Erntehelfer erleichtert!

Montag, 30. Juni 2014

Am Freitagnachmittag meldeten allerlei Gazetten via Reuters, dass die Regierungskoalition beim Mindestlohn eine »Erleichterung für Erntehelfer« beabsichtige. »Oh«, mag sich da mancher gedacht haben, »nicht schlecht, dass man es diesen schwer schuftenden Menschen nochmal leichter machen will.« Später kam dann heraus, was man mit »Erleichterung« meinte: Man will es Spargelbauer und Co. leichter machen, denn sie dürfen nach dem neuesten Gesetzesentwurf die Kosten für Wohnung und Verpflegung in den Mindestlohn einrechnen.

Kurz gesagt, die euphemistische Ankündigung war ganz anders zu verstehen. Nicht der Schwerstarbeiter braucht Erleichterung, sondern der, der ihn beschäftigt und der jetzt auch noch einen angemesseneren Lohn bezahlen soll. Leute wie Bauer Lipp, der neulich erst in der »Frankfurter Allgemeinen« von seiner Angst vor dem Mindestlohn sprach. Denn faktisch würden seine Spargelstecher heute schon 7,20 Euro in der Stunde erhalten. Was er verschweigt: Das ist kein Stunden- sondern Akkordlohn. Und die Zahl, die er nennt, mag vielleicht ein Durchschnittswert oder aber ein Spitzenwert sein. Das müsste man ihn mal selbst fragen. Jedenfalls haben sich »seine Rumänen« noch nie beschwert.

Sein Engagement für »vernünftige Preise«, die Kampagne der Unternehmer gegen den Mindestlohn, ist also teilweise berücksichtigt worden. Nun dürfen Unterkunft und Logis angerechnet werden. Das heißt dann, dass Bauer Lipps Rumänen keine 8,50 Euro erhalten. Aber natürlich ist der Mindestlohn dennoch flächendeckend, denn diese Leute bekommen einen Teil des Geldes in Naturalien angerechnet. Erleichterung eben, ganz wie man bei Reuters lesen konnte: Man erleichtert Erntehelfer um ihren Mindestlohnanspruch.

Kürzlich erst hat mein Kind mit seiner Schulklasse einen Spargelbauern besucht. Nicht den Lipp, denn in unserer Gegend hat ein anderer dieser agrarischen »Sparlords« seine Ländereien. Dort erzählte man den Kindern, dass man den Leuten, die vornehmlich aus Rumänien, Bulgarien und Polen kämen, die Unterkunft in Feldnähe ermögliche. Man deutete auf einige Baracken oder Container, in denen sie pennen können. Außerdem würde man sie mit Spargelsuppe versorgen. Fleisch bekommen sie eher selten, sagte die Chefin. Was aber auch daran liege, dass diese Leute keinen hohen Fleischbedarf hätten.

Am Ende erhalten Erntehelfer aus Osteuropa vielleicht sogar noch weniger. Schließlich kostet so eine Unterkunft viel. Quadratmeterpreise sind hoch. Selbst in Containern. Und der Spargel wird ja teurer durch den Mindestlohn, also auch die Suppe aus Bruchspargel für diese landwirtschaftlichen Schwerstarbeiter.

Nein, man muss es ganz drastisch sagen: Es gibt in diesem Lande einen Konsens darüber, dass billigste Arbeitskraft vertretbar ist. Sie muss nur nicht unbedingt von Leuten geleistet werden, die aus unserem Gemeinwesen stammen. Bei Fremden aus Osteuropa sieht das dann schon wieder ganz anders aus. Die können doch schließlich auch mit einem geschmälerten Mindestlohn noch richtig doll verdienen. Und obendrein gibt es Suppe. Das ist der von der Kanzlerin so oft genannten deutsche »Stabilitätsanker in Europa«: Die Hungerlöhne bleiben stabil.

Und Leute wie Bauer Lipp können sich dann weiter hinstellen und warnen, dass der billige Spargel aus Peru von Helfern gestochen wird, die »vielleicht umgerechnet einen Euro am Tag verdienen«. Er und seine Kollegen sind dagegen wahre Gönner, die den europäischen Osten über die Runden helfen. Diese geplante Ausnahmeregelung wird diesen Spargel-Paternalismus weiterhin am Leben halten. Und ich gurke also weiterhin von Mitte April bis Mitte Juni zornig durch Südhessen, nur weil ich auf den vorbeiziehenden Feldern sehe, auf wessen Rücken der Wohlstand dieser Gutsherrn ausgetragen wird.


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Die Empörten, die man satt hat, weil man satt ist

Samstag, 28. Juni 2014

Der oberste Hirte und Feldherr mobilisiert das deutsche Gemüt, aber seine Kritiker müssen mit juristischer Verfolgung rechnen. Unter anderem erging es auch dem Parlamentarier Norbert Müller von »Die Linke« so, der Gauck einen »widerlichen Kriegshetzer« nannte.

Dass eine solche Äußerung schon reicht, um die Staatsanwaltschaft auf den Plan zu rufen, ist ohnehin schon schlimm genug. Dass die Genossen seiner Partei jedoch nicht Partei für ihn ergreifen, sich wieder mal »distanzieren«, wie schon im Falle von Sevim Dağdelen, die Göring-Eckardts Ansichten zur Ukraine mit einem Brechtzitat beantwortete, ist vielleicht noch viel schlimmer. Denn wenn die Partei, die man mit gewisser Berechtigung als die einzige Alternative zur derzeitigen Politik ansieht, nun beginnt, Freunde des offenen Wortes in den eigenen Reihen zu bremsen, dann macht sie sich beliebig.

In meinem ersten Buch »Unzugehörig« gibt es gleich auf den ersten Seiten einen Text, der »Wo es stinkt, herrscht Wahrheit« heißt. Im Grunde ist es ein Plädoyer für eine Sprache, die nicht verkappt und tarnt, sondern Scheiße auch Scheiße nennen darf. Das sehe ich heute noch genauso. Wenn der Kriegshetzer kein Kriegshetzer mehr sein darf, dann wird alles alternativlos. »Drastische Worte gibt es nicht«, schrieb ich damals, »es gibt nur wahre Worte, die freilich drastisch werden, wenn sie Besitz- und Machtverhältnisse antasten.« Und wenn eben einer »Kriegshetzer« zu diesem Bundespräsident sagt, dann tastet er diese Besitzverhältnisse an. Denn dieser Bundespräsident gehört den Eliten. Und das soll man bitte auch sprachlich honorieren.

Von einer Partei wie »Die Linke« fordere ich Solidarität mit Abgeordneten, die sich nicht hinter falscher Schicklichkeit verstecken. Distanziert euch nicht! Seid froh, dass ihr noch solche Leute in euren Reihen habt. Es kommen auch andere Zeiten, wenn ihr euch parlamentarisch verbraucht habt. Dann habt ihr so gut wie nur noch Konformisten in euren Reihen, die so glatt und glitschig sind wie ein Aal. Schaut euch die Grünen an! Aber solange es noch Leute bei euch gibt, die noch nicht völlig vom Plenumsduktus eingelullt sind, solltet ihr jeden Tag laut »Danke!« rufen. Denn genau so lange besteht die Möglichkeit auf Alternative. Und wenn ihr das alles nicht wollt, wenn ihr euch distanziert, weil euch das so schrecklich unangenehm ist, solchen »Verbalpöbel« in eurer Partei zu haben, dann muss ich feststellen, dass ihr auf einem ganz falschen Dampfer seid.

Denn wer seine Empörung verliert oder seine Empörten maßregelt, der gibt die Kraft aus der Hand, die Dinge auch anders zu sehen als es das etablierte Weltbild tut. Oder habt ihr solche Leute satt, weil ihr etwa selbst so satt seid? Ich verlange, dass Leute, die einen Kriegshetzer ganz berechtigt als solchen bezeichnen, nicht von der Parteispitze auf Distanz gehalten werden, sondern begrüßt und unterstützt werden. Distanziert euch doch lieber mal vor einer Gesetzgebung, die dem Bundespräsidenten erlaubt jemanden als »Spinner« zu bezeichnen, die dem Bürger aber einen Maulkorb verpassen will, wenn man die Spinnereien dieses Mannes mit drastischen, aber wohl wahren Worten ahndet.

Mir hallen da immer Ditfurths Worte über die Grünen nach. »Vielleicht acht bis 15 Jahre spekulierten wir, bevor die Anpassungsmechanismen dieser Gesellschaft das Projekt verschluckt haben würde«, schrieb sie in »Das waren die Grünen«. »Die Linke« wurde 2007 gegründet. Vor sieben Jahren. Verdammt nochmal, langsam wird es echt eng. Am pikierten »Sichdistanzieren« merkt man es besonders.


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Welche Ausgabe Deutschlands bejubelt Merkel?

Freitag, 27. Juni 2014

»Ein Hoch auf das was uns vereint ...« dudelte dieser Bourani aus dem Autoradio. Die ARD hat das Lied zum WM-Song ihrer Berichterstattung erklärt und nun hört man es dauernd. »... dass es das Beste für uns gibt ...«. Der Mann hat es für eine Freundin geschrieben, ganz ohne Hintergedanken. Jetzt soll es die nationale Identität umschmeicheln. »Auf uns« heißt es ja zufälligerweise passenderweise. Wie gesagt, ich ertrug es gerade, wie es so aus dem Radio schallte, da schnitt mich ein Mercedes mit angebrachten Deutschlandfahnen. Ich hupte. Er zeigt mir den Stinkefinger. »Ein Hoch auf das was uns vereint.«

   »Kommst du aus der Gosse, oder was?«, schrie ich aus meinem offenen Fenster.
   »Halt dein Maul, du Wichser!«, röhrte der geschniegelte Affe zurück. Er hupte nochmals und war um die nächste Ecke verschwunden.
   Blödes Arschloch, dachte ich mir. Was da alles so einen Führerschein haben darf. Bourani schrie immer noch aus dem Radio. »Ein Hoch auf das was vor uns liegt / dass es das Beste für uns gibt.«

Kurz danach quasselte eine aufgebrachte Moderatorin etwas von »Heute zählt es« und »... stehen wie ein Mann hinter unserer Mannschaft«. »Ganz Deutschland im WM-Fieber« sagte eine männliche Stimme und alle zusammen, ganz Deutschland drücke jetzt »vereint Jogis Jungs die Daumen«. Danach Nachrichten. Hartz IV soll verschärft werden. Öffentliche Entrüstung wird es deswegen nicht geben. Man kann schon froh sein, wenn die »Bildzeitung« nicht wieder eine Serie über Schmarotzer startet. Ob wohl die betroffenen Leistungsberechtigten auch etwas haben, »was uns vereint«? Ob sie bei Bourani mitsummen? Sind sie dazu eingeladen? Oder sind sie selbst dazu zu faul?

Oh Mann, Leute, ihr könnt euch alle in Trikots zwängen und so tun, als sei die ganz dicke Einigkeit ausgebrochen. Ich weigere mich! Bei mir fängt sie bei Gerechtigkeit an. Und deswegen ist »eure Einigkeit« mit mir nicht zu machen. Da draußen laufen so viele Idioten rum, die mir ein Bedürfnis nach Vereinigung regelrecht austreiben. Bin ich einig mit Gauck, von der Leyen und Steinmeier? Was ist unser kleinster gemeinsamer Nenner? Wie sollte ich mir vorstellen können, neben Merkel und Kauder für ein Nationalteam zu sein, das sich von dieser Frau politisch missbrauchen lässt? Ist Lindners Deutschland das meinige? Und Lucke was vereint uns? Und wenn wir schon mal dabei sind Herr Märholz, mit was finden wir verschwörerisch zusammen?

»Einigkeit und Recht und Freiheit« kann man nett singen. Und die Einigkeit ist ja in diesen Tagen auch als dünne Lackschicht aufgetragen. Wo ist aber das Recht und besser noch: Wo die Gerechtigkeit? Nein, auch dieser farbenfrohe Partynationalismus leidet unter einem ganz großen Irrtum: Er macht Armut und Reichtum unkenntlich und setzt den Menschen Flausen in den Kopf, dass es diese ökonomischen Unterschiede mal für eine Weile nicht gibt. Gibt es aber! Gerade jetzt. Siehe Verschärfung der Sanktionspraxis. Was verbindet mich mit diesen fußballerischen Millionären, die nicht den blassesten Schimmer davon haben, wie es ist, Tag für Tag aufzustehen, nur um an einen Arbeitsplatz zu eilen, der das monatliche Auskommen nicht sichert. Das Deutschland für das Özil oder Müller spielt und für das sie stehen, ist ein ganz anderes Land als das Deutschland, das mir täglich widerfährt.

Als dieses Arschloch aus der Upper Class mit seinem Mercedes und seinem Stinkefinger an mir vorbeifuhr, da war mir wieder schlagartig klar, dass ich mit meiner Ansicht nicht falsch liege. Der Typ lebt in einem ganz anderen Deutschland wie ich. Welche Ausgabe Deutschlands bejubeln die Leute eigentlich, wenn sie sich für Deutschlands Nationalelf zum Idioten machen? Bouranis Song war für eine Freundin gedacht. Und dafür taugt er auch. So wie er jetzt gebraucht wird, ist er nur Verarsche. Sonst erklärt die Oberschicht alle naslang, dass es eine volle Gleichheit nicht geben kann. Aber für vier Wochen sollen Ausbeuter und Ausgebeutete nebeneinanderstehen und jubeln, oder wie? Das wird man als politisch Linker nie begreifen können. Dazu fehlt es mir an ausreichend infantiler Phantasie.

Ich drückte auf die CD-Taste, entfloh dieser schwachköpfigen Einigkeit, und plötzlich sang Lennon »Working Class Hero«. »Keep you doped with religion and sex and TV / And you think you're so clever and classless and free / But you're still fucking peasants as far as I can see«, trällerte ich laut mit. Ihr seid immer noch verdammte Bauern - Lennon hatte recht. Nur dass ihr jetzt in Trikots steckt. Oh Mann, John, du bist das Deutschland, wie ich es kenne. Du bist ein Stück Heimat.


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Willy wählen! oder Die Europawahl ist doch eh nicht verbindlich

Donnerstag, 26. Juni 2014

Nun soll der erfolgreiche Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei sogar EU-Kommissionspräsident werden. Deshalb wurde er ja nominiert. Er erhält den Posten allerdings nur von Staats- und Regierungschefs Gnaden. Im Grunde könnten die Sozis demnächst auch Willy Brandt aufstellen.

Es soll ja Leute geben, die ihre Stimme bei der Europawahl nur abgegeben haben, weil sie von Juncker oder Schulz überzeugt wurden. Verwunderlich, aber gut, dafür waren die Herren ja auch aufgestellt. Man wollte diese fast schon anonyme Wahl zum Europäischen Parlament ein bisschen zur Personenwahl erweitern. Da hat der Wähler dann ein Gesicht, an das er seine enttäuschten Hoffnungen richten kann. Dass diese Gesichter aber nicht verbindlich sind, erfuhr der durchschnittliche Wähler vor der Wahl dann nur so häppchenweise.

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Wenn das nur die Angela wüsste

Mittwoch, 25. Juni 2014

Die plakative Trennung von der Person Merkels und ihrer Partei/Regierung nimmt immer mehr an Fahrt auf. In konservativen Medien bestimmt dieses Leitbild die Berichterstattung. Merkel wird entrückt, von der Regierungstätigkeit und der Parteiarbeit abgesondert. Der Merkel-Mythos basiert auf dieser Außendarstellung.

Sie findet immer mehr nur noch als eine Art »geistiges Oberhaupt« statt, das mit dem Alltagsgeschäft relativ wenig zu tun hat. Natürlich bestreitet sie dieses Geschäft. Aber wenn etwas schiefläuft, dann trennt man sie von diesen Niederungen des Versagens und entrückt sie exemplarisch noch ein wenig mehr. Dann liest man, dass Europa auf die Kanzlerin setze, dass sie auch im Ausland geachtet sei und dass sie überall Wirkung zeige. Zuletzt in der Kabine der Nationalmannschaft. Die soll so entzückt gewesen sein, dass man von »Muttivationsschüben« für die Spieler las. Wo sie wandelt wird der Boden fruchtbar. Die Tages- und Sachpolitik gerät in den Hintergrund. Sie sitzt solchen Themen nur noch vor. Man tut so, als wirke sie nur noch auf das Gelingen hin, ganz so wie jemand, der Fürbitten herunterbetet, der aber im realen Leben kaum noch etwas tut, was zur Verwirklichung solcher Bitten beiträgt. Mit den Jammertal hienieden hat sie nichts mehr zu tun. Sie wandelt über Wasser. Eine Weile wollte man sie menschlich darstellen. Jetzt ist sie das personifizierte Numen, eine übernatürliche Größe, die dieses Menschliche propagandistisch abgelegt hat.

Zumindest gelingt es einigen Medien mehr und mehr, diese Frau von dem Geschäft, das sie leitet, so zu trennen, dass man manchmal den Eindruck erlangen könnte, sie wisse von alldem gar nichts. Nichts von Austeritätspolitik, nichts von Ausnahmeregelungen beim Mindestlohn, nichts von geplanten Sanktionsverschärfungen - oder von Fracking, Gengemüse, Datenschutzaufweichung oder TTIP-Schiedsgerichten. Das beschließen schließlich alle anderen.

Vetternwirtschaft, Käuflichkeit und Verdunkelung prägen die politische Landschaft. Aber hey, wenn das mal die Kanzlerin wüsste. Sie ist von solchen Vorwürfen ausgenommen. Selbst bei elementaren Themen hat man gelegentlich den Eindruck, als glaubte die Mehrheit der Menschen, die Politik geschehe ohne ausdrückliche Zustimmung der Kanzlerin. Sie bräuchte es nur zu erfahren, dann würde sie schon Abhilfe schaffen, dann wären all diese Auswüchse ganz schnell beendet.

Es ist, als habe diese Kanzlerin gar nichts mehr mit dem politischen Diesseits, dem Tagesgeschäft zu tun. Als verwalte sie sich nur noch selbst als Symbol einer Politik, die sich von ihr verselbständigt hat. Die Macher ihrer asozialen Politik sind ja andere und sie weiß von nichts. Dieses Narrativ macht sie für die Massen wählbar. Das Amt des Bundeskanzlers wird bei ihr verstärkt zu einem Posten, der die Richtlinienkompetenz versteckt und gegen eine vorgegaukelte Unwissenheit austauscht. Und weil sie ja im Grunde nicht weiß, was die Politik so anstellt, der sie zufällig vorsitzt, kriegen wir sie nicht mehr los. Dabei schützt Unwissenheit vor Strafe nicht, weiß schon der Volksmund. Aber aus dem kommen ja auch nicht die Stimmen, mit denen man sie wieder und wieder bestätigt.


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Auf den ersten Blick

Dienstag, 24. Juni 2014

Heute: Das Medienopfer als Herausforderer, Christian Wulff

Nun hat er sich erstmals in Schriftform zu den Ereignissen der letzten Jahre geäußert. Der Anfangsverdacht des total korrumpierten Bundespräsidenten bestätigte sich nicht. Die groß angelegte mediale Kampagne gegen seine Person führte nicht zur Aufklärung von Verdachtsfällen, sondern zwang nur zum Rücktritt. Die Medien betätigten das Glöckchen und die Justiz gab den Pawlowschen Hund. Wulff ist kein objektiver Berichterstatter. Aber ganz falsch liegt er mit seiner Anschuldigung nicht. Die Medienlandschaft ist natürlich nicht sehr angetan davon, dass Wulff ihr die Schuld gibt. Ihr einstiges »Opfer« bleibt für sie weiterhin eine lächerliche Figur. Das kann man dieser Tage auf allerlei Fotos sehen.


Irgendwie guckt er immer entgeistert oder vor sich hin, als schwankte er in autistischen Phasen. Die Bildränder liegen weit von seiner Erscheinung entfernt. Alle Welt soll sehen, dass er isoliert ist, dass er niemanden direkt an seiner Seite hat. Das diskreditiert ihn nicht nur fotografisch gesehen, sondern auch inhaltlich. Der Mann steht alleine da, soll das heißen. Seine Ansichten sind Einzelmeinung. Die Thesen eines Mannes, der über sich selbst gestolpert ist und jetzt auch noch behauptet, er wäre der bessere Bundespräsident gewesen. Wenn man hört, was sein Nachfolger jetzt von Kriegseinsätzen sagt, dann kann man nur sagen: Ob er besser wäre, weiß man nicht - aber schlechter ganz sicher nicht. Ja, dieser Wulff innerhalb weit entfernter Bildränder wird zum politischen Eremiten drapiert. Zum dümmlich dreinblickenden Scheitern an seiner selbst. Die Schatten, die er wirft, sagen: Das ist sein Horizont. So leugnen die Medien ihre Sensationsgier von damals, als sie meinten, sie hätten da einen ganz dicken Fisch an der Angel.

Fast ein wenig wie Opa Hoppenstedt gestikulierend sieht er aus. Unbeholfen halt. Wahrscheinlich muss so einer aussehen, der die »Bildzeitung« und ihre Nachahmer herausfordert. Die Körpersprache, die man einem andichtet, kann nicht mehr die Erhabenheit des höchsten Amtes verliehen bekommen, sondern muss ins Lachhafte karikiert werden. Ein Tolpatsch, der erzählt, dass er einer Kampagne zum Opfer fiel, der wirkt eben wie ein Tolpatsch nicht nur körperlich. Ein solcher Mensch überträgt körperliche Attribute auch auf seine Geisteshaltung. Seine vermeintliche Grobmotorigkeit verleiht auch seiner Denke einen Zug von Tapsigkeit. Die Bilder, die man von Wulff jetzt anbietet, da er sich zu seiner Geschichte äußerte, zeigen nur, dass den Medien die Argumente schon lange ausgegangen sind. Jetzt machen sie ihn auf optische Art lächerlich. Um sich selbst nicht lächerlich zu machen. Aber genau das haben sie getan. Sie haben einen bemühten Bundespräsidenten für einige Verdachtsmomente aus dem Amt bugsiert und diesen feldherrischen Pastor dort erst ermöglicht.



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Rein in die Schulden

Montag, 23. Juni 2014

Das Ergebnis einer Studie des DGB kam letzte Woche viel zu kurz. Bei mir kam sie lediglich als kurze Meldung in den Radionachrichten vor. Und das auch nur um acht Uhr morgens. Später nahm ich diese Studie nirgends mehr wahr. Dabei ist sie erleuchtend, denn sie besagt, dass mindestens zwei Millionen erwerbsfähige Langzeitarbeitslose Schulden- und Suchtprobleme haben. Aber offenbar interessiert sich kaum jemand dafür. Stattdessen las man viel mehr über die geplante Verschärfung der Sanktionen von Hartz IV.

Genau das ist das Klima, in dem ich mich bewegte, als ich selbst noch Hartz IV bezog. Ich sah meine Ersparnisse schmelzen, der Kontostand verabschiedete sich in den negativen Bereich, nistete sich dort nachhaltig ein - aber in den Zeitungen stand, dass ich genug Geld hätte und auch schwer sanktioniert werden sollte, wenn ich mich weigere, eine Arbeit anzunehmen. Dass diese Schuldenfalle namens Hartz IV lähmt und desillusioniert, ließ man als »sonstigen wichtigen Grund«, der die »Ausübung von Arbeit« nicht zulasse, nicht gelten.

Aber so ist es phasenweise wirklich. Man ist so ohnmächtig, dass man handlungsunfähig wird. Die Gewissheit, dass man aus diesem Sumpf selbst mit einer im Niedriglohnsektor liegenden Arbeit kaum besser dasteht, raubt einem sämtlichen Restoptimismus. Schulden nehmen einem die Kraft. Jedenfalls dann, wenn man weiß, dass nichts reinkommt, um die Schulden irgendwie wieder in den Griff zu bekommen. Die Ohnmacht vergeht nicht gerade, wenn man dann täglich den Gazetten entnimmt, dass man eigentlich ein gut alimentierter Schmarotzer sei, dem man durch weiteren Entzug finanzieller Mittel mal Beine machen müsse.

Alles wird unsicher. Ein »dummer Fehler« und schon ist man noch ärmer. Wielange kann ich hier noch wohnen? Was wenn die Jeans reißt? Und hoffentlich bringt das Kind nicht schon wieder eine Aufforderung zum Bezahlen von Kopiergeld aus der Schule mit. Diese Unsicherheit paralysiert, ist wie die Verabreichung schwacher K.o.-Tropfen, die einen auf Sparflamme laufen lässt. Mental ist man wie betäubt. Es ist wie ein Teufelskreis. Der Dispo gerät an seine Grenzen und selbst tut man das auch. An eine Arbeitsfähigkeit ist in einem solchen Zustand kaum noch zu denken. Aber der Medizinische Dienst attestiert sie einem trotzdem. Meist »nach Aktenlage«.

Jetzt haben wir seit geraumer Zeit eine Arbeitsministerin, die sich eine Weile als Opposition zu Hartz IV verkauft hatte. Doch was hat sich verbessert? Langzeitarbeitslose werden keinen Anspruch auf Mindestlohn haben. Das heißt, man gibt ihnen nicht mal die Hoffnung, jemals aus dieser Schuldenfalle auszubrechen. Faktisch ist es eh so, dass der geplante Mindestlohn keine großen Sprünge erlauben wird. Unter dieser Sozialdemokratin bleibt Hartz IV ein System der Repression bei gleichzeitiger Zermürbung der privaten und finanziellen Verhältnisse.

Ja, nicht mal das Agenda Setting hat sich seither verändert. Dafür kann sie natürlich nichts. Noch immer zieht man Meldungen, die Erwerbslose kriminalisieren und Prävention gegen Schmarotzer versprechen, denen vor, die das harte Los der Arbeitslosen in der Wohlstandsgesellschaft beschreiben. Aber dass Nahles diese Absichten nicht richtig dementiert und ihr Ministerium die Meldungen in Warteschleife stellt, dafür kann sie was. Warum reagiert sie nur auf solche Meldungen und nicht auf jene, die die Lebenswirklichkeit von Arbeitslosen zum Thema haben?

Die Studie des DGB zeigt deutlich, dass Hartz-IV-Leistungsberechtigte nicht noch mehr Drohungen brauchen. Das lähmt Menschen mit Schulden-, Sucht- und psychosozialen Problemen nur noch mehr. Wo fördert dieses Ministerium unter Nahles diesen Personenkreis wirklich? Mit warmen Empfehlungen als Zwischenton, die zum Beispiel großkotzig verkünden, man werde den Banken eine Beratungspflicht in Sachen Dispo-Sanierung auferlegen, ist es sicher nicht getan. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik hat mehr zu sein, als der billige Abklatsch eines RTL-Schuldenberaters. Und mit der Abdeckung des wirklichen Existenzminimums und der Regulierung des Niedriglohnsektors kann man mehr bewirken, als einfach nur zu beraten.


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Hey Joe, machste jetzt den Erich?

Samstag, 21. Juni 2014

Der »Stern« und die »Bildzeitung« berichteten von Todenhöfers Fotomontage. Er hatte Gauck als Dschihadisten dargestellt. Die »Bildzeitung« schrieb ganz entrüstet über eine »Wut-Welle gegen Mann, der Gauck verhöhnte«. Und der »Stern« gab zu bedenken, dass das »fast 5000 Nutzern gefällt«. Kriegt euch doch mal wieder ein! Das Netz ist voll solcher hämischer Bilder zu diesem Bundespräsidenten. Sucht nur mal bei Google. Selbst auf dieser Webpräsenz gab es schon eine ganze Reihe davon.

Sein Ansehen ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Selbst mein eher konservativ tickender Arbeitskollege tippt sich nur noch an die Stirn, wenn man ihn fragt: »Hast du gehört, was der Kerl aus Bellevue schon wieder gesagt hat?« Er hat ihn am Anfang mal ganz gut gefunden. Aber jetzt sülze er nur noch Unsinn. Unverständliches. Und dann dauernd sein pastoraler Militarismus. Er erinnere ihn an Lübke. Der sei auch so ein lächerlicher Hanswurst gewesen. Selbst seine Widerstandsgeschichte hält er mittlerweile für Legende. So einer habe immer nur den bequemen Weg genommen.

Angeblich will die Staatsanwaltschaft prüfen, ob sie Todenhöfer wegen Verunglimpfung drankriegen kann. Der Staatsratsvorsitzende mobilisiert Kriegsbereitschaft, aber ermittelt soll gegen die werden, die den Staatsratsvorsitzenden nicht mit falscher Zimperlichkeit anpacken. Habe ich
»Staatsratsvorsitzender« gesagt? Ein Versprecher, der nicht von ungefähr kommt.

Denn es ist schon ein Treppenwitz der Geschichte, dass dieser selbsternannte Gegenspieler Honeckers jetzt genauso lächerlich auf die Leute wirkt, wie einst der greise Erich. Über den gab es zwar weniger Fotomontagen. Dafür allerdings mehr Witze. Man wusste, dass er nicht ganz helle war in seinem blauen Konfirmantenanzug, irgendwo in einer eigenen Welt stammelte. Er war für die Bürger eine fleischgewordene Witzfigur. Und wenn wir jetzt ins Netz schauen, dann muss man annehmen, dass Gauck nicht viel anders wahrgenommen wird. Nur heute erzählt man sich keine Witze mehr; heute bastelt man sich was im Photoshop oder mit Gimp und postet es bei Facebook. Früher hat man gelacht, heute klickt und liket man.

Dabei ist Gauck gar nicht lächerlich. Seine Existenz im Amt ist eher tragisch. Und gefährlich. Aber solche senilen Gestalten der Geschichte zu Bajazzos zu erklären ist die volkstümliche Art damit umzugehen. Er hat es geschafft, dass man nur noch die Augen verdreht, wenn er schwadroniert. »Gott, der Alte schon wieder mit seinem Quark, hält er denn nie Mittagsschlaf?« Gauck ist dieser Figur, die er als personelles Sinnbild für jenen Staat, den er nicht mochte, ansieht, auf diese Weise durchaus ähnlich geworden.

Hey, Joe, machste jetzt einen auf Erich? Ja? Dann tritt zurück. Vorwärts nimmer, Abmarsch immer.


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Herr Erdmann und die Revolution

Freitag, 20. Juni 2014

Rechenschaft abzulegen war fällig. Die ganze Zeit juckt es mich schon. Revolution oder Reform? In den Sozialismus oder gezähmter Kapitalismus? Letzteres ist für mich kein Widerspruch. Ich ließ da kürzlich was anklingen. Und diese Zeilen sollen der Versuch sein, ein wenig mehr dazu zu formulieren und ein Streitgespräch mit dem geschätzten Erdmann anzubahnen.

Er hat schließlich den Anfang gemacht. Hat mir zugerufen: »Hey, du bekennender Sozi, erkläre dich.« Mit seinen »Kreidestrichen« hat er mir jetzt einen Vorwand geliefert, mich endlich des Themas zu widmen. Danke. Einer musste mir ja mal in den Arsch treten.

Was ich bei Erdmann oft lese, hat ein bisschen theologischen Charakter. Ich will das gar nicht abwerten. Auch das linke Seelenheil braucht Balsam. Und linke Theologie ist nicht unwichtig. In ihr steckt mehr Analyse und Erkenntnisgewinn als im rechten Dogma. Aber sie ebnet nicht den Weg, den man dann auch in der Realität gehen kann. Denn der Gott, der in dieser Theologie steckt, ist der versteckte Gott der Revolution, des Absterbens des amtierenden Systems. Letzteres muss natürlich überarbeitet und gezügelt werden. Aber Systemwechsel? Da höre ich »neuer Mensch« und »neues Bewusstsein« heraus. Und ich bin ehrlich zu alt für diesen Scheiß. Mir haben zu viele Regimes schon neue Menschen produzieren wollen. Nie kam was Gutes dabei herum.

Nein, daran kann man nicht mehr glauben. Und was soll das Geschwätz vom Umsturz auch bringen? So wie ich das sehe, haben wir nur zwei Optionen: Entweder lässt sich der Kapitalismus wie er sich jetzt gibt, an die Leine legen und zähmen oder er zähmt alles Menschliche. Einfach »Stop!« und »Neuanfang!« rufen ist nicht genug.

Evolution oder Revolution? Das ist letztlich die Frage. Und es ist der Vorwurf, den ich aus Erdmanns Text lese. Es ist, als sagte er mir: »Püntes, du musst einsehen, dass Veränderung nur mit harten Schnitten zu bewerkstelligen ist - und was du über Marx sagst, stimmt nicht.« Dabei ist doch zu fragen: »Welchen Marx meinst du?« Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen. Das wusste schon Heraklit. Weil das Wasser des Flusses nämlich nicht zweimal dasselbe ist und weil man selbst nicht immer derselbe bleibt. Auch Marx ging nicht doppelt ins selbe Wasser. Der junge Idealist hatte wenig vom alten Ökonomen, der später freilich nochmal idealistischer wurde zwischen seiner ganzen Wirtschaftswissenschaftlichkeit.

Warum haben sich die ersten Sozialisten Deutschland als Ausgangsbasis für eine sozialistische Revolution ausgesucht? Weil es industrialisiert war, kapitalistische Strukturen und kommunistischen Untergrund hatte. Als dann das agrarische Russland zur Wiege des Kommunismus wurde, glaubte man ganz im marxistischen Sinne nicht daran, dass ein Land ohne Industriekapitalismus diese Neuerfindung von Gesellschaft bewerkstelligen könne. Letztlich behielten diese Stimmen recht. Was ich sagen will: Wir müssen uns eingestehen, dass die soziale Ebnung der Gesellschaft, dass »Sozialismus«, wenn wir es so nennen wollen, die kapitalistische Basis braucht. Gysi hat das vor Jahren ganz ähnlich formuliert. Der Markt muss gar nicht grundsätzlich deaktiviert werden, meinte er sinngemäß. Aber in bestimmten Bereichen habe er nichts zu suchen. Zum Beispiel im Gesundheitswesen oder dem Wohnbau. Aber in anderen Bereichen ist er trotzdem sinnvoll. Diese Einstellung teile ich.

Was nötig wäre ist ein evolutionärer Weg, ein sozialdemokratisches Konzept des Reformismus. Sozialdemokratisch meint hier nicht die neoliberalen Leute um Gabriel, sondern die alte Idee dieses Lösungsansatzes. Die bewirkt keine Wunder und stößt an Grenzen. Aber welche Wahl haben wir sonst? Linke Vorstellungen sind ja ohnedies nur massenkompatibel, wenn sie ohne Aussichten auf Krawall schmackhaft gemacht werden. Wer kann es den Menschen verdenken, dass sie keinen Weg brutaler Umstülpungen gehen wollen?

Ich höre dich unken, Erdmann. Ich höre, wie du sagst: »Den Kapitalismus bändigen? Jetzt spinnst du endgültig.« Aber man muss diese Wirtschaftsform immer und immer wieder an die Leine nehmen. Die Fliehkräfte sind einfach zu groß. Das ist kein Kinderspiel. Aber warum sollte sich die Menschheit eine Bezähmung nicht zutrauen? Wer leugnet, dass man ein System von Menschenhand geschaffen, in den Griff bekommen kann, der bezweifelt aber auch, dass Menschen überhaupt etwas, was sie erzeugt haben, kontrollieren können. Und das ist eine ernüchternde Botschaft. Das ist Fatalismus. Wobei ich auch zugebe, dass mich die Situation des Systems selbst immer fatalistischer werden lässt.

Und jetzt höre ich wiederum die Leser mosern. Sie »Bist du auf Abwegen?« fragen. »Singst hier Hohelieder auf den Kapitalismus.« Nein, das tue ich nicht. Wie er sich jetzt gestaltet, ist er nicht tragbar, er mausert sich zur Diktatur - in manchen Weltregionen ist er es schon. Und ohne Kontrolle ist er ein gefährliches Tier. Aber ohne seine Grundlagen können wir kein gerechteres System begründen. Nichts lässt sich in der Welt ohne das aufbauen, was schon vorher in der Welt war. Mit den Siebzigerjahren, wie du schreibst, hat das aber nichts zu tun. Und falls doch: Was ist so verwerflich daran »zurückzufinden«, wie du es nennst? Nein, es gibt keinen »Willen, dem die Entwicklung folgt« - aber die Entwicklung folgt aus dem, was wir vorfinden. Und das ist nun mal dieses vermurkste System. Es abschalten und was Neues starten: So funktioniert Geschichte nicht. Dass das System krisenanfällig ist, müssen wir nicht explizit nochmals erwähnen. Aber die Krise ist nirgends völlig auszuschließen.

Die Linke braucht ein Konzept. Daran mangelt es seit so vielen Jahren. Und ich bin ratlos wie alle anderen. Der eine Teil der strukturellen Linken passte sich aufgrund dieser Ratlosigkeit völlig an und ist neoliberal, das heißt: beliebig geworden. Wie aber dann? Wir müssen den Kapitalismus anpassen - das scheint mir der einzige Weg, der uns offen bleibt. Dann wird aus ihm auch sowas ähnliches wie ein Sozialismus. So weit die Theorie, keine Ahnung was in der Praxis daraus wird. Mensch Erdmann, sag' du doch auch mal was!


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Über den Hessentag zum Auslandseinsatz

Donnerstag, 19. Juni 2014

Vor einigen Jahren trat ein Bundespräsident zurück, weil er mit der Kritik für seine Äußerungen zum »Einsatz militärischer Mittel« im Ausland, nicht umgehen konnte. Der heutige Bundespräsident tut es ihm gleich und tritt nicht zurück.

Am Samstagnachmittag vernahm ich Gaucks neueste Äußerung zur Rolle Deutschlands als Militärmacht in der Welt. Der Mann wiederholt sich so oft, dass man annehmen darf, er vertritt hier seine tiefste Überzeugung. Drei Stunden später schlenderte ich mit meiner Familie in Bensheim über den diesjährigen Hessentag. Plötzlich stand ich vor einem Zeltlager der Bundeswehr und einer Panzerhaubitze, die direkt gegenüber einer Schule aufgebaut war. An den Fressständen standen Feldjäger und tranken Cola oder kauten Döner. Später las ich, dass es sich um ein Rekrutierungszelt handelte, das man der Schule gegenüberstellte. Die Bundeswehr stellte sich in Bensheim als »Arbeitgeber wie jeder andere« vor.

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Wiederholen ist gestohlen

Mittwoch, 18. Juni 2014

»Sozialtourismus«, »Souveränität« und »Grenzkontrollen« waren die Schlagworte, die rechtspopulistische Parteien brauchten, um die etablierten Parteien der Mitte auszubremsen. So sieht es jedenfalls von Altenbockum, Redakteur bei der »Frankfurter Allgemeinen« speziell im Falle Dänemarks. Aber genau das was jetzt faul ist im Staate Dänemark, so liest man zwischen den Zeilen, trifft für das gesamte Europa zu.

In der politischen Mitte strickt man an einem neuen Narrativ. Das geht ungefähr so: Die Menschenfischer hätten niederste Beweggründe angesprochen. Damit gepunktet und der Mitte schwankende Wählerschaft abgenommen. Das stimmt ja auch. Was aber verschwiegen wird ist, dass die Radikalisierung der Menschen nicht von Rechtsextremen begonnen wurde. Das alles kroch aus der Mitte. Die Union kriminalisiert Ausländer in Deutschland seit Jahren. Und die Sozialdemokraten halten in ihren Reihen zwei beim Boulevard berühmte sozial(-rassistische) Hetzer. Des einen Buch war ein Bestseller und hat salonfähig gemacht, von Ausländern wieder etwas verächtlicher reden zu dürfen.

Sie haben den Weg gewiesen. Sie und allerlei Zeitungen. Auch die »Frankfurter Allgemeine«, die jetzt so tut, als hätte sie damit nichts zu tun. Die gesellschaftliche Verrohung ging aber auch von einem Medienbetrieb aus, der die neuen rechten Hetzer hofierte, ihnen ein Forum gab. Die animierten das Feuilleton und die Kommentarspalten zu Meinungsäußerungen, die vor Beipflichtung nicht zurückscheuten und die »Leitkultur« umwarben. Leitartikler bastelten aus diesen geistlosen Idioten irgendwie geartete Widerstandskämpfer gegen die »Gesinnungsdiktatur« und halfen so bei der Schaffung der Legende, dass die Meinungsfreiheit quasi nicht mehr gelte.

»Sozialtourismus«, »Souveränität« und »Grenzkontrollen« waren als Begriffe schon in der Welt, bevor das rechtspopulistische und rechtsextremistische Spektrum mit ihnen punkten konnte. Es hat sie kein Rosenberg ersonnen. Sie mussten nur abschöpfen, was in der Mitte entstand. Was aus den Parteien quellte und in die Gazetten sickerte. Jetzt will es aber wieder mal keiner gewesen sein. Das soziale Milieu der politischen Mitte erfindet sich ihre eigene Unschuld. Dass sie die Brandstifter beschworen hat wie einst Herr Gottlieb Biedermann, das weist sie von sich. Die politische Vernunft, dieses Synonym für »politische Mitte« bejammert sich selbst als überrumpelte Kraft.

Aber keine Sorge, die Mittel wie man die Rechtspopulisten wieder los wird, haben manche dieser Leute aus der Mitte schon gefunden. Man muss ihnen nur die Themen wegnehmen, empfiehlt von Altenbockum zum Beispiel. Das ist natürlich Augenwischerei, denn die Mitte hat ihnen vorher die Themen doch in die Hand gedrückt. Wiederholen ist gestohlen. Und wenn das Rechtspopulistische in die Mitte abwandert, gibt es dann nicht auch weiterhin Rechtspopulistisches? Die Abgrenzung zwischen diesen beiden Lagern wird täglich schwerer.


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Aus fremder Feder

Dienstag, 17. Juni 2014

»Die Begriffe zu vereinfachen, ist die erste Tat der Diktatoren.«

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Noch vor der Sommerpause

Montag, 16. Juni 2014

oder Warum jeder Sieg der DFB-Elf eine Gefahr für unsere Demokratie ist.

Kürzlich konnte man lesen, dass die Regierung Fracking unter Auflagen zulassen will. Das soll »noch vor der Sommerpause« geschehen. Diese Floskel soll nicht nur Eile weismachen. Sie kaschiert, dass sie Synonym für etwas ganz anderes ist.

Die Nachricht vom Fracking ging unter. Plötzlich waren andere Themen wichtiger. Reus, Brasilien, das streikende Personal, das die Weltmeisterschaft gefährdet und Bierhoffs Pressekonferenzen. »Noch vor der Sommerpause« war hier nur als anderes Wort für »während der WM« gemeint. Denn faktisch fallen diese zwei Zeitpunkte ja »rein zufällig« in dieselbe Zeit. Die Weltmeisterschaft ist vor der Sommerpause und die Sommerpause kommt gleich nach der Weltmeisterschaft. Die beste Zeit dafür, umstrittene Vorhaben durch die Instanzen zu boxen.

»Etwas Ablenkung tut gut«, schrieb dieser Tage der »Schwarzwälder Bote« und meinte damit, dass die Weltmeisterschaft von den ernsten Weltenläuften weglockt. Er zählt hierbei den »Terror im Irak und in Nigeria, Bürgerkrieg in Syrien, Ukraine-Krise, europäische Neufindung« auf und vergisst darüber aber den Bundestag, der die Feierlaune und Zerstreuung gerne mal ausnutzt, um unbequeme Gesetze zu beschließen. Denn das »Sommermärchen« brachte eine Mehrwertsteuererhöhung und das letzte Weltturnier in Südafrika handelte den Bürgern nicht nur eine Erhöhung der Krankenkassenbeiträge ein, sondern bestätigte abermals die Aufhebung dieser ehemals paritätischen Versicherung. Vor zwei Jahren, während der Europameisterschaft, beschloss der Bundestag innerhalb weniger Sekunden, dass Ämter Bürgerdaten an Adresshändler weiterleiten dürfen. »Meldegesetz« nannte sich diese Frechheit, die später vom Bundesrat kassiert wurde.

»Noch vor der Sommerpause« wurde das alles beschlossen. Also innerhalb des Turniers. Wenn alle fiebern, saufen, mit den Gedanken beim Spielplan sind. Danke, Jules Rimet, dass du der politischen Kaste der Postdemokratie so einen feinen luftleeren Raum geschaffen hast! Wenn die mal plant, die Reste der Demokratie auszusetzen, dann sicherlich »noch vor der Sommerpause«. Schnell und effizient. Nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit, versteht sich. Alles völlig transparent, denn die Demokratie wird nach demokratischen Mitteln ausgesetzt. Jeder kann zuschauen. Wenn er möchte. Es will ja nur keiner! Denn was Japan gegen die Elfenbeinküste und der DFB gegen Ghana treibt, bestimmt unser Bewusstsein.

Dass sie Fracking jetzt vor der Sommerpause abhandeln wollen, das ist ein Euphemismus - so verschweigt man, dass sie es unter diesem »transparenten Ausschluss der Öffentlichkeit« in die Wege leiten wollen. Es suggeriert überdies »gebotene Eile« und »parlamentarische Effizienz«. Die Kritik kommt in diesem Klima der Überstürzung dann nur noch kurz. Sie kann ja dann »nach der Sommerpause« einsetzen, wenn die Weltmeisterschaft vorbei ist. Nur dann ist es zu spät, dann sind die Weichen schon gestellt. Und nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Irgendwas wird auch dann wichtiger sein.

Schon alleine deshalb muss man hoffen, dass der DFB nicht mit dem Pokal zurückkommt. Jeder Sieg von Löws Mannschaft ist ein wenig mehr Vertuschung und Verdunkelung, ein Stück mehr Entdemokratisierungsgrundlage. Denn dann hat diese Regierung nicht nur »vor der Sommerpause« Handlungsspielraum. Dann ist »vor der Sommerpause« wie eine Verlängerung. Und der Taumel verschleiert bis Weihnachten, was von oben herab diktiert wird.


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Zuletzt gezweifelt

Samstag, 14. Juni 2014

Man liest jetzt viel, was Schirrmacher gewesen sein soll. Seine größte Bedeutung war vielleicht, dass er als Journalist den neoliberalen Reformismus überwunden hat und plötzlich Zweifel an »den Märkten« anmeldete.

Wendepunkt war wohl die Krise des neoliberal-kapitalistischen Finanzsystems. Vorher fiel Schirrmacher weniger durch Kritizismus als durch Herunterleiern von neoliberaler Agenda auf. Sein »Methusalem-Komplott« von 2004 war dafür exemplarisch. Er griff die Diskussionen zum demographischen Wandel auf und seine Rezepte zur Lösung klangen so wie die eines neoliberalen Spin-Doctors. Er hat damals stark an der Zerrüttung des Vertrauens gegenüber der umlagefinanzierten Rente mitgewirkt. Vor drei Jahren schrieb er dann in der »Frankfurter Allgemeinen«, dass er »zu glauben [beginne], dass die Linke recht hat«. Nach Jahren der Krise und der Erkenntnis, dass das neoliberale Reformkonzept nicht gefruchtet, sondern die Situation nur noch verschlimmert hatte, näherte sich Schirrmacher linken Wirtschaftspositionen an - freilich ohne gleich Linker zu werden. Diese Einsicht gipfelte in seinem Buch »Ego: Das Spiel des Lebens«, in dem er den radikalen Egoismus ohne Moral verurteilte, der das amtierende Wirtschaftssystem kennzeichne.

In den letzten Jahren wurde Schirrmacher wieder ein kritischerer Chronist des Zeitgeschehens. Es war so, als ob ihn Selbstzweifel plagten. War er einst auf dem richtigen Zug gesprungen? Oder irrte auch er sich, wie so viele Journalisten in Zeiten der Anpassung? Nach all den Jahren, in denen der Konservatismus von der Marktliberalen übernommen wurde, schien sich an seiner Person die Befreiung von diesem Zugriff zu manifestieren. Er war das prominente Vorzeigebild dafür, dass die ehemaligen Befürworter des neuen Kurses in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, in eine Sinnkrise geraten waren. Andere Konservative haben das mit einer weiteren Radikalisierung beantwortet und »eingesehen«, dass nur noch mehr Reformen und weitere Einschnitte zu einem Ausweg aus dem Dilemma führen. Schirrmacher wandte sich davon ab. Fand zurück zu einer eher klassischen konservativen Haltung in diesen Fragen, zog sich aus der neoliberalen Hysteriemaschinerie heraus, die Erkenntnisgewinn zugunsten von Meinungsmache unterdrückte.

Es ist Schirrmachers Verdienst, dass er das Feuilleton der FAZ wieder auf die Pfade von Aufklärung und Besonnenheit geführt hat. Manchmal sah es fast so aus, als ob »sein« Feuilleton eine linke Bastion zwischen Legionen aus konservativ-rechten Artikeln war. Der Mann hat bewiesen, dass auch Konservative umdenken können. Das macht Hoffnung, dieses falsche Wirtschaftssystem doch noch irgendwie überwinden zu können.

Gleichwohl bleibt mir Schirrmacher aber auch als jemand in Erinnerung, der als zuletzt »linksliberaler« Wirtschaftsdenker, immer auch sonderbare Positionen vertrat. Ich erinnere mich da an einen Text, in dem er junge Muslime in Deutschland mit den Nationalsozialisten verglich. Diese Seite seines Wirkens darf nicht unterschlagen werden. Und so bleibt er mir als Konservativer in Erinnerung, der trotz aller Affekte, die man sich in diesem politischen Milieu so anlegt, den Mut hatte, sich aus den Klauen des Neoliberalismus zu winden. Das FAZ-Feuilleton wird ohne ihn sicher wieder ungenießbar - und in Wirtschaftsfragen marktorientierter.


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Die klassistische Lebensfreude an den Wetterkarten

Freitag, 13. Juni 2014

oder Die Diktatur meteorologischer Strahlemänner.

Tolle Aussichten fürs Wochenende, haben sie uns vorm Wochenende versprochen. Sonne satt, sagten sie. »Herrliches Wetter. Genießen Sie die Sonnenstrahlen.« Laue Nächte, schob der Vogel vor der Wetterkarte nach. Ich habe bei 36 Grad gelitten und die lauen Nächte waren schlaflos. Diese stereotypen Sprüche aus der Wettervorhersage, von Metereologen und Moderatoren, kotzen mich nicht nur an. Sie sind das Abbild einer Massenmeinung, die mir in meinem Lebensumfeld kaum begegnet.

Ich kenne fast niemanden, der bei diesen Temperaturen glücklich wäre. Die Leute, die ich kenne, scheinen mit den Leuten, für die das Wetter angesagt wird, nicht klimatisch verwandt zu sein. Man erkennt am Gesichtsausdruck sofort, wer leidet und wer nicht. Und fast alle haben sie einen hochroten Kopf, ihr Schweiß glänzt wie Zuckerguss auf Stirn und Wangen. Glücklich kommen sie einem nicht vor. Wenn dann noch schlaflose Nächte dazukommen, sehen sie gerädert aus, völlig fertig und kraftlos. Aber verdammt, freuen Sie sich gefälligst auf die Sonne, herrliche laue Nächte, Sonne tanken, genießen sie die Wärme! Klar, niemand kann was für diese Temperaturen, niemand ist dafür verantwortlich. Aber für diese gute Laune in der Hölle, dafür sind Menschen verantwortlich. Und wenn ich mir dann die Hinweise so anhöre, wie man die Hitze gut managt, dann ist klar, welche Sorte Mensch da für die »Freude am kostenlosen und daher egalitären Gut der Sonne« verantwortlich sind.

Fröhliche Hitzeberichterstattung scheint ein Sport, gemacht von Leuten in gut klimatisierten Räumen für Leute in gut klimatisierten Räumen zu sein. Eine Ausgestaltung von alltagsesoterischer »Das-Leben-kann-so-schön-sein«-Ideologie, die sich jemand, der sich die Hitze durch seine Finanzkraft nicht vom Halse halten kann, gar nicht leisten darf. Was empfehlen sie denn einem, um die Hitze in den Griff zu bekommen? Mancher TV-Sender empfiehlt den Umzug in ein klimatisiertes Hotel. Andere testen Klimageräte. Und ein Radiomoderator sagte seinen Hörern kürzlich, sie sollten einfach einen Kurzurlaub in kühlere Gefilde wagen. »Fliegen sie doch spontan nach Brasilien zur Weltmeisterschaft.« Ja, was glauben denn diese berufsbedingt fröhlichen Arschlöcher eigentlich, wie flüssig die Menschen in diesem Lande sind? Das sind Abziehbildchen von einer Lebensqualität, die die wenigsten Menschen besitzen.

Beleg dafür war letztes Jahr dieser Wagner von der »Bildzeitung«. Dieses Jahr wird er es in etwa so ähnlich schreiben, wie ich diesen Text in etwa schon letztes Jahr geschrieben habe. Wiederholung ist halt schnell verdientes Geld. Aber das ist ein anderes Thema. Er schrieb damals, wir hätten »einen tollen Sommer«, man könnte »bis zwei Uhr morgens beim Italiener sitzen«. Mir kam fast das Kotzen. Kommt mir bei Wagner immer. Aber bei diesem speziellen Wagner ganz besonders. Klar, der Typ kann es sich leisten, bis zwei Uhr morgens zu zechen. Dann legt er sich bis mittags hin, steht auf, trinkt nochmal zwei kalte Bier, braucht sich nicht anzuziehen, steckt seinen Fußpilz in eine Wanne unterm Schreibtisch, bringt zehn bis fünfzehn Sätze aufs Papier, gibt sie telefonisch durch und kassiert sicherlich ein vierstelliges Honorar. Auf Typen wie ihn ist die Wetterberichterstattung zugeschnitten. Auf Typen wie ihn, die bis zwei Uhr nachts Servicepersonal durch die tropische Nacht hetzen können und das dann »Ankurbelung der Wirtschaft« nennen.

Etwas weniger Hitzeverklärung würde auch heißen, die Probleme der Mehrheit zu verstehen, die aus diversen Gründen an der Hitze leidet. Nicht zuletzt diejenigen, die körperlich schwer schuften müssen. Aber so weit gehen die warmen Gefühle dann ja nicht. Erst wenn der Blitz eines Hitzegewitters in einen Ast fährt und der dann einen Radfahrer erschlägt, dann geben sie sich betroffen. Aber nicht lange, denn die Sonne kommt schon wieder raus. Wer will sich so ein Wetter schon mit traurigen Nachrichten vermiesen? »Hey, Bedienung, ich krieg noch ein Kühles. Aber bitte schneller als vorhin.« Und dann sitzt man da, lässt sich von schwitzendem Personal aushalten und findet es eine Frechheit, dass der Typ von Hermes heute Mittag nicht in den siebten Stock stieg, nur weil der Lift defekt war.

Die große Gleichheit vor der Hitze gibt es so wenig wie eine vor dem Gesetz oder der Steuergerechtigkeit. Wer nichts hat, der leidet eben mehr, der kann sich Linderung nicht kaufen. Die Freude an »36 Grad und es wird noch heißer« ist weitestgehend klassistisch. Und dieses normale Geschwafel vom Wetter ist ja schon mies. Es zeigt nur, wie dumpf die Masse ist, dass man sie täglich mit diesem Thema unterhalten kann. Aber dass im Falle der Hitze die Berichterstattung fast nur noch dieses explizite Wetter kennt, dass sie einen ständig daran erinnern, dass der Sommer da ist, bleibt oder gleich wieder kommt, setzt der Lethargie nur die Krone auf. Das ist so eine Art schwungvolle Diktatur meteorologischer Strahlemänner.

Dass ich schwitze wie ein Mastbulle, während ich diesen Text tippe, ist die eine Sache. Die fröhlichen Stimmen, die mir meinen Schweißgeruch auch noch als eine ganz besonders tolle Geschichte verkaufen wollen, das ist etwas ganz anderes. So einfach wie beim Wetter erkennt man selten, wie eklatant daneben die Medien an den realen Lebensumständen der Menschen vorbeimoderieren. Wenn der Typ im Radio sagt, dass diese lauen Nächte einfach nur schön seien, dann soll er mal in mein schwüles Schlafzimmer gehen und versuchen dort zu pennen. Die Hitze macht mich aggressiv. Solche Typen noch aggressiver. Ich kann es nicht leiden, wenn die Sonne aus all diesen Arschlöchern herausscheint. Sie sollten ihre Arschbacken zusammenkneifen und die Sonne darin lassen.


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Mein Vater, der »Hausneger«

Donnerstag, 12. Juni 2014

In Deutschland nehmen Ressentiments gegen ethnische Gruppen zu. Und doch werden allgemein rechtsextreme Tendenzen weniger. So sieht es eine Studie der Uni Leipzig. Doch so paradox das klingt, ist das gar nicht.

»Aber bei Spaniern ist das doch was ganz anderes!« Wie oft habe ich diesen Satz gehört? Irgendwer schimpfte über Ausländer, über die Türkinnen und ihre Kopftücher, darüber, dass diese Leute sich »einfach zu viel herausnehmen« und wenn ich dann angesäuert sagte, dass ich ja selbst zur Hälfte Ausländer sei, dass mein Vater Spanier war, dann kam: »Spanier? Aber das ist doch was völlig anderes!«

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Ein Spinner, den man so nicht nennen darf

Mittwoch, 11. Juni 2014

Aber ja doch, es ist zu begrüßen, dass ein Bundespräsident auch mal meinen darf. Das holt ihm vom majestätischen Sockel, macht ihn zum Normalo. Von mir aus soll er auch Leute als »Spinner« bezeichnen dürfen. Gerne auch Vertreter oder Sympathisanten von Parteien, die er nicht mag. Bundespräsidenten sind ja auch nur Menschen.

Aber bessere! Denn wenn wir schon mal beim Thema sind: Wie verhält es sich eigentlich mit § 90 StGB? »Verunglimpfung des Bundespräsidenten« heißt es dort. Und das sei, gemäß dem Titel, unter dem dieser Paragraph firmiert, eine »Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates«. Wer »den Bundespräsidenten verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft«, kann man dort nachlesen. Und dieses Strafmaß droht sogar dann, wenn der Bundespräsident ein Spinner ist.

Ein Spinner von Bundespräsident darf also Sympathisanten einer Partei als Spinner bezeichnen. Die Spinner etlicher Parteien dürfen jedoch den Bundespräsidenten nicht einen Spinner nennen, ohne sich unter Umständen strafbar zu machen. Eine interessante Republik ist das.

Geschenkt, dass der Bundespräsident mit seiner Einstufung der NPD Verharmlosung betrieben hat. Leute, die sich politisch engagieren, um Deutschland ausländerfreier zu machen, sind keine Spinner, sondern gefährliche Aufrührer. Mit Pathologisierung wird man denen nicht gerecht. Eher entschuldigt man sie sogar damit. Denn wer spinnt, der kann ja wenig für seine Spinnereien. Der braucht einen Seelenklempner oder Neurologen - und keinen tadelnden Bundespräsidenten oder ein Parteiverbotsverfahren.

Das alte Verständnis von der Amtsführung des Bundespräsidenten war an dessen wenigstens theoretischer Unantastbarkeit gebunden. Er sollte nicht jeglicher Verunglimpfung ausgesetzt werden, dafür schwebte er als parteipolitisch neutrale Instanz über dem Volk. Weil er die oberste Schwammigkeit des Staates zu sein hatte, sollte auch die Kritik an ihm nur schwammig eingefasst sein. Das hieß nicht, dass dieses Verständnis eine Einordnung rechtsextremer Parteien verboten hätte. Sie wäre nur anders ausgefallen, allgemeingültiger gehalten gewesen. Nichts hätte dagegen gesprochen, dass ein Bundespräsident vor Rechtsradikalen warnt und zur Zivilcourage aufruft.

Wenn die Verfassungsrichter dieses Prinzip nun aufgeben, sollten sie die Unantastbarkeit auch aufheben. Das wäre nur gerecht. Dann ist der Bundespräsident eben nicht mehr neutral (was Gauck faktisch vorher schon nicht war) und muss mit den Konsequenzen leben. Und mit durchaus derberen Konsequenzen als bislang. Dann muss er auch als »Spinner« bezeichnet werden dürfen, wenn er mal wieder neoliberale Phantastereien betreibt. Ein Amt, das die Freiheit der Verunglimpfung verliehen bekommt, sollte auch mit der Freiheit ausgestattet werden, selbst mit solcher konfrontiert zu werden. Das nenne ich dann »Freiheit in Verantwortung«.


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Behinderte, hört endlich auf Leistungsstarke zu behindern!

Dienstag, 10. Juni 2014

Seit Wochen macht die »Frankfurter Allgemeine« Politik gegen die Inklusion behinderter Kinder in Schulen. »Hehres Ideal« nennt sie diese Absicht. Aber überall entstehe nur Überforderung. Nicht zuletzt bei den behinderten Kindern selbst. An dem Versuch des bürgerlich-konservativen Blattes, dem Land eine solche Debatte aufzudrängen, sieht man: Der Rechtsruck an den Urnen war sicher kein Zufall. Rechte Vorstellungen können wieder ganz ungeniert verbreitet werden.

Man kann die vorgebrachte Kritik ja durchaus nachvollziehen. Sie klingt so schlüssig und menschlich richtig. Natürlich ist inklusive Pädagogik, gerade von geistig-behinderten Kindern, ein Ideal, das leicht zu Überforderung führen kann. Sowohl des Lehrers als auch des Kindes. Und es gibt auch wissenschaftliche Belege, die das bestätigen. Im letzten großen Artikel der »Frankfurter Allgemeine« zum Thema Inklusion erwähnt man aber auch, dass es gleichwohl »Belege [...] für Pro und Contra« gibt. Der Artikel heißt aber dennoch erstaunlicherweise »Die große Illusion« - warum eigentlich, wenn es doch auch Wissenschaft gibt, die Inklusion befürwortet und für machbar hält? Weshalb ist, was Vergleichsstudien als sinnvoll erachten, trotzdem eine große Illusion?

Weil drei Viertel aller Lehrer der Inklusion kritisch gegenüberstehen, wie es der Artikel behauptet? Drei Viertel aller Lehrer waren aber vielleicht auch mal gegen geschlechtergemischte Schulklassen. Und ich manchen Landstrichen mögen drei Viertel der Lehrerschaft auch behaupten, dass der hohe Ausländeranteil in Klassen den Intelligenzquotienten des Klassenkollektivs herabsetzt. Das Argument ist also fadenscheinig. Das Empfinden der Lehrerschaft ist aber menschlich verständlich, denn sie baden eine teils völlig unterfinanzierte Inklusionspolitik aus.

Weiter unten im Text geht der Text dann nochmals so richtig in medias res. Das Problem mit der Inklusion ist dort so definiert: »Die Leistungstarken kommen zu kurz«. Behinderte, hört endlich auf Leistungsstarke zu behindern? Wer ist also überforderter, die nicht-behinderten Kinder oder die behinderten, die dem Stoff nicht folgen könnten, die nicht ruhig sitzen bleiben, die die ganze Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich ziehen? Überhaupt ist diese Mitleidsnummer a la »die armen Kinder« heuchlerisch. Die Gegner der Inklusion, die den nicht-behinderten Nachwuchs (vielleicht ihr eigener Nachwuchs?) für die wirklichen Opfer dieser schulischen Vielfalt und Buntheit wähnen, erklären stets ganz abgeklärt, dass dieses Modell doch auch nichts für die betroffenen Kinder sei. Man dürfe aus ideologischen Gründen nicht Behinderte opfern, sagen sie so, als sei dieses Modell etwas, was nun endlich aufzuhören habe. Ideologische Zeiten sind schließlich vorbei. Und sie meinen es nur gut, lassen sie ganz humanistisch durchschimmern.

Über Geld wird dann eher weniger gesprochen. Nur darüber, wie teuer uns die inklusive Pädagogik kommt - pekuniär ebenso wie ideell. Richtig gemachte Inklusion kostet. Das fängt bei Räumlichkeiten und Einrichtungen an und hört bei ausreichend Lehr- und Fürsorgepersonal auf. Mit dem Lernstoff, dem die behinderten Kinder nicht folgen können, hat die Debatte allerdings weniger zu tun. Auch wenn der ein wesentliches Element der rechten Kritik am inklusiven Ideal ist. Behinderte Kinder könnten auch im Klassenverband gesonderten Lehrstoff erhalten. In hessischen Schulen kommt es vor, dass Hauptschüler und Realschüler in einem Klassenraum sitzen, einen Klassenlehrer haben und dennoch zwei verschiedenen Lehrplänen folgen. Dort geschieht es aus Mangel ans Räumen und Personal. Bei der Inklusion könnte das kalkuliert geschehen, was in hessischen Schulen aus der Not geboren wird. Wichtig ist letztlich doch nur, dass Behinderte und Nicht-Behinderte sich den Alltag teilen, zusammenkommen, voneinander lernen und das als Normalität erleben, was früher schroff in zwei Sphären geteilt wurde.

Letzteres ist das eigentliche Grundelement der ganzen Sache. Ob das behinderte Kind in der Klasse die völlige Lehrplangleichheit erlebt oder nicht, ist nicht von Relevanz. Dass sich Behinderte völlig normal unter Nicht-Behinderten bewegen können und dass Nicht-Behinderte Behinderte als jemanden ansehen, der eben nicht exotisch ist, das ist die Absicht dahinter. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber der rechte Zeitgeist wirkt schon länger. Nicht erst, seitdem Europa sich nach rechts gewählt hat. Diese letzte Europawahl war doch nur das zwischenzeitlich angefertigte Balkendiagramm einer schon lange herrschenden Stimmung. Linke Ideen werden zurückgerollt und allesamt verächtlich als »Ideologie« diffamiert. In einem Klima, in dem man humanistisch angesäuselt von überforderten Behinderten in einem ideologisch falschen egalitären Klima spricht oder in dem man wissenschaftlich verbrämt von der fehlenden Intelligenz bestimmter Volksgruppen rezitiert, da sind dementsprechende Wahlergebnisse und Rechtsrücke nicht mehr weit.


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... wenn man trotzdem lacht

Montag, 9. Juni 2014

»Und den meisten Deutschen ist es doch lieber, wenn junge Deutsche mit einem ordentlichen Kurzhaarschnitt den Stadtpark kopftuchfrei halten, als wenn da Langhaarige Haschisch rauchen.«

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Rip Van Winkle oder Wie hat sich die Welt doch verändert

Freitag, 6. Juni 2014

Rip Van Winkle stieg wohl zwanzig Jahre nach seinem Verschwinden die Kaatskill-Berge herab. Er hatte so lange geschlafen. Als Untertan des englischen Königs ging er hinauf, als Bürger einer Republik kam er herunter. Vieles hatte sich verändert, nicht zuletzt »das ganze Wesen der Leute [...] Es herrschte ein geschäftiger, gehetzter, streitender Ton unter ihnen statt der gewohnten Gelassenheit und trägen Gemütsruhe«. Wie hatte sich die Welt am Hudson River in so kurzer Zeit doch verwandelt.

Täte es mein Vater diesem Gestalt aus Washington Irvings Kurzgeschichte von 1819 gleich - übrigens gilt »Rip Van Winkle« als die erste Short Story der amerikanischen Literatur -, entstieg er nach 15 unterirdischen Jahren seinem Grab? Es müsste wohl ein Kulturschock sein. Müsste man ihm gleich der komatöse Mutter aus »Goodbye Lenin« oder dem eingefrorenen Schwiegergroßvater aus »Hibernatus« (dem Funès-Film gab man in Deutschland den infantilen Titel »Onkel Paul, die große Pflaume«) eine Abziehbild der Welt von Ende der Neunzigerjahre simulieren? Zwar hat sich nicht die Staatsform verändert, wie bei Van Winkle, wohl aber die Ansichten darüber, wie diese zu organisieren sei. Und es hat sich einiges in den letzten anderthalb Dekaden radikalisiert. Wer Ende der Neunziger starb, würde er heute zum Wiedergänger: Ihm fiele es nicht nur aufgrund der neuen Medien schwer, sich zu orientieren. Technisch Neues nimmt man an, wendet sie dankbar an - aber Denkweisen und Kategorisierungen des Zeitgeistes, die sind nicht einfach anwendbar.

Alles scheint mir heute so eng, so bedrückend geworden. Der Optimierungswahn hat uns selbst in unserem privaten Alltag erreicht. Ja, wir selbst sollen optimal auf den Alltag eingestellt werden. Gelassenheit scheint aus der Mode. Heute ist immer gleich Hype, Aufschrei oder Hysterie. Hass war Ende der Neunziger natürlich ein Metier der »Bildzeitung«. Heute ist alles irgendwie immer gleich Hass. Ich sage nur: Shitstorm. Alle sind ständig aufgebracht - und gleichzeitig ignorant. Wir sind engstirniger geworden als damals. Und das bei gleichzeitigen Ausbau kosmopolitischer Mittel. Stetige Betriebsamkeit. Egal, wo man auch ist, einen Bildschirm gibt es eigentlich immer, auf dem ein Laufband mit Meldungen unter einem Anchorman vor sich hin tickert. Das Leben scheint mir wesentlich hektischer geworden seit damals. Wir sind in einem »Regime der Beschleunigung« gelandet.

Ich habe oft genug darüber berichtet, wie der Gastarbeiter, der mein Vater war, mit Alltagsrassismen zu tun hatte. Das gab es alles schon damals. Aber den Wahn, wie wir ihn heute kennen, diese sture Haltung, Integration müsse »auf die Deutsche« gemacht werden, war noch relativ zurückhaltend. Der Anschlag auf das World Trade Center und all diese Patriot Acts von Washington bis Berlin haben Schärfe in zwischenkulturelle Themen gebracht, denen man sich unter vernünftigen Gesichtspunkten nur mit kühlem Kopf widmen sollte.

Vielleicht habe ich diese Enge als junger Mensch nur noch nicht so wahrgenommen und die Welt hat sich gar nicht so sehr verwandelt. Vielleicht käme der gute Rip herab von seinem bergigen Domizil und würde gar nicht Notiz davon nehmen, dass einige Jahre ins Land gegangen sind. Und ich rede jetzt ausdrücklich nicht von den technischen Möglichkeiten, die die Zeitenläufte nicht vertuschen könnten. Ich meine das eher so geistesgeschichtlich, von der Mentalität und vom Zeitgeist her.

Aber wenn ich es so recht durchdenke: Diese Mischung aus Optimierungshysterie und medialer Dauerberieselung, aus Ausrichtung privater Leben nach wirtschaftlichen Vorgaben, »humanitären Militarismus« und die Salonfähigkeit faschierter Ansichten, das alles gab es damals doch noch nicht. Oder wenigstens nicht so ausgeprägt. Mensch, sind wir radikal geworden. Und noch dümmer als wir es ohnehin schon waren. Nach links hat sich kaum etwas bewegt. Alles nach Wirtschaftsvorgaben. Und nach Weltgeltungsdrang. Alles prüder und spießiger als damals. Und das war schon eine ekelhaft yuppyeske Zeit. Viel sozialer Rückschritt und menschlicher Niedergang. Käme er zurück, ich bin mir nicht sicher, ob er bleiben wollte. Das wollen ja die Lebenden schon viel zu oft nicht.

Heute vor 15 Jahren ist mein Vater gestorben. So lang her und doch erst gestern. Jedenfalls wir leben noch. Irgendwie. Die Frage ist nur: Wie lange? Und wenn ja, wie gut wird es?


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Bezahlbare Soldaten »an der Front des Handelskrieges«

Donnerstag, 5. Juni 2014

Haarschnitte zu gepfefferten Preisen, verteuerte Spargel - und Praktika, die sich keiner mehr leisten kann: Der Mindestlohn lässt die Arbeitgeber Angstszenarien malen. Der propagandistische Kampf um das Grundrecht auf billiges Personal hat endgültig begonnen.

Seit einigen Wochen hat man vom Mindestlohn nichts mehr gehört. Fast konnte man glauben, er werde nun ohne nennenswerte Gegenstimmen kommen. Zwar nicht so, wie die politische Linke ihn sich wünscht. Aber immerhin. Ein wichtiger Schritt ist getan.

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Der versprochene Wohlstand, aus dem jetzt die Faschisten kriechen

Mittwoch, 4. Juni 2014

oder Europa hat die Wahl zwischen zweierlei »großen Versprechen«.

Die »Internationale Arbeitsorganisation« wittert mehr und mehr Sozialabbau in Europa. Fast ein Viertel der Bevölkerung sei mittlerweile davon betroffen. Es gibt weniger Arbeitsplätze und niedrigere Löhne. Mit solchen Problemen hat Europa neben seiner derzeit größten Sorge zu kämpfen: Wer soll EU-Kommissionspräsident werden?

Das »große Versprechen« (»Süddeutsche Zeitung«) der sozialen Sicherheit wird also demontiert. Fürwahr keine neue Erkenntnis. Man sollte aber hinzufügen, dass es dazu nur kam, weil dem ein anderes großes Versprechen entgegensteht: Jenes der Neoliberalen nämlich, wonach die soziale Verunsicherung Wohlstand und Wachstum bringe. Dass die »kurzfristig angelegten Anpassungsreformen als Reaktion auf die Krise [...] das europäische Sozialstaatsmodell untergraben« hätten, ist ja nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere ist, dass der Sozialabbau schon vor der Krise Konjunktur hatte. Die Sozialsysteme bekamen bereits vor der Systemkrise den Thatcherismus und das New Labour verpasst, stützten sich auf Workfare samt dazugehöriger ideologischer Linie, die stark mit Thesen angereichert wurde, wie man sie zuletzt in sozialdarwinistischen Salons der Kaiserzeit gesponnen hatte.

Die Krise hat dieses »große Versprechen« der Neoliberalen lediglich verstärkt. Den Niedriglohnsektor ausgeweitet, Arbeitnehmer verschüchtert und Hartz IV und Thatcherismus über jene Teile von Europa gestülpt, die schutzlos geworden sind gegen dieses »große Versprechen« von Wohlstand und Wachstum durch soziale Entsicherung und Entsolidarisierung.

Dass just in diesem Moment des Sozialabbaus Rechtspopulisten und Rechtsextreme Zulauf finden, kann einfach kein Zufall sein. Bislang hat das große Versprechen des Sozialstaatsmodells entradikalisiert, hat die Emotionen durch Partizipation am Gemeinwohl heruntergekühlt und Menschen davor bewahrt, sich mit Leuten gemein zu machen, die ihr Weltbild zwischen Fremdenhass und Rassenhygiene, zwischen Verschwörungstheorien und Kulturimperialismus angesiedelt haben. Nein, dass die Bereitschaft für rechte Massenbewegungen genau jetzt entsteht, da Europa sich entsozialstaatlicht, ist wahrlich kein Zufall. Zumal die Rechtspopulisten ja mit sozialstaatlichen Parolen auf Stimmenjagd gehen.

Da können die Politiker der Volksparteien sich noch so sehr nun den Mund fusselig quatschen, dass sie diesen europäischen Rechtsruck gut analysieren werden. Täten sie es, müssten sie das »große Versprechen« der Neoliberalen auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, zurückfinden zu einem modus vivendi, in dem Privatisierungen und Kürzungen der Sozialetats eben nicht mehr alltägliche Routine sind.

Europa hat die Wahl zwischen genau zweierlei Versprechen. Zwischen dem, das die soziale Sicherung gibt - oder dem, das der Neoliberalismus seit Jahren aufsagt, ohne es je gehalten zu haben. Aus deren angekündigten Wohlstand kriechen jetzt die Faschisten hervor. Und wir haben immer wichtigere Probleme als das. Derzeit Juncker und »seine Leute«, die ihn nicht mehr mögen. Stell dir vor, wir verrohen und keiner fragt warum.


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Aus fremder Feder

Dienstag, 3. Juni 2014

»Esoterische Ideologie stolziert in vielfältigen Gewändern herum, bieder und vertraut, altmodisch und modern, schillernd und exotisch; so unterschiedlich, daß vielen nicht auffällt, daß sich unter der Verkleidung dasselbe emanzipationsfeindliche Wesen verbirgt. Während naive Eso-KonsumentInnen die Esoterik als Sammelsurium von Entspannungstechniken gegen den Alltagsstreß grandios fehleinschätzen, haben die politische Rechte und die faschistische Szene die Esoterik längst wieder für sich entdeckt.«
- Jutta Ditfurth, »Entspannt in die Barbarei«, 1996 -

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Stalking als Standortvorteil

Montag, 2. Juni 2014

Der »Bundesnachrichtendienst« will offenbar soziale Netzwerke »in Echtzeit« oder »live« ausspähen. Diese Meldung liest sich nun überall wie ein datenschutztechnischer Fortschritt. »In Echtzeit« - ist das dann überhaupt ein Abgreifen von Datensätzen? Aus dieser Gang von Spionen wird jetzt ein Rudel von Stalkern. So richtig »Überwachung« ist das doch gar nicht mehr, oder?

Denn man muss es ja mal so sehen: Die NSA hat Datensätze gestohlen. Sie hat auf schon entstandene Kontakt- oder Personaldaten zurückgegriffen. Das will der BND laut Meldungen ja eben nicht. Er will den Menschen »live« nachstellen, ihnen auf ihrem täglichen Weg in Facebook oder Twitter auflauern. Stalken eben, das »vorsätzliche, böswillige Verfolgen oder Belästigen einer anderen Person«, wie der »Brockhaus« dieses Phänomen definiert. Vom Englischen to stalk kommend: Anpirschen. Die NSA war da hingegen eher wie ein Einbrecher, der Hausfriedensbruch beging und das angestammte Eigentum anderer raubte. Aber die Typen vom BND sind da doch viel kultivierter. Kein Einbruch, kein richtiger Raub mehr. Sie holen die Daten dann ab, wenn sie entstehen. Die allerneuste Überwachung macht sich quasi nur noch der Nachstellung schuldig.

Der BND fürchtet sich laut Meldungen davor, im internationalen Wettbewerb der Geheimdienste abgehängt zu werden. Es gibt ja auch Koch- und Friseurweltmeisterschaften: Warum nicht also auch einen Wettbewerb für Spione? Und der Clou an der neuen Taktik ist dann wohl, dass man keinen richtigen Verfassungsbruch mehr begehen muss, dass die Intimsphäre nicht so richtig grundgesetzwidrig gestört wird. Der BND kriegt im schlimmsten Fall ein Verfahren wegen Verstoß gegen § 238 Strafgesetzbuch - Vorwurf: »Straftatbestand der Nachstellung«. Während dann deutsche Strafkammern dem hiesigen Geheimdienst anlasten, er habe eine »schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung« des Opfers in Kauf genommen, schlagen sich ausländische Geheimdienste noch immer vor ihren Untersuchungsausschüssen mit Verfassungsbruchvorwürfen herum. Das ist doch wahrlich ein Wettbewerbsvorteil, nicht wahr?

Das mit der Angst, international abgehängt werden, klingt so lapidar in den Berichten. Wie ein Fortschritt im Datenschutz. Als sei nichts dabei. Als sei es selbstverständlich, dass Geheimdienste sich gegenseitig mittels Moraldumping und eines Verfassungsunterbietungswettbewerbs, gegenseitig hochpushen. Als könne man sich zum Zwecke der Stärkung des Standortvorteil alles erlauben. Und als sei das in »In Echtzeit«-Stalken irgendein qualitativer Unterschied zum Datenklau »alter Schule«.

In den Neunzigern sagte man neben »Belästigung« oder »Nachstellung« auch noch »obsessives Verfolgen« zum Stalken. Das hob den psychiatrischen Aspekt besser hervor. Wie nennt man diese Zwangshandlung, Menschen durchleuchten zu wollen? Ist das obsessives Observieren? Und dass dieser BND-Plan nicht mal mehr einen Aufschrei oder wenigstens doch einen #Aufschrei zeitigt: Ist das noch Gleichgültigkeit oder doch schon eine Zwangsstörung? Eine gesamtgesellschaftliche soziale Phobie, die das »Recht auf Vergessenwerden« auf den BND überträgt, weil man sich an der NSA schon so sinnlos erregt hatte? Man darf wohl annehmen, dass wir mittlerweile durch merkelistischen »Die-Affäre-ist-beendet«-Agitprop zu obsessiven Stalkingopfern geworden sind.

Und außerdem machen wir ja fast alles für Standortvorteile. Auf Lohn verzichten, Niedrigjobs annehmen, »in Echtzeit« ausspionieren lassen. So hat man es uns beigebracht. Nur so sind wir »gemeinsam erfolgreich in Europa«. Und der Welt. Wir müssen doch Verantwortung in der Welt übernehmen. Da darf man sich nicht abhängen lassen. Auch nicht von der NSA oder vom GCHQ. Klassischen Stalkern konnte man wenigstens noch Pfefferspray in die Augen sprühen.


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