Herr Erdmann und die Revolution

Freitag, 20. Juni 2014

Rechenschaft abzulegen war fällig. Die ganze Zeit juckt es mich schon. Revolution oder Reform? In den Sozialismus oder gezähmter Kapitalismus? Letzteres ist für mich kein Widerspruch. Ich ließ da kürzlich was anklingen. Und diese Zeilen sollen der Versuch sein, ein wenig mehr dazu zu formulieren und ein Streitgespräch mit dem geschätzten Erdmann anzubahnen.

Er hat schließlich den Anfang gemacht. Hat mir zugerufen: »Hey, du bekennender Sozi, erkläre dich.« Mit seinen »Kreidestrichen« hat er mir jetzt einen Vorwand geliefert, mich endlich des Themas zu widmen. Danke. Einer musste mir ja mal in den Arsch treten.

Was ich bei Erdmann oft lese, hat ein bisschen theologischen Charakter. Ich will das gar nicht abwerten. Auch das linke Seelenheil braucht Balsam. Und linke Theologie ist nicht unwichtig. In ihr steckt mehr Analyse und Erkenntnisgewinn als im rechten Dogma. Aber sie ebnet nicht den Weg, den man dann auch in der Realität gehen kann. Denn der Gott, der in dieser Theologie steckt, ist der versteckte Gott der Revolution, des Absterbens des amtierenden Systems. Letzteres muss natürlich überarbeitet und gezügelt werden. Aber Systemwechsel? Da höre ich »neuer Mensch« und »neues Bewusstsein« heraus. Und ich bin ehrlich zu alt für diesen Scheiß. Mir haben zu viele Regimes schon neue Menschen produzieren wollen. Nie kam was Gutes dabei herum.

Nein, daran kann man nicht mehr glauben. Und was soll das Geschwätz vom Umsturz auch bringen? So wie ich das sehe, haben wir nur zwei Optionen: Entweder lässt sich der Kapitalismus wie er sich jetzt gibt, an die Leine legen und zähmen oder er zähmt alles Menschliche. Einfach »Stop!« und »Neuanfang!« rufen ist nicht genug.

Evolution oder Revolution? Das ist letztlich die Frage. Und es ist der Vorwurf, den ich aus Erdmanns Text lese. Es ist, als sagte er mir: »Püntes, du musst einsehen, dass Veränderung nur mit harten Schnitten zu bewerkstelligen ist - und was du über Marx sagst, stimmt nicht.« Dabei ist doch zu fragen: »Welchen Marx meinst du?« Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen. Das wusste schon Heraklit. Weil das Wasser des Flusses nämlich nicht zweimal dasselbe ist und weil man selbst nicht immer derselbe bleibt. Auch Marx ging nicht doppelt ins selbe Wasser. Der junge Idealist hatte wenig vom alten Ökonomen, der später freilich nochmal idealistischer wurde zwischen seiner ganzen Wirtschaftswissenschaftlichkeit.

Warum haben sich die ersten Sozialisten Deutschland als Ausgangsbasis für eine sozialistische Revolution ausgesucht? Weil es industrialisiert war, kapitalistische Strukturen und kommunistischen Untergrund hatte. Als dann das agrarische Russland zur Wiege des Kommunismus wurde, glaubte man ganz im marxistischen Sinne nicht daran, dass ein Land ohne Industriekapitalismus diese Neuerfindung von Gesellschaft bewerkstelligen könne. Letztlich behielten diese Stimmen recht. Was ich sagen will: Wir müssen uns eingestehen, dass die soziale Ebnung der Gesellschaft, dass »Sozialismus«, wenn wir es so nennen wollen, die kapitalistische Basis braucht. Gysi hat das vor Jahren ganz ähnlich formuliert. Der Markt muss gar nicht grundsätzlich deaktiviert werden, meinte er sinngemäß. Aber in bestimmten Bereichen habe er nichts zu suchen. Zum Beispiel im Gesundheitswesen oder dem Wohnbau. Aber in anderen Bereichen ist er trotzdem sinnvoll. Diese Einstellung teile ich.

Was nötig wäre ist ein evolutionärer Weg, ein sozialdemokratisches Konzept des Reformismus. Sozialdemokratisch meint hier nicht die neoliberalen Leute um Gabriel, sondern die alte Idee dieses Lösungsansatzes. Die bewirkt keine Wunder und stößt an Grenzen. Aber welche Wahl haben wir sonst? Linke Vorstellungen sind ja ohnedies nur massenkompatibel, wenn sie ohne Aussichten auf Krawall schmackhaft gemacht werden. Wer kann es den Menschen verdenken, dass sie keinen Weg brutaler Umstülpungen gehen wollen?

Ich höre dich unken, Erdmann. Ich höre, wie du sagst: »Den Kapitalismus bändigen? Jetzt spinnst du endgültig.« Aber man muss diese Wirtschaftsform immer und immer wieder an die Leine nehmen. Die Fliehkräfte sind einfach zu groß. Das ist kein Kinderspiel. Aber warum sollte sich die Menschheit eine Bezähmung nicht zutrauen? Wer leugnet, dass man ein System von Menschenhand geschaffen, in den Griff bekommen kann, der bezweifelt aber auch, dass Menschen überhaupt etwas, was sie erzeugt haben, kontrollieren können. Und das ist eine ernüchternde Botschaft. Das ist Fatalismus. Wobei ich auch zugebe, dass mich die Situation des Systems selbst immer fatalistischer werden lässt.

Und jetzt höre ich wiederum die Leser mosern. Sie »Bist du auf Abwegen?« fragen. »Singst hier Hohelieder auf den Kapitalismus.« Nein, das tue ich nicht. Wie er sich jetzt gestaltet, ist er nicht tragbar, er mausert sich zur Diktatur - in manchen Weltregionen ist er es schon. Und ohne Kontrolle ist er ein gefährliches Tier. Aber ohne seine Grundlagen können wir kein gerechteres System begründen. Nichts lässt sich in der Welt ohne das aufbauen, was schon vorher in der Welt war. Mit den Siebzigerjahren, wie du schreibst, hat das aber nichts zu tun. Und falls doch: Was ist so verwerflich daran »zurückzufinden«, wie du es nennst? Nein, es gibt keinen »Willen, dem die Entwicklung folgt« - aber die Entwicklung folgt aus dem, was wir vorfinden. Und das ist nun mal dieses vermurkste System. Es abschalten und was Neues starten: So funktioniert Geschichte nicht. Dass das System krisenanfällig ist, müssen wir nicht explizit nochmals erwähnen. Aber die Krise ist nirgends völlig auszuschließen.

Die Linke braucht ein Konzept. Daran mangelt es seit so vielen Jahren. Und ich bin ratlos wie alle anderen. Der eine Teil der strukturellen Linken passte sich aufgrund dieser Ratlosigkeit völlig an und ist neoliberal, das heißt: beliebig geworden. Wie aber dann? Wir müssen den Kapitalismus anpassen - das scheint mir der einzige Weg, der uns offen bleibt. Dann wird aus ihm auch sowas ähnliches wie ein Sozialismus. So weit die Theorie, keine Ahnung was in der Praxis daraus wird. Mensch Erdmann, sag' du doch auch mal was!


19 Kommentare:

epikur 20. Juni 2014 um 08:25  

Ob Kapitalismus zähmen oder einen neuen Menschen und ein neues Bewusstsein erschaffen - ich halte beides für Utopie bzw. Dystopie.

Eigentlich wissen doch alle Linken, dass es so nicht weiter gehen kann bzw. dass es so nur in einer Katastrophe enden wird. Es fehlt aber häufig der Mut, völlig neu zu denken. Da sind nicht wenige Linke, besonders die alten 70er Sozen, konservativ und veränderungsscheu. Auch sie wollen am Status Quo festhalten, weil es ihnen finanziell eigentlich ganz gut geht. Beispiele hierfür gibt es genug.

Wir kommen an einer "Revolution" (wie auch immer diese dann aussehen mag) nicht mehr vorbei, denn "Kapitalismus zähmen" - sorry, der Zug ist schon längst abgefahren.

Anonym 20. Juni 2014 um 09:16  

Hm, ich verfolge hin und wieder die Diskussionen zwischen Erdmann sowie ein paar Anderen einerseits und Berger - "stellvertretend" für Müller, Flassbeck und anscheinend auch Dir - andererseits.

Grundsätzlich bin ich Erdmanns Ansicht, auch wenn ich mit seinem Stil nicht allzu viel anfangen kann. Die Vorstellung, man könne dieses System in irgendeiner Weise "bändigen", ist naiv und selbstüberschätzend. Marx hat es vorhergesagt, und die Geschichte hat ihn immer wieder bestätigt. Früher oder später gravitieren das Geld an dem einem und die Schulden an dem anderen Pol. Man kann es verlangsamen, "zügeln" oder wie auch immer man das bezeichnen möchte, aber sobald der Stein ins Rollen gekommen ist - aus die Maus. Oder hast Du auch nur ein Gegenbeispiel parat, das deinen Optimismus rechtfertigt?

Was mir bei Dir auffällt, ist ein fehlendes Bewusstsein dafür, wie sehr Du nicht nur in Deiner Denkweise, sondern auch in den elementarsten Auffassungen in dieser Sklavenmoral verfangen bist. Beispiel gefällig?

"Nein, es gibt keinen »Willen, dem die Entwicklung folgt« - aber die Entwicklung folgt aus dem, was wir vorfinden. Und das ist nun mal dieses vermurkste System. Es abschalten und was Neues starten: So funktioniert Geschichte nicht."

Doch! So hat sie funktioniert, als Schulden und damit das Geld eingeführt wurden. Das ist in unserer Region mittlerweile zwar schon ein paar tausend Jahre her, ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass Schulden und Geld keine "natürlichen" Gebilde sind, die ganz von selbst durch den Tauschhandel entstanden sind. Schulden und Geld, die zwei Seiten der gleichen Medaille, sind menschengemachte Konstrukte, um Leute effizient und automatisiert ausbeuten zu können (der "Wille"), die zu jenem Zustand führten, in dem wir heute leben (die "Entwicklung").

Ich habe gerade nicht die Zeit en detail das auszuführen, auf was ich hinaus möchte, weshalb ich anstatt dessen auf David Graeber verweise: https://de.wikipedia.org/wiki/Schulden:_Die_ersten_5000_Jahre Man findet auch Vorträge und Gespräche mit ihm auf youtube.

Lazarus09 20. Juni 2014 um 09:33  

divide et imperia & panem et circenses …

Solange sich der medial betäubte Pöbel mit Wahlen, Petitionen zeichnen , VvJ Gerangel und Fußball beschäftigt hält hat die neo-feudalistische Kapital-Herrschaftskaste nichts zu fürchten... ansonsten will ich nicht mit bekanntem langweilen

dum spiro spero

ninjaturkey 20. Juni 2014 um 10:11  

Als treuer Leser beider Blogs (u.a.) wird mit diesem frisch geöffnete Fässchen mein "sinistrer Feynsinn" gerade prickelnd stimuliert. Bin gespannt, was sich daraus entwickelt.

An einigen Punkten muss ich Dir aber jetzt schon widersprechen. Lösungsansätze zur aktuellen Krise bleiben schon deshalb im Ansatz stecken, weil sie nicht radikal (für NSA & BND: Radikal von lat. radix, Wurzel, vom Grunde/Ansatz her) genug gedacht werden. Wenn ein Wagen einen Hang hinunter rast, dann reicht es nicht, kurz auf die Bremse zu tippen - dann muss man voll in die Eisen steigen.

Deine konziliante Herangehensweise an die Fragestellung berücksichtigt den Unwillen der Fahrer zum Bremsen überhaupt, und regt deshalb zunächst ein Schalten in einen niedrigeren Gang an. Flatter hat dagegen keine Probleme damit, gleich mit dem ganzen Wagen in den nächsten Acker zu brettern, da aus seiner Sicht die Bremsen schon jetzt nicht mehr ausreichen werden.
Teilweise stimme ich Euch beiden zu, wenn ich auch deutlich mehr zu Flatters Position neige. Da ich selbst aber weder ans Steuer, noch an die Bremse komme, nutze ich die verbleibende Zeit um mein Prallkissen aufzublasen (Garten, Hühner, Bienen).

Anonym 20. Juni 2014 um 10:11  

Woran es in diesem Land mangelt, ist, nicht nur die Bereitschaft, unbequeme Entscheidungen zu treffen, sondern auch, jemanden durch sie zu vergraulen.
Es ist das Problem mit den jetzigen Regierungen und auch mit allen weiteren Regierungen, die aus diesem Parteiensystem entstehen werden. Inklusive der Politiker, die nachwachsen werden.
Faktisch kann man behaupten, es ist eine "deutsche Programmierung", etwas, was jeder Deutsche in sich trägt.
Allein dies wird vieles verhindern.

Man nehme ein Beispiel, sagen wir Mindestlohn.
Abgesehen davon, dass viele Gesetze undurchdacht sind und nicht einmal halbgar gekocht wurden, bevor sie in den Beschluss gingen, das Problem an deutschen Politikern ist, sie fügen immer Ausnahmeregelungen hinzu.
Teilweise nehmen diese einen solchen Umfang ein, größer als das Gesetz selbst.
Das Endresultat ist, dass sich durch dieses neue Gesetz nichts ändern wird.
Warum? Weil sich die Politiker nicht entschließen, den obersten Geldbesitzern auch einmal Lasten auifzubürden.
Alle wie sie dort stehen, hegen sie die Befürchtungen, sie würden jemanden vergraulen und somit würde auch notwendiges Kapital abwandern.
Die deutsche Angewohnheit ist, es allen recht machen zu wollen - das Endresultat davon ist, dass sich nichts ändert.
Es gibt nur einen weiteren Paragraphen, der das ordnungsgemäße Verhalten weiter erschwert.

Gerd Hellmood 20. Juni 2014 um 10:28  

Hut ab! Dies ist einer der besten Texte, die ich hier auf dieser Seite, je gelesen habe und ich schaue oft vorbei. Freilich erinnert es ein wenig an den Witz vom Kamm in der Erbsensuppe. Wenigstens ist man an der Stelle, bis zu der man auch gekommen ist, nun nicht mehr allein. Das Problem der "linken Lähmung" ist nicht die Gewissheit der "kommenden Revolution", sondern der neurotische Glaube ans eigene ewige Leben, in dem man sich sicher wähnt, irgendwann Zeuge eben dieser Revolution zu werden.

Anonym 20. Juni 2014 um 11:13  

Es hängt alles davon ab, wie sich die Leute ihre schlechte Situation erklären.
Die Erklärung die für sie gefunden wird, ist immer, dass jemand seine Pflicht nicht erfüllt hat oder dabei versagt hat. Es ist also immer jemand drittes an meiner Lage Schuld. Das vielleicht die Erfüllung meiner Pflicht schon Teil des Problems ist, diesen Gedanken können sie gar nicht fassen.
Das die Bahnen, in denen sich die Leute bewegen die einzigen möglichen sind ihr Leben zu meistern, diese aber dafür gar nicht gemacht sind, verstehen sie auch nicht.

Lohnarbeit brauchen sie fürs Überleben, weil das die Geldquelle ist, aber fürs Überleben ist der Lohn nicht gedacht.

Also solange die Leute demonstrieren und z.B. Missmanagement auf die Plakate schreiben an Stelle von Management, passiert hier gar nichts.

Das Gelalle vom gezähmten Kapitalismus ist für mich lächerlich, denn es braucht immernoch einen Dompteur und den denken sich die Leute in Form des Staates. Der Staat ist doch meinF reund und wil mein bestes. Pustekuchen! Dabei wird die Rolle des Staates im Kapitalismus verkannt. Der Staat ist Verwalter eines Gegensatzes und der heißt, dass die einen Arbeiten und die anderen Arbeiten lassen. Der Staat macht doch mit beim ständigen "entweder die oder wir". Nokia zum Beispiel bekommt Geld geschenkt und Steuern erlassen um in Deutschland eine Fabrik zu bauen. Kaum sind die Vergünstigungen abgelaufen, wird mitgeteilt, dass der Standort zu Gunsten von Rumänien, Bulgarien oder sonstewo aufgegeben wird.
Die Lösung des Staates für solche Angelegenheiten ist dann Lohnnebenkosten runter, dann Lohnkosten runter, so dass mein Standort in der Konkurrenz mit anderen die erste Wahl bleibt. So ist der Staat.
Und nach so jemandem ruft man nicht um Hilfe. Der Staat lebt vom Kapitalismus dadurch, dass in seinem Land rentable Arbeit stattfindet, koste es was es wolle.

Für die Leute ist es dann auch schön einfach einen starken Staat zu fordern, der alle zu ihrer Pflicherfüllung auffordert. Es ist also leichter faschistisch zu werden, als sich die bestehenden Zustände zu erklären.

flatter 20. Juni 2014 um 11:21  

Moin Roberto,

ich hatte mich schon gewundert, dass gar keine Reaktion kam. Nun, der Vorwurf der "Theologie" wäre schon besser, käme er begründet, aber Schwamm drüber. Das Grundmissverständnnis ist, dass es mir nicht um Revolution geht. Es geht mir um Analyse. Alle historische Erfahrung zeigt und die aktuelle brennt es uns ein: Kapitalismus führt zwangsläufig zu diesem Resultat. Aus Geld mehr Geld zu machen, führt in Unterdrückung und Ausbeutung. Ich predige keine Zukunftsmodelle, ich versuche sie zu entwickeln. Aber eines ist mir völlig klar: Wir müssen über Marx reden. Den kannst du nicht links liegen lassen und nicht mit einem Federstrich übergehen. Das ist der Kreidestrich, vor dem die meisten noch Männekes bauen: "Hier ist verboten". Wer behauptet, Kapitalismus, auch im Euphemismus "Marktwirtschft" könne funktionieren, muss Marx wiederlegen, implizit oder explizit. Ist bis heute aber niemandem gelungen.

p.s.: Bei Google zu kommentieren ist so schon die Pest. Die Captchas machen es einem ebenfalls abspenstig. Grüße von nebenan.

ad sinistram 20. Juni 2014 um 11:25  

Lieber Erdmann,

ich hatte mir ja auch eher vorgestellt, dass Du via Feynsinn antwortest. Dann hätte ich auch wieder geantwortet. Wollen wir das so machen oder hast Du dazu keine Zeit?
Bist Du morgen zugegen?

garfield 20. Juni 2014 um 11:32  

Hm, ich hab' an beiden Beiträgen was auszusetzen.
Mir ist die krawallige Revolutionsrhetorik bei Dr. Erdmann auch etwas sauer aufgestoßen.
Aber spätestens bei dem Satz, wo aus dem "Kapitalismus ... sowas ähnliches wie ein Sozialismus" gemacht werden soll, musste ich auch hier schlucken.
Dass Geschichte nicht irgendwo durch Umlegen eines Schalters wieder bei Null anfängt und damit zwangsläufig mit der vorhandenen "Masse" "weiterarbeitet", wird sicher auch Feynsinn nicht anders sehen. Aber ich glaube nicht, dass wir aus dem Kapitalismus was besseres als eine wirklich Soziale Marktwirtschaft hinkriegen (denn darüber hinaus wäre es kein Kapitalismus laut Definition mehr). Und ketzterisch bekenne ich: Vielleicht würde mir das schon reichen. Aber dass sich das aktuelle System gewaltlos bis gar zu einem wie auch immer gearteten Sozialismus umwandeln lässt (der laut Definition auch diese Bezeichnung verdient), glaube ich auch nicht. Mal ab und zu so eine ""kleine" weitgehend gewaltlose Revolution wie 1989 und die Geschichte und das Bewusstsein bleibt frisch! Es ist wieder höchste Zeit, finde ich, bevor die Demokratur völlig in Diktatur abgleitet. Und wenn's gut läuft, sind die Eliten genauso paralysiert und schaffen es nicht, ihre Schergen aufs eigene Volk schießen zu lassen. Allerdings befürchte ich, dass die Verdummung und der Anteil der Claqueure heute deutlich größer ist als damals. Na wir werden sehen. Ich bin zuversichtlich, dass ich noch nicht das letzte System meines Lebens erlebt habe. Fragt sich nur, ob das nächste besser oder schlechter wird und WIE es anbricht.

Anonym 20. Juni 2014 um 14:03  

@flatter
Ich habe mir sagen lassen, dass die Volkswirtschaft Marx schon lange wiederlegt hat. Schließlich geht es den Lohnsklaven heute besser als früher =)

Anonym 20. Juni 2014 um 16:08  

Kapitalismus zähmen?Kein Problem! Wie?Progressive Vermögenssteuer einführen ,fertig. Wie soll das durchgeführt werden? Scheindebatten beenden, eigene Würde wiederentdecken und die Linke wählen. Mir ist es sowieso ein Rätsel warum die sozial benachteiligten, geharzten und die sich den Buckel krumm arbeitenden für umme schon allein nicht aus purem Zorn die Linke wählen. Ganz nach dem Motto: wenn ich es nicht haben kann sollst Du es erst recht nicht bekommen. Falls mir jemand die Frage beantworten könnte wäre ich sehr dankbar!

Anonym 20. Juni 2014 um 17:29  

von Theo G.: Teil 1 von 2
Ein grundlegendes Missverständnis scheint mir darin zu liegen, Systemwechsel mit "neuer Mensch" und "neues Bewusstsein" zu assoziieren. Ganz im Gegenteil geht es darum, "den Menschen" so wie er ist, nüchtern zu analysieren und ohne den geringsten Änderungswunsch an der menschlichen Natur dann ein robustes Gesellschaftssystem zu errichten, das mit ebendiesen menschlichen Eigenschaften zurecht kommt. Die Grundidee des Kommunismus, so wie ich sie verstanden habe, setzt auf das Menschenbild auf, dass die Menschen für ihre Gemeinschaft so viel leisten wie sie jeweils können und für ihren Konsum gerade so viel entnehmen, wie sie benötigen und nicht mehr. Jedenfalls besteht die Idee darin, dass man die Menschen zumindest zu solch einem Verhalten erziehen könnte. Der Kommunismus kann m.E. nicht funktionieren, weil die Menschen so nicht sind und man sie auch nicht dahingehend erziehen kann.

Seien wir etwas präziser: Wie sind denn dann "die Menschen"? Ich denke, in jeder Bevölkerung, zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort ist ein Großteil der Leute charakterlich kompatibel mit der Grundidee der Art freiwilligen Verhaltens von dem der Kommunismus träumt. Ein Widerspruch? Nein, denn genauso universell wie überall und jederzeit ein großer Anteil jeder Gesellschaft aus Anständigen besteht (Zyniker vom oft eher rechten Rand titulieren solche Leute auch gerne als "Gutmenschen" oder "Schafe"), findet sich in jeder Gesellschaft auch immer ein kleinerer Anteil an (radikal-)egoistischen, brutalen, machtversessenen oder sonstwie asozialen Charakteren. Das Problem ist, dass eine kleine Minderheit solcher Asozialen immer genügt, ein anständiges System der Anständigen aus den Angeln zu heben, wenn das entsprechende System nicht robust, nicht wehrhaft genug ist, solchen Angriffen zu widerstehen. Ein Gesellschaftssystem, das von einem positiven Menschenbild ausgeht, an das "Gute" im Menschen glaubt, wird solch notwendige Schranken, Bremsen, Kontroll- und Sanktionsmechanismen nicht errichten. Lasst uns also in einem ersten Schritt von einem negativen, rabenschwarzen Menschenbild ausgehen (homo homini lupus est), lasst uns vom menschlichen Charakter immer das Übelste annehmen. Das ist zwar in seiner Generalisierung übertrieben, hilft aber enorm, sich auf die wirklich relevanten Probleme beim Entwurf eines anständigen Systems für Anständige zu fokussieren. Natürlich sind solche Gedankengänge keinesfalls neu: Ideen von Gewaltenteilung, Strafrecht, Kartellrecht u.s.w. sind natürlich Ausflüsse genau solcher Überlegungen.

Anonym 20. Juni 2014 um 17:34  

Theo G.: Teil 2 von 3 (3 Teile, nicht 2, wie im ersten Teil angekündigt)
Fahren wir fort mit der Analyse, wie er denn ist, der Mensch, mit gewollt pessimistischem Bias: Als größtes Problem für die Errichtung eines anständigen Systems betrachte ich den (biologisch bedingten und deshalb unveränderbaren) Wunsch nach Bestand einer Hierarchie. Wir sind Rudeltiere und wollen ein Alphatier, das uns führt. Daran ist nichts zu rütteln. Als Folge davon müssen wir uns zunächst erst einmal eingestehen, so hart das ist, dass die Idee von Demokratie mit dem menschlichen Wesen inhärent inkompatibel ist. Die Schafe brauchen Orientierung, wollen geführt werden, und sei es von einem Schlachter (man verzeihe mir meinen Sarkasmus, ich verzweifle ständig über uns und da geht es der Mehrzahl von euch nicht anders, vermute ich). Trotz dieses tiefen Pessimismus, glaube ich, wir sollten es mit Demokratie einmal testweise versuchen (es gab, in größerem Maßstab, davon bin ich überzeugt, noch nie eine auf dieser Welt, die diese Bezeichnung verdient hätte). Wir dürfen beim Entwurf der Details einer solchen Demokratie nur nicht von der gefährlichen Fehlannahme ausgehen, die Leute würden sie mögen und sie deshalb aus eigenem Antrieb gegen unvermeidliche Angriffe verteidigen. Nein, Otto Normalbürger oder Joe Sixpack träumt von einem Führer, immer. Das darf man nie vergessen. Deshalb müsste man versuchen, eine Demokratie, die eine Chance haben sollte, von innen heraus möglichst robust zu gestalten. Im Prinzip nichts Neues.

Nochmals zurück zur Analyse der Istzustände: Der Mensch träumt von Hierarchie, Führung, Anleitung. Religionen mit ihren unsichtbaren Über-Alphatieren und ihren (immer vorhandenen) irdischen Exegeten, die - anders als der Pöbel - einen direkten Draht zum großen Alphatier haben und daraus die Legitimation ableiten, die reale Macht auszuüben, sind (neben weiteren biologischen Gründen) damit eine direkte Folge unserer genetischen Ausstattung. Für eine weitere direkte Folge halte ich die Tatsache, dass (wenn man mal alle formalistischen Haarspaltereien beiseite lässt und nur die Kernmechanismen von Gesellschaftssystemen betrachtet) alle bisherigen (hinreichend großen) Gesellschaftssysteme eine Spielart von Diktatur/Feudalismus waren und sind. Kapitalismus betrachte ich als eine Spielart des Feudalismus, real praktizierten Sozialismus als eine andere, nur äußerlich grundsätzlich verschieden. Als wichtig erachte ich in diesem Zusammenhang, wenn man Überlegungen anstellt, wie ein anständiges System aussehen könnte, dass man den Kapitalismus als Wirkung und nicht als Ursache begreift. Ursache ist die unausrottbare menschliche Sehnsucht nach Führung, gar Unterwerfung. Wirkung ist Ausbeutung, in Form irgendeiner Spielart von Diktatur oder Feudalismus.

Anonym 20. Juni 2014 um 17:38  

Theo G.: Teil 3 von 3
Nach all diesem Sarkasmus trotzdem eine Utopie? Ein Traum von einem Systemwechsel, einer Revolution? Ja. Man muss es versuchen. Und der erste Schritt ist der gedankliche Entwurf einer Gesellschaftsorganisation, die kompatibel ist (weil robust) mit einem radikal schwarzen Menschenbild. Misanthropie ist absolute Grundvoraussetzung für solch einen Entwurf, der eine praktische Chance haben könnte. Die theoretische Chance sehe ich darin, dass sich die Schafe vielleicht eine Demokratie überstülpen ließen, obwohl sie sie nicht mögen, weil sie sich eben auch nicht wehren gegen Dinge, die ihnen unangehm sind (sehr wohl lassen sie sich aber bereitwillig aufhetzen, wenn sich ein Führer anbietet).

Also, was ist die Grundidee für ein revolutionär demokratisches System? Die uralte Idee der Griechen: der Zufall. Neu aufbereitet als recht konkrete Utopie von Tiemo Rieg in seinem Buch: Demokratie für Deutschland (http://www.timo-rieg.de/2013/07/demokratie-fur-deutschland/), das ich allen Mitlesern hiermit wärmstens als Einstieg in die Entwicklung konkreter, politisch forderbarer Ideen für ein anständiges Gesellschaftssystem empfehle. M.E. muss an vielen Details noch viel gründlicher über die Robustmachung des von Rieg angedachten Systems nachgedacht werden, Details an denen letztendlich alles hängt. Aber immerhin: Eine äußerst brauchbare Diskussionsgrundlage, die unsere Gedanken vom Jammern weg in eine konstruktive Richtung lenken können.

Anonym 21. Juni 2014 um 17:30  

Wenn es um die Frage der Revolution geht, sollte man sich an einem persönlichen Beispiel orientieren: Wie werde ich eine schlechte Angewohnheit los?
Manche erfordern einen radikalen Bruch, andere benötigen regelmäßiges anderes Verhalten.
Die Revolution wird mit dieser Menschheit genauso vergeblich sein wie alle anderen. Weil sie nicht ewig diszipliniert leben kann.
Sie ist faul und träge und geht ihren alten Gewohnheiten nach, sobald sie etwas Luft gewonnen hat.

Die Frage der Revolution wird nicht im Straßenkampf ausgetragen, sondern dort, wo der Feind sie auch austrägt.
In Büros, auf Dinners, auf Veranstaltungen, Galas und in Konferenzen.
Die Frage liegt nicht darin, etwas an die Leine zu legen oder einen Systemwechsel in einer abgergläubischen Endzeitnacht herbeizuführen, sondern das System genauso schrittweise zu ändern wie es die Gegenseite auch schon immer getan hat.
Mag zwar ein wenig abenteuerlicher sein, aber zumindest beweist das Beispiel an der kapitalistischen Hierarchie dass es so effektiv funktioniert.

Anonym 22. Juni 2014 um 12:17  

Die Analogie mit der Psychologie des Individuums von Anonym um 17:30 trifft den Nagel auf den Kopf.

Der Mensch ist - unabhängig von seiner politischen Ausrichtung - ein gewohnheitsgesteuertes und damit konservatives Lebewesen. Der Großteil seiner Handlungen besteht aus Gewohnheiten, Wandel ist dem Unterbewussten suspekt. Lieber richtet sich der Mensch im Gewohnten irgendwie ein, sei es auch gesundheitsschädlich und unsozial, als zum Revoluzzer zu werden.
"Die Gewohnheit ist die mächtigste Herrin über alle Dinge." (Michel de Montaigne, 16. Jh.)
Montaigne beschrieb Gewohnheit als ein Kälbchen, dessen anfänglicher Charme dazu verführe, es auf dem Arm zu tragen - bis man es als ausgewachsener Ochse immer noch mit sich herumschleppe.
Sehr treffend, wie ich finde.
Angst vor Veränderung hat die meisten mehr im Griff als der Mut und die Zuversicht für die Chancen von etwas (unbekanntem) Neuem.

Anonym 22. Juni 2014 um 23:10  

@ Anonym vom 22. Juni 2014 12:17

Man benötigt sich nicht einmal darauf zu berufen, was große Namen schon vorher erkannt haben.
Man kann es selbst erkennen.

Zieht man so etwas mit in die Betrachtung hinein, erscheint die Vision von einer entscheidenden Nacht als nichts weiter als der endzeitliche Glaube an das Ende der Welt, dem die Menschheit bereits seit mindestens 2000 Jahren unterlegen ist. (siehe >>die Bibel<<)
Radikale Brüche werden von Nöten sein, sie werden aber auch nicht mit allem funktionieren.
Dieses System war auch nicht immer das, was es heutzutage ist; es gab auch Zeiten, in denen die herrschende Schicht verstanden hat, dass das System, von dem sie sich ernähren, lediglich funktioniert, wenn alle Zahnräder auf unterster Ebene jeden Tag zur Arbeit gehen und Waren und Güter einkaufen. Wenn dies nicht gewährleistet ist, dann müssen sie für Arbeitsstellen sorgen oder zusehen, dass sie ihnen Almosen zukommen lassen.
Dies wurde lediglich im Verlaufe der Zeit immer wieder vergessen.
Wenn man sich ansehen will, wie man eine Veränderung oder gar ein anderes System in Stellung bringen will, sollte man sich viel eher seinen Feind ansehen.
(Beeinflussung aus dem Hintergrund ist bewährt und erprobt, um Veränderungen zu bringen. Auch große.)

Siewurdengelesen 23. Juni 2014 um 09:30  

Anonym am 21. Juni 2014 18:06

Die Aussage besteht darin, dass die Wahrscheinlichkeit eines Umbruchs dort am grössten ist, wo die Verhältnisse am beschissensten sind, daher auch der Vergleich mit Russland 1917.
Die Optionen Bequemlichkeit und Gewohnheit sind dann keine mehr und das Risiko zu vergeigen wiegt das des Untergehens im bisherigen Dilemma auf.

Aus dieser Warte heraus kann davon ausgegangen werden, dass die entwickelteren Industrienationen vermutlich nicht Auslöser eines gesellschaftlichen Umbruchs sein werden. Dafür geht es uns noch zu gut.

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