Luther hätt' die FAZ gelesen

Mittwoch, 9. November 2016

Die Allgemeinen aus Frankfurt, man ahnte es ja schon, die sind keine modernen Konservativen mehr. Aber das waren sie sicherlich mal. Seinerzeit pflegten sie noch ein modernes konservatives Weltbild, wenn es dergleichen überhaupt gibt. Eines, das man nicht mögen, das man als Gegner allerdings hier und da auch mal argumentativ abrufen musste, um halt auch mal über den Tellerrand zu blicken. Um zu verstehen, wie die Gegenseite es sieht. Heute sind sie nicht mehr argumentativ, sie haben sich ins postfaktische Zeitalter verabschiedet und deklinieren die ökonomischen Realitäten fast schon propagandistisch. Und zuweilen tritt sogar hervor, wie sie aus der modernen Welt fallen. Zuletzt mal wieder mit einem Kommentar, der der Republik einen Imperativ aufhalste: Mehr Luther wagen. Du lieber Himmel, eine Figur des ausgehenden Mittelalters als Prototyp des modernen zoon politikon empfehlen diese Mediävisten dem Land. Das lässt tief blicken. Außerdem ist es ja nicht so, dass dem Luther seine Kirche zu wenig von ihm hätte. Weniger täte ihr eher gut.

Mehr Luther wagen also. Das setzt diese Tageszeitung also tatsächlich einem Credo nach mehr gewagter Demokratie entgegen. Als sei es dasselbe, so behandeln sie beide Aussagen. Luther war - modern gesprochen - ein Antisemit; und Moslems mochte er auch nicht besonders. Das kann man ihm ja nicht mal zum Vorwurf machen. So waren die Zeiten. Obgleich er ein Zeitgenosse der Renaissance war, und seine Kritik an der katholischen Kirche ist vor allem eine Kritik an den Auswüchsen der Renaissance-Menschen innerhalb des Klerus, war er in vielerlei Hinsicht tief im Mittelalter verwurzelt. Ihn plagten Dämonen geradezu physisch, wie uns Chronisten berichteten. Von Streitgesprächen mit dem Teufel, die er in seiner Kammer lautstark ausfocht, war die Rede. Wie ein Mensch des Mittelalters gelang es ihm ganz offenbar nicht, die Grenzen zwischen Diesseits und Geisterwelt oder Jenseits scharf zu ziehen. Und wir sollen also die Werte eines Menschen wagen, der schon damals ein intellektuelles Auslaufmodell war?

Selbst wenn man ihn als Modernisierer lesen möchte: Ein Mensch, der vor 600 Jahren sein Leben führte, kann doch nicht ernstlich als Vorbild für eine komplexe Welt wie die aktuelle gelten. Wer dergleichen als Forderung in den Raum wirft, der muss geradezu an einen zynischen Hang zur Simplifizierung des Weltgeschehens leiden. Welche ökonomischen Vorschläge kann ein Mensch erteilen, der in einer Epoche lebte, da Wirtschaftswachstum so fremd war, wie auch nur ein rudimentär ausgeprägtes ökonomisches Basisverständnis?

Aber eines muss man ohnehin mal klarstellen. Dem Luther seine Kirche wagt ihn doch. Ganz oft. Viel zu oft. In der Erinnerung präsent ist die reformistische Zeit, da die Agenda 2010 aktiviert wurde und die Evangelische Kirche in Deutschland und ihr Vorsitzender ganz vehement für einen schlankeren Staat warben. »Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive« war damals das Motto - ein allgemeines Lob der Angebotsökonomie. Da trat seine Kirche fast ein bisschen auf wie er selbst, als er »wider die Bauern« zürnte und der Obrigkeit Gewalt ans probates Mittel ans Herz legte, um sich gegen den Pöbel zu wehren, denn »drum gab [Gott] der Obrigkeit nicht einen Fuchsschwanz, sondern ein Schwert in die Hand.« Womit vielleicht klarer würde, warum man in der Frankfurter Redaktion grundsätzlich nichts gegen mehr gewagten Luther hätte. Der weiß wenigstens, wo jeder seinen Platz in der Ordnung einnimmt und hat die Leute nicht unnötig aufgewiegelt. Ach, wenn doch die Leute auf Anti-TTIP-Demos auch mal wüssten, wo ihr Platz ist ... Luther könnte da behilflich sein.

Natürlich hat Luther den Fortgang der Geschichte beeinflusst. Insofern ist das Gedenken an seine Person ja gerechtfertigt. Aber eine Empfehlung an unsere Zeit kann er nicht sein. Kann keiner sein, der in völlig anderen Verhältnissen lebte. Dass aber eine Tageszeitung den mittelalterlichen Wertekanon als Ideal anpreist, das offenbart abermals, dass dieser publizierte Konservatismus keine zukunftsweisende Ausrichtung hat, sondern sich lieber im Mittelalter einigelt. Das sind Kommentare aus dem ausgehenden Mittelalter - und die betagteren Abonnenten können sich sicher noch an diese Zeit erinnern. Luther hätte die FAZ gelesen. Die Zeitung für den Menschen von gestern.

4 Kommentare:

Anonym 9. November 2016 um 20:36  

Sehr gut analysiert!

„Seinerzeit pflegten sie noch ein modernes konservatives Weltbild, wenn es dergleichen überhaupt gibt.“

War es nicht sogar Frank Schirrmacher, der mal meinte: „Konservativ bedeutete den Mensch so zu nehmen wie er ist, anstatt ihm vorzuschreiben, wie er sein soll.“?
Im diesem Sinne wäre dann ein moderner Konservativer jemand, der auch akzeptiert, dass es z.B. Homosexuelle Paare gibt und diese Partnerschaften dann unter einer traditionellen, eben konservativen, Ehe gefestigt sehen will, anstatt diesen Menschen vorzuschreiben, dass sie gefälligst so leben sollen wie man selbst.
Ein richtiger Konservativer, der von seinen Werten überzeugt ist, sollte sich ja auch nicht gleich bedroht fühlen, wenn jemand andere Werte hat, sonst wäre er ja ein Rechtsextremer.

Und was Martin Luther anbelangt, so war er meiner Meinung nach ja eher ein Reaktionär. Er suchte in der Bibel ja gerade das traditionelle Christentum, in dem es z.B. keinen Ablasshandel gab und wollte die katholische Kirch dahingehend reformieren, dass sie zum traditionellen Christentum wieder zurückfinden sollte.
Auch ein Grund, warum er nicht als Vorbild taugt.

Rano64 10. November 2016 um 14:34  

Der Protestantismus und der Calvinismus sind ein ganz wunderbarer ideologischer Unterbau für den Neoliberalismus und deswegen ist "mehr Luther" wirklich eher zum Fürchten

Hartmut 14. November 2016 um 22:00  

Na, da gibt es ja wenigstens EIN Thema, wo Herr Erdmann und du euch einig seid. Luther ist doof:

http://feynsinn.org/?p=6527

Zitat: "Ein Mensch, der vor 600 Jahren sein Leben führte, kann doch nicht ernstlich als Vorbild für eine komplexe Welt wie die aktuelle gelten."

Das ist eine steile These, denn dann müssten so einige Denkmäler fallen. Es geht ja nicht darum, Luther oder sonst irgend einen längst Verblichenen als Welterklärer des 21. Jahrhunderts zu huldigen, sondern die Bedeutung so manch historischer Person beruht meist auf sehr wenigen, wenn nicht sogar jeweils nur EINER Leistung oder Tat. Wenn man das nicht vergisst, kann man auch Luther für seine reformatorischen Ideen schätzen, und muss sich dafür nicht gleich entschuldigen, weil er gleichzeitig Juden nicht mochte und sie mit seiner derben Sprache beschimpfte und kritisierte. ER war eben auch kein Heiliger, sondern ein Mensch, wo Fortschritt und Defizite in einer Person vereint sind. Den frühbürgerlichen Sozialisten, Revolutionär und Gegenspieler Luthers gab dann Thomas Müntzer. Wer ihn politisch korrekter findet, sollte statt (oder nach der Wartburg) das Panorama-Museum in Bad Frankenhausen besuchen. Das Riesengemälde im Rundbau auf dem Schlachtberg, dem historischen Platz der Bauernschlacht ist durchaus eindrucksvoll.

ert_ertrus 15. November 2016 um 21:20  

Thomas Müntzer – der erste Befreiungstheologe!

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