Behinderte, hört endlich auf Leistungsstarke zu behindern!

Dienstag, 10. Juni 2014

Seit Wochen macht die »Frankfurter Allgemeine« Politik gegen die Inklusion behinderter Kinder in Schulen. »Hehres Ideal« nennt sie diese Absicht. Aber überall entstehe nur Überforderung. Nicht zuletzt bei den behinderten Kindern selbst. An dem Versuch des bürgerlich-konservativen Blattes, dem Land eine solche Debatte aufzudrängen, sieht man: Der Rechtsruck an den Urnen war sicher kein Zufall. Rechte Vorstellungen können wieder ganz ungeniert verbreitet werden.

Man kann die vorgebrachte Kritik ja durchaus nachvollziehen. Sie klingt so schlüssig und menschlich richtig. Natürlich ist inklusive Pädagogik, gerade von geistig-behinderten Kindern, ein Ideal, das leicht zu Überforderung führen kann. Sowohl des Lehrers als auch des Kindes. Und es gibt auch wissenschaftliche Belege, die das bestätigen. Im letzten großen Artikel der »Frankfurter Allgemeine« zum Thema Inklusion erwähnt man aber auch, dass es gleichwohl »Belege [...] für Pro und Contra« gibt. Der Artikel heißt aber dennoch erstaunlicherweise »Die große Illusion« - warum eigentlich, wenn es doch auch Wissenschaft gibt, die Inklusion befürwortet und für machbar hält? Weshalb ist, was Vergleichsstudien als sinnvoll erachten, trotzdem eine große Illusion?

Weil drei Viertel aller Lehrer der Inklusion kritisch gegenüberstehen, wie es der Artikel behauptet? Drei Viertel aller Lehrer waren aber vielleicht auch mal gegen geschlechtergemischte Schulklassen. Und ich manchen Landstrichen mögen drei Viertel der Lehrerschaft auch behaupten, dass der hohe Ausländeranteil in Klassen den Intelligenzquotienten des Klassenkollektivs herabsetzt. Das Argument ist also fadenscheinig. Das Empfinden der Lehrerschaft ist aber menschlich verständlich, denn sie baden eine teils völlig unterfinanzierte Inklusionspolitik aus.

Weiter unten im Text geht der Text dann nochmals so richtig in medias res. Das Problem mit der Inklusion ist dort so definiert: »Die Leistungstarken kommen zu kurz«. Behinderte, hört endlich auf Leistungsstarke zu behindern? Wer ist also überforderter, die nicht-behinderten Kinder oder die behinderten, die dem Stoff nicht folgen könnten, die nicht ruhig sitzen bleiben, die die ganze Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich ziehen? Überhaupt ist diese Mitleidsnummer a la »die armen Kinder« heuchlerisch. Die Gegner der Inklusion, die den nicht-behinderten Nachwuchs (vielleicht ihr eigener Nachwuchs?) für die wirklichen Opfer dieser schulischen Vielfalt und Buntheit wähnen, erklären stets ganz abgeklärt, dass dieses Modell doch auch nichts für die betroffenen Kinder sei. Man dürfe aus ideologischen Gründen nicht Behinderte opfern, sagen sie so, als sei dieses Modell etwas, was nun endlich aufzuhören habe. Ideologische Zeiten sind schließlich vorbei. Und sie meinen es nur gut, lassen sie ganz humanistisch durchschimmern.

Über Geld wird dann eher weniger gesprochen. Nur darüber, wie teuer uns die inklusive Pädagogik kommt - pekuniär ebenso wie ideell. Richtig gemachte Inklusion kostet. Das fängt bei Räumlichkeiten und Einrichtungen an und hört bei ausreichend Lehr- und Fürsorgepersonal auf. Mit dem Lernstoff, dem die behinderten Kinder nicht folgen können, hat die Debatte allerdings weniger zu tun. Auch wenn der ein wesentliches Element der rechten Kritik am inklusiven Ideal ist. Behinderte Kinder könnten auch im Klassenverband gesonderten Lehrstoff erhalten. In hessischen Schulen kommt es vor, dass Hauptschüler und Realschüler in einem Klassenraum sitzen, einen Klassenlehrer haben und dennoch zwei verschiedenen Lehrplänen folgen. Dort geschieht es aus Mangel ans Räumen und Personal. Bei der Inklusion könnte das kalkuliert geschehen, was in hessischen Schulen aus der Not geboren wird. Wichtig ist letztlich doch nur, dass Behinderte und Nicht-Behinderte sich den Alltag teilen, zusammenkommen, voneinander lernen und das als Normalität erleben, was früher schroff in zwei Sphären geteilt wurde.

Letzteres ist das eigentliche Grundelement der ganzen Sache. Ob das behinderte Kind in der Klasse die völlige Lehrplangleichheit erlebt oder nicht, ist nicht von Relevanz. Dass sich Behinderte völlig normal unter Nicht-Behinderten bewegen können und dass Nicht-Behinderte Behinderte als jemanden ansehen, der eben nicht exotisch ist, das ist die Absicht dahinter. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber der rechte Zeitgeist wirkt schon länger. Nicht erst, seitdem Europa sich nach rechts gewählt hat. Diese letzte Europawahl war doch nur das zwischenzeitlich angefertigte Balkendiagramm einer schon lange herrschenden Stimmung. Linke Ideen werden zurückgerollt und allesamt verächtlich als »Ideologie« diffamiert. In einem Klima, in dem man humanistisch angesäuselt von überforderten Behinderten in einem ideologisch falschen egalitären Klima spricht oder in dem man wissenschaftlich verbrämt von der fehlenden Intelligenz bestimmter Volksgruppen rezitiert, da sind dementsprechende Wahlergebnisse und Rechtsrücke nicht mehr weit.


6 Kommentare:

epikur 10. Juni 2014 um 07:48  

Das Thema ist allerdings etwas zweischneidig. Da meine Freundin, Erzieherin mit Montessori-Diplom und Integrationsfortbildung ist, kenne ich das Problem nur zu gut. Es ist tatsächlich so, dass "normale" Kinder häufig zu kurz kommen, weil Integrationskinder, z.B. mit Down-Syndrom, nunmal die ganze Aufmerksamkeit der Erzieher benötigen.

Das Problem sind aber weder die Integrationskinder, das Konzept der Inklusion, noch die Erzieher - das Problem ist und bleibt einfach die mangelnde Finanzierung.

Bildungsträger und Unternehmen schmücken sich gerne mit Integration/Inklusion betreiben damit CSR und Imagepflege - wollen dafür aber eben wenig bis gar kein Geld ausgeben. Und so kann das auch nicht klappen.

Hartmut B. 10. Juni 2014 um 09:19  

Danke Roberto für die Denkantöße.

Dieser Rechtsruck erscheint mir seit dem Beginn der Industriealisierung wie eine Seuche.

Noch heute erlebe ich in Gesprächen mit älteren Menschen (ab 80 J.), dass deren ideologische Haltung sehr "rechtslastig" ist. - Insbesondere wenn es um Behinderte geht. Selbst, wenn sie behördlicherseits als Schwerbehinderte anerkannt sind, leugnen sie vehement diese Eigenschaft. Und dieses "Denken" ist in allen Systemen europaweit extrem fortgeschritten.
Hierbei ist es für mich unverkennbar, sei es nun das Bildungswesen, Gesundheitswesen oder auch das tägliche Miteinanderleben.......
Die Menschen (überwiegend) in der sog. westl. Welt sind sich der Folgen ihres Fanatismus nicht im geringsten bewußt.

Anonym 10. Juni 2014 um 13:16  

Es ist doch wohl nicht verwunderlich, dass nach all dem Reform-Stakkato und den Experimenten (allesamt politisch von Links motiviert, was ja auch in Ordnung ist) im Schulbereich der letzten Jahrzehnte das Pendel auch mal wieder zurückschlägt.

Anonym 10. Juni 2014 um 15:02  

ANMERKER FRAGT:

Was das denn heißen soll "Das Pendel schlägt zurück"?
Erstens schlägt das FAZPendel schon immer ziemlich weit rechts und bleibt sich so seinem Pendelschlag treu. Zweitens hat das "Linke Pendel" gar nie die Möglichkeit gehabt, richtig auszuschlagen, weil die rechte Pendelkamarilla schon immer so rechtzeitig geantipendelt hat, dass sich die angestrebte linke Emanzipationspendelei gar nicht durchsetzen geschweige nachhaltig wirken konnte. Also iss nix mit Links-Rechts-Logik im Bereich Inklusion. Es geht eigentlich nur um Mitmenschlichkeit, Solidarität, Zusammenhalt und das dafür nötige "Kleingeld". Das wollen aber die Mainstreamkapitalisten der FAZ nicht flott machen. Wie eh und je!
MEINT ANMERKER

Anonym 11. Juni 2014 um 19:05  

Seh' ich nicht so: für sinnvoller, anstatt alle gemeinsam zu unterrichten, halte ich es, wenn jeder nach seinen Möglichkeiten gefördert wird (differenzierende Gesamtschule). Nur leider hat dieses Modell heute niemand mehr auf dem Schirm. Und ja: für Personen mit dem Down-Syndrom ist das dann ebenfalls eine eigene Gruppe oder Schule.

Anonym 13. Juni 2014 um 14:41  

Zu dem Problem, dass nicht behinderte Kinder bei inklusiver Beschulung "zu kurz kommen" könnten: das ist meiner Überzeugung nach eine finanzielle und organisatorische Frage. Bei ausreichendem, gut qualifizierten und bezahlten Personal und wirklich inklusiven, individuellen Lehrplänen wäre schulische Inklusion keine Illusion oder Utopie. Aber trotz aller Lippenbekenntnisse ist sie politisch nicht wirklich gewollt. Weil es sie eben nicht "zum Nulltarif" gibt, aber auch, weil sie das Konkurrenzprinzip, das ebenso Teil des offiziellen wie des inoffiziellen Lehrplans ist, implizit hinterfragen würde. Es geht in Wahrheit gar nicht darum, was und wieviel die Kinder und Jugendlichen inhaltlich lernen würden. Sondern darum, welche Haltung zu Lernen, Konkurrenz, Anpassung an eine Gruppendynamik etc. sie verinnerlichen.

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