Zum Tag der deutschen Reinheit

Montag, 3. Oktober 2016

Ein Jahr ist es nun her, dass sich die Einheit ein Vierteljahrhundert jährte. Wasn Fest das war in Frankfurt. Gute Stimmung, der Optimismus war Deutscher an jenem Wochenende. Gelungen sei die Einheit, hatte man seinerzeit wieder mal selbstzufrieden festgestellt. Das konnte man ob der Laune auch annehmen. Schon in den Jahren zuvor stellte man fest: Es läuft. Niemand hatte die Absicht über Trauer zu berichten. Obschon viele junge Menschen aus dem Osten blühende Landschaften nur durch Abwanderung kennenlernen durften, könne man trotzdem von einer gelungenen Vereinigung sprechen, las, hörte, sah man allerorten. Oh ja, die Deutschen seien wieder ein glückliches Volk. Als hätten sie vorher nur geweint und keinerlei Freude im Leben gehabt. Es gab freilich noch so allerlei Blablabla weiter, Sonn- und Feiertagsreden halt, positiv und nicht zu anspruchsvoll, der Bürger sitzt gerne in der Sonne. Ein Blick auf Deutschlands Straßen und Urnen in den letzten Monaten jedoch und dann nochmal kurz reflektiert: Hat dieses wiedervereinigte Deutschland im letzten Vierteljahrhundert wirklich alles so richtig gemacht?

Vor was fürchteten sich die europäischen Nachbarn, als die beiden Deutschländer aufhörten gegeneinander zu mauern? Die hatten nämlich tatsächlich Ängste. Die Polen ganz speziell. Da ging es um Oder und Neiße und diesen Koloss, der sich inmitten Europas andeutete. Wie Bismarck vor ihm, so musste auch Kohl erklären: Wir sind saturiert. Keine Angst, wir sind dann zwar groß, aber das steigt uns nicht zu Kopf. Die Briten und Franzosen hegten ähnliche Ängste. Eher so aus wirtschaftlicher Perspektive freilich. Kurz und gut, Europa fürchtete sich davor, dass die deutsche Einheit letztlich dazu führen könnte, dass die Deutschen ihre Einheit mal wieder mit Reinheit verwechseln könnten. Vereinigung mit zwei R schreiben würden. Was sie anfangs ja auch taten, Szenenapplaus von Anwohnern und Polizisten in Lichtenhagen und türkische Familien in Flammen im westlichen Teil der Republik inklusive. Dann ging der Spuk in den Untergrund. Und heute feiern wir erstmals ganz ungeniert mit einem R vor dem Bekenntnis und mit Parteien, die dieses neue Selbstbewusstsein ganz ungeniert zur Schau tragen.

Einheit ohne Reinheit scheint vielen Menschen gar nichts zu bedeuten. Globalisierte Welt und Internationalisierung hin oder her, man wünscht sich das reinlich Vaterland. Gesäubert von Fremden. Und dafür gibt es Massenmandate. In den letzten Jahren hat man sich stets pünktlich zum 3. Oktober was vorgemacht, sich eingeredet, dass der Prozess jetzt so gut wie abgeschlossen sei, man ein neues, weltoffenes Deutschland installiert habe. Die soziale Unausgewogenheit war an solchen Tagen nie Thema. Ich erinnere mich an den fünfzehnten oder vielleicht auch erst an den zwanzigsten Jahrestag, man hatte eine Gruppe alter Ex-SED-Greise vor einem Mikrofon positioniert, wohl bedeutende Männer seinerzeit, ich kannte keinen. Sie wirkten grau und unscheinbar, Mauerblümchen eben. Ob sie denn zufrieden seien mit der Einheit, fragte sie ein Reporter in sichtlicher Feierlaune. Einer von den Grauen antwortete, er sehe immer noch zu viel soziale Disharmonien, insofern ist die Einheit keine absolute Erfolgsgeschichte. Der Fragesteller guckte pikiert drein, zog ihm das Mikrofon weg und machte weiter im fröhlichen Programm. Aber so belanglos wie der alte Herr auch wirkte, er ging in medias res und das Jahre vor Pegida und Kollegen.

Es hat dann also doch ein Vierteljahrhundert gedauert, bis dem letzten Optimisten und Propagandisten klar geworden ist, dass die Wiedervereinigung wenn nicht gescheitert, so doch ein Vakuum hat entstehen lassen. Ach? Das ist denen noch immer nicht klar? Mensch, die Einsicht ist doch keine Gleichung, die man diffizil ausloten müsste, sie wäre so einfach zu erlangen. Nun gut, sie liegt zwar nicht auf der Straße, wie man es so schön sprichwörtlich sagt, aber dort spielt sie sich ab. Man muss halt mal hinschauen. Am besten kurz bevor man zur jährlichen Feierrede anhebt, in denen man den Deutschen mal wieder einzureden versucht, das launigste Volk überhaupt zu sein.

In Bautzen zum Beispiel, da marodieren Frauen und Männer nicht etwa deswegen, weil sie ein so schlechter Menschenschlag sind. Sie tun es, weil sie keine Perspektiven sehen, keine Möglichkeit aus diesem Dilemmakonglomerat aus Massenarbeitslosigkeit, Aufstockerei und Abwanderung herauszukommen. Die reden sich doch nur ein, auf Ausländer wütend zu sein. Sie sind es in Wirklichkeit vor allem auf Inländer, auf die Leute, die ihnen Teilhabe verwehren. Und auf deren Handlanger, Zeitarbeitsdisponenten und behördliche Arbeitsvermittler beispielsweise. Vielleicht wissen sie einfach nur nicht, auf wen sie eine Mordswut haben. Oder sie wollen es nicht wissen, denn das ist letztlich auch viel einfacher. Ein Syrer wehrt sich ja kaum, dem kann man eins in die Fresse geben; die Lobby des Sozialabbaus jedoch schlägt wild um sich und übt Rache.

Der Mob als Opfer also? Jedenfalls kann man sagen, dass sie Opfer waren, bevor sie zu Tätern wurden. Mit der irrationalen Umkehr der Rollen, vom Opfer zum Täter, haben sie vielleicht einfach nur phasenweise den Eindruck, sie seien Herr über ihre Lage und nicht höheren Mächten ausgeliefert. Aber dies ist natürlich eine laienhafte psychologische Deutung und insofern hier nicht relevant. Was man aber behaupten kann: Diese Leute sprechen von deutscher Reinheit, weil ihnen die deutsche Einheit nichts einbrachte. Nichts, was ihr Leben auf irgendeine Weise verbesserte.

Einheitstage waren stets nur Tage, an dem das, was man »die Nation« nennt, zusammenstand und so tat, als gäbe es so einen einheitlichen Block, vereinheitlichte Interessen, keine klassenspezifischen Bedürfnisse mehr. Aber in diesem Block fanden sich Unternehmer und Angestellte, Arbeitende und Arbeitslose - Gewinner und Verlierer also. Die Gewinner interpretierten natürlich, wie eigentlich immer und überall, was Einheit zu bedeuten hat. Im gesamten Jahr, das zwischen dem heutigen und dem letzten Einheitstag lag, hätten wir lernen können, das Deutschland nach der Einheit mal mit den Augen der Verlierer zu betrachten. Da hat sich durchaus was aufgestaut in all den Jahren, etwas, das noch verschärft wurde durch Sozialabbau und moralische Zeigefinger gegen die angeblichen Sozialschmarotzer. Wenn ihnen die Einheit schon nichts einbrachte, vielleicht ja das Geschrei um mehr Reinheit. Surrogat halt. Ersatz für fehlende Teilhabe. Die sozial gescheiterte Einheit, hier haben wir sie in drastischer Art und Weise. Tag für Tag neu und fortwährend brutal und abgestumpft.

Diese Einheit ohne sozio-ökonomische Teilhabe war immer nur eine Worthülse. An jedem dieser Festtage haben die Festredner das ignoriert und munter die Leistungen gelobt und die deutsche Erfolgsgeschichte erzählt wie ein kleines Märchen in einer ansonsten traurigen Welt. Es wird Zeit zuzugeben, dass die Einheit falsch angegangen wurde, als betriebliche Übernahme ohne Sozialplan. Austerität ist keine Tugend, mit der man vereint. Kosten-Nutzen-Rechnungen, die über menschliche Schicksale entscheiden, beseelen nicht einheitlich.

Und dann kommen eben mal Rattenfänger und wie von der Melodei entzückte Kinder laufen sie ihm nach und feiern zusammen einen Tag der deutschen Reinheit. Auch so eine Erzählung, die eine neue Einheit begründet. Exklusive Einheit eben. Zutritt nur für Auserwählte. Das passiert nämlich auf Dauer in Deutschland, wenn man eine breiten Masse den Zutritt willentlich verweigert. Man lehnt sich nicht gegen die Begründer der Misere auf, sondern gegen die andere Hälfte der Wehrlosen. Und wem nützt es? Schöner Feiertag und viel Freude beim Wir-haben-es-geschafft-Wichs. Guckt auf die Straße und in die Resultate von Landtagswahlen: Dann wisst ihr, diese einseitige Einheit, in der sich das westliche Wirtschaftskonzept als Sieger fühlte und so auftrat, als brauche es keine Rücksichten mehr nehmen, das schafft nichts. Es macht uns nur zu schaffen.

2 Kommentare:

Anonym 3. Oktober 2016 um 18:01  

N U L L!!

Aber der Tag ist ja noch "lang"!

ad sinistram 4. Oktober 2016 um 07:36  

Fein wie du immer Null schreibst. Gut machst du das.

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