehen gedenken. Wir haben nicht weniger als die Wahl zwischen Hass und Freundlichkeit, zwischen einer Weltanschauung, die lieber zuschlägt, schießt, sich abschottet und sozial aushungert oder gelebten Kosmopolitismus und Partizipation. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es einen ähnliches Kräftemessen. Zwischen Faschismus und Demokratie. Die Begriffe haben sich heute sicherlich verschoben, aber die jeweiligen Menschenbilder, die beide Seiten in sich trugen: Zwischen diesen beiden müssen wir dieser Tage neuerlich entscheiden.

Misanthropie oder Philantrophie also? Grimm oder Offenheit? Geschlossene oder offene Gesellschaft? Totalitaristische Abschottung oder lieber ein humanistischer Ansatz? Der Mensch als Verfügungsmasse oder als Zweck an sich? Das ist nämlich, was wirklich dahinersteckt, wenn wir über die AfD und ihre virtuellen Wahlerfolge sprechen oder dem entgegenhalten, wenn wir die Flüchtlingskrise zu einem Meilenstein der Politikverdrossenheit erklären oder sie als Chance deklarieren. Wir diskutieren nur kurzfristig und oberflächlich betrachtet über den Umgang mit Flüchtlingen, der profundere Gehalt solcher Diskussionen ist der, dass wir damit die Ausrichtung unserer Zukunft thematisieren.

Die Flüchtlingskrise wird von vielen Seiten als Chance angesehen. Damit ist nicht die Industrie gemeint, die Flüchtlinge als Gelegenheit sieht, den Mindestlohn zu unterwandern. Sie benutzen diese Menschen als Mittel zum Zweck. Hartmut Rosa (Professor für Soziologie in Jena) fragt sich zum Beispiel im »Philosphie Magazin« (Nr. 1 / 2016), ob die Flüchtlinge die letzte große Chance seien, der skleriotischen Gesellschaft doch noch zu entgehen. Denn besonders in Deutschland, so behauptet er, habe es »rasenden Stillstand« (Paul Virilio) gegeben, alles habe sich verändert, verschnellert, wurde unter Anpassungs- und Optimierungsdruck versetzt in den letzten Jahrzehnten. Es hat sich massiv beschleunigt und ausgerechnet in der Flüchtlingsfrage sucht man jetzt einen Stabilitätsanker, möchte durch sie keine Veränderung erfahren, damit alles so rasend stillstehend bleibt, wie wir es gerne hätten. Aber die Flüchtlinge werden unsere deutsche und europäische Gesellschaft natürlich verändern. Möglich, so könnte man mit Rosa folgern, dass die Flüchtlinge eine kleine Chance sein könnten, unser Menschen- und Gesellschaftsbild zu modifizieren. Im selben Heft stellt die Journalistin und Kriegsreporterin Carolin Emcke passenderweise fest: »Vielleicht helfen die Geflüchteten Europa in diesem Sinne mehr als wir ihnen, weil sie uns zwingen zu definieren, was Europa sein will.«

Wir könnten demnach wieder etwas mehr den Menschen als Urmotiv allen ökonomischen Treibens auf Erden erkennen. Oder eben das Gegenteil. Das ist unsere eigentliche Wahl. Wir haben eine minimale Chance, dass wir die Menschheit als globalen Wert entdecken und alle Geschäfte nur zu deren Wohl existieren sollen. Oder wie rufen die letzten Tage der Menschheit aus und akzeptieren endgültig, dass Geschäfte ein Eigenleben haben, in dem Menschen nur als Faktoren vorkommen, die man so oder so bändigen muss. Letzteres erscheint dieser Tage die maximaleren Chancen zu haben.

Gesellschaftlich werden so viele Fragen gestellt, aber die entscheidende ist die, wie wir künftig leben wollen. Weltoffen, liberal und multikulturell oder isolationistisch, borniert und in Monokultur? Jede Frage, die derzeit gestellt werden kann, hat mit dieser Überfrage zu tun. Jede Behauptung, die man aufzustellen vermag, spielt auf sie an. Wenn jemand, wie neulich einer meiner Arbeitskollegen, die These in den Raum stellte, dass Multikulti gescheitert sei, dann schwingt mehr mit. Ich antwortete ihm, dass es einen seltsamen Hang innerhalb der deutschen Gesellschaft gäbe, Dinge für gescheitert oder gelungen zu erklären. Aber das ist nicht das Thema, denn manche Dinge seien so wie sie sind. Dass die Welt eben enger zusammenrücke, nationale Reinheiten immer weniger zu finden seien, das ist keine Sache, die man für gelungen oder gescheitert erklären könne. Es sei schlicht Tatsache und was man sich fragen müsse ist: Wie arrangieren wir das Zusammenleben? Und an dieser Stelle kommt die zentrale Frage aufs Tapet. Wollen wir als menschliche Wesen mit Empathie in die Zukunft gehen oder als individuelle Einzelkämpfer ohne Gemeinschaftsgefühl?

Letzteres bezieht sich nicht nur auf Flüchtlinge und Ausländer, sondern ganz generell auf alle Gruppen, die in den letzten Jahren der Diskreditierung ausgesetzt waren. Die Geflüchteten sind eine Chance, um das gesamte Konzept zu überdenken. Also auch, ob und wie wir zum Beispiel künftig mit Arbeitslosen umgehen möchten. Wenn wir bei den Geflüchteten gesellschaftlich den Affekten erliegen, wird die Gesellschaft für alle, die nicht ökonomisch astrein ticken, die folglich Geld kosten, weiterhin ein unmenschlicher Ort bleiben oder es noch mehr werden. Sollte es möglich sein, die Flüchtlingsfrage zu einem Fanal wider neoliberaler Anschauung zu erheben, könnte das eine Initialzündung sein, dieses Europa der Konzerne - das an seiner Peripherie ohnehin bröckelt - auszuschalten und neu zu denken.

Es ist ein Streit der Weltbilder und Philosophien und Konzepte. Wie damals, als der Faschismus für Effizienz, Ordnung und Gleichschaltung stand und die Demokratie für Diskussionskultur, Individualismus und Entfaltungsraum. Die Gegenüberstellung der beiden politischen Systeme war in Kern eigentlich ein Vergleich zwischen Menschenbildern. Für die einen war der Mensch eine Zelle im Organismus, ein Wesen in einem rassistisch gefassten Sozialverband, das seine Aufgabe zu erfüllen hatte, ohne aus der Reihe zu tanzen. Die anderen sahen den Menschen als ein freies Individuum, mit Rechten und Pflichten ausgestattet und als realtiv freien Herrn über seine Geschicke. Dieses Gegenüber entfachte Straßenkämpfe, Machtergreifungen, politische Morde und (wie in Spanien) Bürgerkrieg.

In diesem Dilemma stecken wir wieder. Was unser Menschenbild betraf, haben wir nie ein Ende der Geschichte erreicht. Es war nie gesichert, wankte immer, wurde von den Liberalen auf ökonomischer Ebene preisgegeben und erodierte langsam aber sicher. Man dachte lange, dass nach dem Faschismus und der langen Zeitspanne relativen Friedens, die westlichen Gesellschaften eine Nachhaltigkeit in humanistischen Fragen erreicht hätten, die es quasi verbat, dass die Menschlichkeit zu Bruch gehen würde. Aber seit Jahren bröckelt sie. Und nun stehen Rassisten und Nationalisten vor dem halb sturmreif geschossenen Konzept und machen sich heran, es endgültig zu stürmen. Es gab nie eine Unverbrüchlichkeit in dieser Angelegenheit.

Alles was geschieht, hat jetzt damit zu tun, der Menschlichkeit wieder ein Fundament zu geben oder die letzten Tage einer Menschheit einzuläuten, die sich nicht mehr als solidarische Spezies versteht, sondern als Masse individualisierter Marktteilnehmer und Kunden. Es kömmt darauf an, uns zu verändern.

2 Kommentare:

klaus baum 18. Januar 2016 um 07:59  

> sondern als Masse individualisierter Marktteilnehmer <


masse? ja!

individualisiert? nein!

gleichgeschaltete monaden ...

voneiander isolierte einzelwesen

keine individuen

Peinhart 18. Januar 2016 um 10:03  

Guter Text. Nur beim vorletzten Satz habe ich gestutzt - nicht 'individualisiert' sind diese Marktteilnehmer und Kunden, sondern atomisiert in Gleichförmigkeit. Dann stimmt auch der Bezug zum drittletzten Avsatz wieder. Und steht im letzten Satz tatsächlich 'kömmt'...? ;)

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP