#Aufschrei der Dummheit

Dienstag, 8. September 2015

Facebook war immer mehr oder weniger eine Bekenntnismaschine. Man ließ dort heraushängen, wofür oder wogegen man war. Das schuf imaginäre Identität. «Je suis Charlie« war ein berühmtes Beispiel dafür. Plötzlich waren sie alle dieses Karlchen und hatten Bilder und Avatare davon auf ihrer Seite. In den letzten Monaten häuft sich das Bekenntnis zu einem Deutschland, das schrecklich ausgetrickst wird und ins Hintertreffen gerät. Freiheitskampf und Patriotismus dominiert manches Profil bei Facebook. Es ist, als ob die Deutschen in einen Endkampf geraten seien. Und das, obgleich sie synchron die Rolle einer Hegemonialmacht in Europa eingenommen haben. Völlig paradox tun manche so, als müsse Deutschland eine Opferrolle erfüllen. Sie bauen auf, muntern sich auf und deklarieren das Deutsche, das die Welt angeblich aus der Welt züchten will.

Ich habe selbst Leute in meiner Freundesliste, die ich für relativ unverdächtig hielt. Sie kommen aus der Klasse, die man früher mal «Arbeiterklasse« nannte. Sie posten, dass sie sich von Merkel und der politischen Klasse verarscht fühlen. Die Politik der USA stinkt ihnen. TTIP halten sie für gefährlich. Sinkende Löhne und diesen Arbeitsmarkt, der immer mehr Zumutungen birgt, möchten sie so nicht aktzeptieren. Beste Voraussetzungen für Bedachtsamkeit eigentlich. Aber gleichzeitig kehren sie den Patrioten heraus, wettern gegen Flüchtlinge und Überfremdung und gerieren sich als die letzten deutschen Eichen, die sich dem Fällen zur Wehr setzen. Alles trägt dabei den Unterton des Opfers. Das deutsche Volk ist demnach Opfer von hoher Politik und von Fremden. Oder besser noch: Die Politik holt Flüchtlinge ins Land, um das Deutsche langsam auszurotten. Verschwörungstheorien fallen derzeit auf fruchtbaren Boden.

So spielt man dann auch die Armen gegeneinander aus. Für Flüchtlinge habe man Geld, zahle man allerlei. Aber Arme mit deutschem Pass müssten Flaschenpfand sammeln, auf der Straße leben und von Resten leben. Die Relationsetzung zwischen Zeltlager und Hartz IV ist grotesk und lächerlich, kommt aber gut an. Vor der Flüchtlingswelle waren Bezieher von Sozialleistungen noch Abschaum. Obdachlose ein Fall für Arbeitshäuser. Heute werden sie völkisch aufgewertet. Jetzt sind auch sie zugehörig. Zeltlager und Hartz IV kann man jedoch gar nicht miteinander vergleichen. Aber das stört die neue Bekenntnis-Tour dieser Patrioten nicht sonderlich. Es geht nur um so ein Bauchgefühl, nicht um durchdachte Ansätze. Um völkische Ansätze halt. Um die Auflösung der Erkenntnis, dass wir alle die Opfer von Eliten sind, die uns gegeneinander aufwiegeln.

Dieser neue deutsche Stolz, er generiert Bekenntnisse. Zum Glück noch bei Facebook. Ist in Heidenau das Internet ausgefallen? Repariert es! Schnell! Zurück dorthin, wo der Aufschrei der Dummen sich in Bildchen und Statements erschöpft. Baut DSL aus, macht es schneller, damit diese Leute dort bleiben und nicht dort, wo sie ihren Wahnsinn realiter werden lassen können. Wer Dingen die Relevanz nehmen will, stellt es ins Internet, schrieb Grabow mal. Schafft also Zugänge zum Net. Ohne Störungen. Denn solange sie dort rummachen, sind sie zu beschäftigt mit dem echten Leben. Hoffentlich. Denn wenn sie doch mal von ihrem Kasten hochsehen, dann wird es gefährlich. Denn Bekenntnisse, das sind die Vorboten.

11 Kommentare:

EuRo 8. September 2015 um 06:59  

Der letzte Absatz ist der wichtigste. Denn so können die tausenden ehrenamtlichen Helfer ungestört die Turnhallen in meiner Umgebung halbwegs wohnlich gestalten.
Brot und Spiele. Warum das Prinzip nicht mal so herum anwenden.

Werner Thunert 8. September 2015 um 10:34  

Es ist schon so wie sie schreiben. Eine "neue Rechte" besetzt Positionen die z.B. bei TTIP dort nicht vermutet wurde, weil es einer Recherche bedarf um zu erkennen welches Potential dahinter steckt. Dass Demokratie zurück gedrängt wird mit den bisher erkennbaren Regelungen zu TTIP, das dürfte "die Rechte" wenig interessieren, denn sie mögen Demokratie nicht sehr. Warum also findet man die Typen dort? Sie springen gerne, auf bereits in Fahrt befindliche Bewegungen und versuchen sie zu okkupieren. Bei den Piraten hatten sie sich so verhalten, bei der AfD hatten sie ja nun Erfolg und mit der TTIP-kritischen Aktion haben sie sich wieder eine Plattform ins Visier genommen. Dort allerdings treffen sie auch auf ihre Lieblingsfeinde von der "Antifa", bin ja mal gespannt wie sich das gestalten wird. Sehr problematisch kann es werden, wenn die Einheitspresse dort Bilder schießt von "Neonazis" die sich unter die Demonstranten gemischt haben und so dann der Anlass für eine Nähe zur "rechten Szene" suggeriert wird.

Reinard 8. September 2015 um 11:03  

Schreib ich's eben nochmal, jedenfalls so ähnlich:

Etwas fehlt mir, der Artikel vergisst das Davor. Diese Menschen sind nicht vom Himmel gefallen, sie haben Eltern, Lehrer, Vorbilder. Und das ganze rückwärts ad infinitum. Der Blick auf die Anstifter, die Verursachern, ihre Schergen fehlt. Und wenigstens die Vermutung, es könnte so gewollt und billigend in Kauf genommen sein. Und ein Ausblick, wie das korrigiert, zukünftig zu verhindern sein könnte. Versuch zu diskutieren statt zu isolieren, zwangsumerziehung? Bitte, ich habe keine Lösung. Aber isolieren verstärkt die zwanghafte Solidarisierung im Sumpf.

Anonym 8. September 2015 um 11:56  

Den Facebooklern, die ich kenne steht das Wasser materiell bis zum Hals und zum Teil darüber.
"Meine"Twittercommunity besteht größtenteils aus Personen, denen Erbe, Häuser und das Restvermögen, dass sie von ihren Ahnen erbten, einfach nur ausreicht, um mildtätig zu wirken.
Traurig, aber leider wahr.

ulli 8. September 2015 um 13:46  

Es wurde in Kommentaren in den letzten Jahren hier schon gelegentlich problematisiert:
Die Bindung von Aktivitätspotential hinter dem Rechner betrifft alle - nicht nur die Rechte.
Jeder sollte sich fragen, wieviel Zeit im Internet in fruchtloser täglicher Selbstbestätigung innerhalb der eigenen Szene versickert und wieviel noch bleibt für politische Aktivitäten in der Außenwelt, die zu Mensch abseits der eigenen politischen Szene wahrgenommen werden.
Das Gefühl der Involviertheit und Aktivität in täglicher gemeinsamer Aufregung über die Dinge ist trügerisch.

Anonym 10. September 2015 um 14:36  

Lieber Roberto J. de Lapuente,

bei aller Zustimmung aber unsere (neoliberalen) Medien sind ja selbst die Hetzer.

Vor kurzem las ich den Satz "in Deutschland soll keiner unter freiem Himmel nächtigen"....im Bezug auf die nun neu eintreffenden Flüchtlinge...

..erzähl das mal einem Obdachlosen, oder jemandem der davon bedroht ist....und damit meine ich generell alle Obdachlosen .... egal ob mit oder ohne dt. Pass....

...die kommen sich doch relativ vera.... vor....

Oder?

Mir ging es so, denn ich bin prinzipiell dafür dass alle Menschen in Deutschland, egal ob Stamm- oder Nichtstammdeutsche, ein Dach über dem Kopf haben....und ausreichend mit allem versorgt sind....

Vielleicht schreibst du ja mal was zu dieser Art von Zynismus die man auch als "teile und herrsche" beschreiben kann, und zwar für alle die arm sind, und nicht wissen wohin....

Gruß
Bernie

Salma 12. September 2015 um 22:24  

Habt ihr mal daran gedacht, dass die Allermeisten in den überfüllten Unterkünften weder Sex haben noch masturbieren können, und das über Monate hinweg? Und das noch bei stark unausgewogenem Geschlechterverhältnis... Oh Gott, das ist doch Folter.

Anonym 17. September 2015 um 16:38  

@Bernie:
Ich halte überhaupt nichts davon, Flüchtlingshilfe gegen Obdachlosenhilfe aufzurechnen. Denn die Probleme sind in keinster Weise vergleichbar und (Langzeit-)Obdachlosigkeit hat überhaupt nichts mit fehlendem Wohnraum zu tun.

Zumindest für Hamburg kann ich versichern, dass eigentlich kein Wohnungsloser unter freiem Himmel schlafen _müsste_, denn es stehen Notunterkünfte in ausreichender Anzahl zur Verfügung. Es gibt sowohl die sozialen Beratungsstellen als auch die Fachstellen für Wohnungsnotfälle, die sehr engagiert daran arbeiten, Wohnungslosen dauerhafte Unterkünfte zu vermitteln. Oftmals scheitern diese Versuche jedoch am Willen oder der Fähigkeit der Obdachlosen selbst, ihre Situation ändern zu wollen. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass die Obdachlosigkeit in den meisten Fällen nur das Symptom für tiefergehende Probleme (psychische Probleme, Drogenabhängigkeit etc.) ist. Diese Probleme lassen sich nur unter Mitwirkung des betroffenen Menschen lösen. Falls diese Mitwirkung jedoch nicht gegeben ist, wie weit darf die Gesellschft dann in die Entscheidungsfreiheit des Betroffenen eingreifen? Soll der Staat alle Wohnungslosen zwangsunterbringen, wie dies z.T. bei extremen Winternächten getan wird?

Gruß,
Kai

Anonym 18. September 2015 um 14:52  

@Kai

Ich rechne gar nichts aus und ob die Sache mit den Obdachlosen so einfach ist wie du schreibst mag ich bezweifeln denn auch da las ich mal, dass gerade die Obdachlosenhilfe ja gerne Obdachlose gegen Obdachlose ausspielt, und ganz genau das Spiel spielen die jetzt eben mit Obdachlosen und Flüchtlingen....ich halte es für zynisch solche Sprüche zu bringen wie den von mir erwähnten denn es gibt durchaus Menschen in Deutschland die im Winter sogar im Freien verbringen müssen....Frage: Woher kommt deine Erfahrung? Vom Hörensagen? Nur mal so in den Raum gestellt weil du Obdachlosen pauschal "tiefergehende Probleme" unterstellst, und dies in (neoliberalen) Zeiten wo jeder, auch du irgendwann, völlig unverschuldet in Obdachlosigkeit landen kannst....

Was die angebliche Zwangsunterbringung von von Wohnungslosen angeht mal ganz zynisch angemerkt sollen die lieber erfrieren statt im tiefkalter Winternacht eine warme Unterkunft haben, wenn auch nur "zwangsuntergebracht" (wie du meinst)?

Frägt sich
Bernie

PS: Sorry, las so eben dass du dich auf den Raum Hamburg konzentrierst und nicht auf Restdeutschland, da gibt es nämlich durchaus, auch in ländlichen Gegenden, Obdachlose die unter freiem Himmel nächtigen sollen .... bei der riesigen Fläche Deutschlands, und den unterschiedlichen Regierungsverantwortlichen in den jeweiligen Kommunen, Landratsämtern und Bundesbehörden.....Nur mal so als Beispiel, die hiesige Bahnpolizei hat schon manchen Obdachlosen vom Bahnsteig vertrieben der dort nächtigen wollte....Ist das nicht unter "freiem Himmel"? Zynisch angemerkt.

Anonym 18. September 2015 um 17:49  

@Bernie

Zur Klarstellung: Die sogenannten Straßenobdachlosen machen mit etwa 25.000 Menschen deutschlandweit nur etwa 10% der Wohnungslosen aus, die restlichen 90% sind oftmals bei Freunden, Verwandten oder in Wohngruppen untergekommen. Beim Vergleich mit Flüchtlingsunterkünften werden jedoch genau diese Menschen, die unter freiem Himmel schlafen, in die Diskussion geworfen. Da zeigt dann schon ein Blick auf die Zahlen, dass es hier um ganz andere Dimensionen geht.

Ich beziehe mich in der Tat auf Hamburg, weil ich hier einen gewissen Einblick in die Szene habe. Sicher gibt es keine einfache Erklärung für Obdachlosigkeit, das habe ich aber auch nicht geschrieben. Gerade in Hamburg ist bezahlbarer Wohnraum Mangelware und in der Tat stimme ich Dir zu, dass jeder von Wohnungsverlust betroffen sein kann (obwohl selbst in Hamburg über 2000 Wohnungen dauerhaft leer stehen). Es ist jedoch durchaus so, dass in den allermeisten Fällen Obdachlosigkeit vermieden werden kann. In den Fällen, wo dies nicht der Fall ist, scheitert es leider meist an den Betroffenen selbst, da diese aufgrund mannigfaltiger anderer Probleme nicht in der Lage oder Willens sind, auf die Angebote der Fachstellen einzugehen. Die Verwaltung könnte viel mehr Menschen unterbringen, wenn die Betroffenen dies wirklich wollten.

Bei der Zwangsunterbringung hast Du mich offenbar missverstanden. Es ist nämlich so, dass die Notunterkünfte das ganze Jahr kaum ausgelastet sind, weil die Leute lieber auf der Straße nächtigen, als in einer Notunterkunft. Selbst im tiefsten Winter gibt es immer noch Obdachlose, die lieber im Freien übernachten und dann von Sozialarbeitern überredet werden müssen, oder zu ihrem eigenen Schutz von der Polizei zwangsuntergebracht werden. Dies stellt jedoch die Ausnahme dar, denn der Staat darf eben nur dann zu solchen Maßnahmen greifen, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht.

Gruß,
Kai


Anonym 19. September 2015 um 22:20  

@Kai

Danke für deine Hinweise ;-)

Da brauch ich mir dann keine Sorgen zu machen wenn ich mal selbst unverschuldet, da Teil einer sogenannten Gesetzlichen Erbengemeinschaft, in Obdachlosigkeit landen sollte.

Zynische Grüße
Bernie

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