Menschen, Bilder, Emotionen

Montag, 7. November 2016

Im Laufe dieses Jahres hat sich nach und nach erwiesen, dass der Beginn desselbigen doch nur eine ganz normale Silvesternacht war, wie man sie seit Jahren »feierte«. Geknalle in Menschenmengen hinein, versuchte Antänzelei, durch Alkohol aufgeheizte sexuelle Überreizung und die Bereitschaft, es richtig krachen zu lassen. Unschön fürwahr, aber eben schon seit geraumer Zeit Silvesterrealität. Und ganz sicher keine besondere Eskalation aufgrund der Aufnahme von Geflüchteten. Dass die Ereignisse zur Grenzöffnung irgendwas mit dieser Nacht zu tun haben sollten, das war das Narrativ des Jahres 2016. Auf dieser Geschichte baute der Kurswechsel der Bundesregierung. In der Silvesternacht wurde im Grunde der Deal mit der Türkei geboren und die Schaffung neuer sicherer Drittländer in die Wege geleitet. Der von Politik und Medien erzeugte Hype war das Fanal.

Eine Richterin musste sich kürzlich erst bei drei Angeklagten entschuldigen und sprach sie in diesem Sinne frei. Die Ermittler hätten dramatisch versagt. Rechtsstandards bei der Ermittlung rechts liegen gelassen. Wieder ein Fall aus der mittlerweile zum nationalen Andenken gewordenen Silvesternacht, der sich nicht so klärte, wie man sich das gedacht hatte. Den drei jungen Männern war nichts nachzuweisen, auch wenn es »starke Anhaltspunkte« gegeben hätte. Die bestehen in dieser Angelegenheit aber auch schon dann, wenn man nur anwesend war. Die Richterin rügte die Polizeiarbeit, die sich danach ausgerichtet hätte, dem »öffentlichen Druck und auch den der Medien und der Politik unbedingt Ermittlungserfolge« folgen zu lassen. Was sie überdies wunderte, dass war das traumatisierte Opfer, das noch Stunden danach gefeiert hätte nach den angeblichen Übergriffen.

Es ist aber auch nicht einfach für die Ermittler. Das muss man schon mal sagen. Sie wurden massiv mit Anzeigen bombardiert, die sich als haltlos erwiesen. Alle nachgereicht in den Tagen nach Silvester. Manchmal mit Wochen Verspätung. Da hat die Polizei teilweise gut recherchiert und vermeintliche Tatbestände aussortiert. Wenn das zu oft vorkommt, entsteht vielleicht ein Bedürfnis, der öffentlichen Hysterie doch beizukommen und etwas zu liefern. Wer weiß, wer weiß.

Die ganze Angelegenheit war von Anbeginn an schon sehr kurios. Ein massives Polizeiaufgebot konnte in der besagten Nacht nichts feststellen, was nicht so war wie immer, wenn die Leute ins neue Jahr hineinfeiern. Natürlich gab es von allem etwas. Diebstahl, sexuelle Übergriffe, Gewalt. Es wurde im üblichen Rahmen eingegriffen. Tagelang geschah nichts, dann brach Hysterie aus. Medien berichteten von einer Anzeigenflut, die es aber nach jeder Silvesternacht gab und die weitere Opfer gebar. Plötzlich schossen mehr und mehr Anzeigen aus dem Boden. Viele davon erwiesen sich, wie gesagt, als haltlos oder wurden sogar als Lüge enttarnt. Später bestätigte die Polizei, dass die meisten Anzeigen wegen sexueller Delikte keine Übergriffe zur Grundlage hatten, sondern verbale Entgleisungen. Wer einen kritischen Überblick über die Ereignisse benötigt, der sollte übrigens in Finkeldeys »Kritik und Kunst« stöbern. Er tat sich dieses Jahr als kritischer Chronist der Ereignisse hervor. Leider hat man fast das Gefühl, dass er der einzige kritische Chronist jener Angelegenheit im Lande ist, was viel über den Journalismus aussagt ...

Wer rief, das alles sei inszeniert, der galt gleich als Verschwörungstheoretiker. An eine Inszenierung im eigentlichen Sinne glaube auch ich nicht. Natürlich war da was an Silvester. Alle Jahre wieder dasselbe. Die Inszenierung fand in den Redaktionen und in den Räumlichkeiten der PR-Strategen der Politik statt. Da hatte man was, was man dazu umfunktionieren konnte, um eine Abkehr vom ungeplanten Willkommenskulturkurs zu begründen. Man musste es nur geschickt anstellen und die Bevölkerung insofern für sich gewinnen, dass sie zugleich wütend, verängstigt und zur Mithilfe bereit ist. Das ist ihnen gelungen. Fast einen Monat lang gab es ein klares Übergewicht in den Medienberichten zum Thema. Es wurde Tag für Tag schriller, die Meldungen sprachen von täglich neuen Anzeigen und Experten nahmen die Berichte als Tatsachen hin und halfen dabei, aus dem Narrativ einen Akt der nationalen Wiedererweckung zu stilisieren. Denn so könne es für uns Deutsche ja nicht weitergehen, nicht wahr. Jetzt müssen Gesetze her, Abhilfe geschaffen werden.

Menschen, Bilder, Emotionen. Genau so lief das. Und exakt so heißt auch eine der vielen Rückschauen, die im Fernsehen jährlich ausgestrahlt werden. Dort wird wohl gleich zu Beginn von diesem Beginn die Rede sein. 2016 - das Jahr, das mit einem Schock begann. Das war es tatsächlich: Ein Schock. Schockierend zu sehen, wie leicht man instrumentalisieren und hysterisieren kann. Ereignisse aufgreifen und einen Hype stricken: So macht man Politik in einem Zeitalter, in dem sich die Kritikfähigkeit postdemokratisch austrocknen hat lassen.

Menschen, Bilder, Emotionen: Ihr wollt einen richtigen Rückblick auf 2016, nicht nur die Wiedergabe der Wiedergabe der Ereignisse? Einen Ausbruch aus dem Mikrokosmos der gängigen Deutungshoheit? Dann besucht eiligst den Blogger und Autor Hartmut Finkeldey und blättert bei ihm durch das Jahr 2016. Je weiter ihr euch vorarbeitet, desto mehr wird euch bewusst, dass von der ursprünglichen Erzählung nicht mehr so viel übrig ist.

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