Der eindimensionale Mensch am Abendbrottisch

Mittwoch, 6. Januar 2016

Die »Zeit« hat Anfang Dezember drei VW-Angestellten beim Abendbrot Gesellschaft geleistet. Bei »Schwarzbrot, Mett und rohen Zwiebeln« gab es ein Gespräch zum Unternehmen, zur Abgas-Trickserei und wie man als Angestellter damit umzugehen hat. Alle drei Männer jammerten, weil die Öffentlichkeit das Unternehmen so pauschal abkanzelte, es bestraft wissen wollte und Schadensersatz forderte. Auf einer Zeitungsseite gelingt es diesen Leuten mühelos, Werbung für den Automobilhersteller zu machen, für den sie arbeiten, ohne wirklich in medias res zu gehen. Sie beklagen sich, papageien die Sätze nach, die ihre Oberen schon absonderten und machen aus dem Betrug einen zivilcouragierten Akt, ein Kavaliersdelikt und etwas, was man doch bitte hinnehmen sollte. Immerhin ist es Volkswagen, auf das man jetzt einschlägt. Volkswagen! Wo man auch hinkommt in der Welt und bekennt aus Deutschland zu sein, so reihen die Einheimischen Schlageworte auf, um ihre Deutschlandkenntnisse zu beweisen. Sie sagen dann Worte wie: Beckebaua oder Oktobafeste oder Wolkswaage. So geht man nicht mit einer Topmarke um, so behandelt man kein deutsches Schlagwort.

Und so rinnt es dann hervor: »Wir waren in den Neunzigern schon in der Krise«, »wir haben zusammengehalten und es geschafft«, »selbst Leiharbeiter sind stolz das Logo zu tragen« - die Corporate Identity läuft wie geschmiert, sie gluckert lustig beim Bier die Kehle hinunter. Nun ja, dass die stolzen Leiharbeiter schon recht bald nach Aufdeckung der Abgas-Geschichte mehrheitlich »aus dem Unternehmen ausscheiden« mussten, sagen die drei VW-Arbeiter nicht. Sie sind ja auch schon rund 30 Jahre dabei, sind vor Entlassungen gefeit. Da kann man bequem unkritisch sein, den Soziolekt derer annehmen, für die man jeden Tag arbeitet. Man bestätigt daher treuherzig, Herr Winterkorn habe nichts gewusst, die Zeitungen haben es aufgebauscht und der TÜV trage ja auch viel viel Verantwortung in der Sache. Wieso nicht mit Tank-Gutscheinen wiedergutmachen?, fragt einer der drei. So wie schon vormals die Offiziellen versuchten, sich vor Verantwortung zu drücken, indem man einen Ausgleich bezahlt, der galant den eigentlichen Vorfall kaschieren sollte.

Klassenkampf, wir wissen das mittlerweile nur zu gut – Klassenkampf gibt es nicht mehr. Es ist ein antiquiertes Wort mit noch antiquierteren Inhalten. In den letzten Jahren haben wir massiv erlebt, wie wir zugunsten der ökonomischen Eindimensionalität aufhörten, Gesellschaft als Anordnung verschiedener Klasseninteressen zu betrachten. Man tat so, als habe man als Arbeiter dasselbe Interesse am Unternehmen, wie als derjenige, dem der Laden gehört. Das Motto, wonach der Angestellte versucht möglichst viel mit möglichst wenig Aufwand zu verdienen, während der Chef möglichst wenig mit möglichst viel Ertrag zu bezahlen trachtet, war plötzlich völlig von der Bildfläche verschwunden. Die Interessen zogen nicht mehr auf gegenüberliegender Seite am Strick, sie taten so, als zögen sie auf einer Seite und über diesen fingierten Zustand vergaß man, dass man so den eigenen Interessen keinen Dienst erweisen konnte.

Gesellschaftliche Entwicklung kann nur eine bedingte Partnerschaft sein. Diese Klarheit haben wir aus den Augen verloren. Entwicklung war stets das Ausfechten gegeneinander stehender Interessen und Positionen, für die man kämpfen, streiken, protestieren musste – sozialer Fortschritt geschieht nie einvernehmlich, er ist ein Akt gegenseitiger Machtspiele, ein Schaulaufen, ein Schwanzvergleich. Das alles haben wir in den letzten Jahren völlig ausgeblendet. Marcuse hat davor schon in den Sechzigern gewarnt oder es jedenfalls beschrieben. Er hatte seine amerikanische Erfahrung gemacht und sie in »Der eindimensionale Mensch« dokumentiert. Die »Ausgleichung der Klassenunterschiede« hatten für ihn eine »ideologische Funktion«, denn sie würde nur der »Erhaltung des Bestehenden dienen«.

Das trifft zu. Die drei VW-Leute müssen sich nicht fürchten. Aber ihr preisgegebenes Klassenbewusstsein, das symbolisch für den Niedergang von Arbeiterparteien oder Gewerkschaften steht, hat das bestehende Prinzip der Angebotsökonomie erhalten und sogar noch beflügelt. Natürlich sind beim Kuschelkurs der Lohnzurückhaltung und der gemäßigten Interessensvertretung, bei Agenda 2010-Akzeptanz und Hartz-IV-Toleranz auch einige gut weggekommen. Leute, die beim Abendbrot sitzen und weiterhin relativ gut verdient, Sonderzahlungen, Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld erhalten haben. Aber die anderen sind eben Leiharbeiter, temporäre Kräfte, Niedriglöhner und was es da alles noch so gibt. Oder sie gehören zu denen, die erst gar keinen Fuß mehr in den Türspalt bekommen und als langzeitige Arbeitslose in den Karteien geführt werden.

Wenn man den drei Typen so folgt, während sie sich sättigen, dann weiß man ganz genau, was in dieser Republik seit einigen Jahren falsch läuft. Es ist nicht der Umstand, dass da Leute vor sich hin schlafen, sie sind hellwach, haben sich aber entschlossen, die Parolen ihrer Vorgesetzten und Arbeitgeber nachzuplappern, wo sie eigene Einsichten haben sollten. In derselben »Zeit«-Ausgabe (Nr. 49) gab es im Feuilleton einen Teil, der sich »Von Kant lernen« nannte. Darin würdigte man den Philosophen als immer noch wichtigen Denker. Dort kam auch er zu Wort, man druckte eine Passage aus die »Beanwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« und überschrieb den Text mit den Worten »Es ist so bequem, unmündig zu sein«. Der »Schritt zur Mündigkeit« ist beschwerlich, schreibt Kant, denn »dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht […] auf sich genommen haben.« Das steht auf Seite 50. 21 Seiten später gibt es Abendessen und Unmündigkeit.

1 Kommentare:

ulli 6. Januar 2016 um 10:56  

Man muss natürlich sehen, wie sehr die Arbeitswelt sich verändert hat. Vor einiger Zeit konnte ich mal zufällig Opel-Rüsselsheim besichtigen und wo in den 70ern noch Zehntausende Malocher Autos zusammenschraubten (und selbst Joschka Fischer ein revolutionäres Betätigungsfeld zu finden glaubte), gibt es heute nur noch Roboter und ein paar Techniker. Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen in jeder Bank etliche Kassierer hinter Panzerglas Geld zählten. In den Fahrkartenhallen der Bahn saßen dicke Männer und wälzten mit gequälten Mienen meterdicke Fahrpläne, um eine Verbindung herauszufinden. Da kann man nur sagen: It's all over now, baby blue! Und in den kommenden Jahrzehnten wird die Digitalisierung noch mal Abermillionen Jobs vernichten! Diese Komiker von VW gehören sozusagen einer aussterbenden Spezies an. Die Zeiten der traditionellen Linken, die von der Erfahrung des Industrieproletariats geprägt war, sind vorbei. Heute haben wir einen Kapitalismus, der kaum noch wächst, sondern sich in einer Dauerstagnation befindet, die auch durch noch so niedrige Zinsen nicht zu beseitigen ist. Und der vor allem immer weniger menschliche Arbeitskraft braucht. Im Euroraum insgesamt ist die Arbeitslosigkeit ja auch riesig. Die westlichen Gesellschaften insgesamt sind irrsinnig reich und zugleich werden all die Überzähligen prekarisiert und ins Elend gestürzt.

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