Die »Chapos« und der »schlanke Staat«

Donnerstag, 6. März 2014

Für den meistgesuchten (und nun kürzlich gefundenen) Drogenboss der Welt gibt es Fürsprache von vielen Mexikanern. Sie fordern seine Freilassung. Ähnliches gibt es auch in Deutschland. Beides ist Anzeichen für den Verfall des staatlichen Gemeinwesens.

»Spiegel Online« sah sich kürzlich dazu berufen, die Proteste zur Freilassung des habhaft gewordenen Bosses des Sinaloa-Drogenkartells - ein Mann namens Joaquín Guzmán, auch »El Chapo« genannt - zu erklären. Dazu spannte man einen Bogen bis zu Pablo Escobar, den legendären Drogenhändler, und erläuterte, dass diese Gangster und Massenmörder auch Wohltäter für die Menschen gewesen seien. Wahrscheinlich hielt man in der Redaktion des »Spiegel« diese Proteste für Kriminelle für so spektakulär, dass man sie deshalb seiner Leserschaft erklären wollte. Dabei hat schon Eric Hobsbawn 1969 auf »Räuber als Sozialrebellen« hingewiesen. In weitaus kleinerem Maßstab (und mit nur scheinbarer sozialen Komponente) gibt es dergleichen auch hierzulande.

Man erinnere sich nur mal an jene Mitglieder-Versammlung des FC Bayern München im letzten November. Die geriet zu einer Kundgebung für einen, der jahrelang seine Gelder in die Schweiz transferierte, um sich so vor der Steuer drücken zu können. Was waren denn der Beifall und die Statements der Mitglieder anderes, als eine Demonstration der Solidarität mit einem, den sie in erster Linie als einen Wohltäter ansehen? Einen wie ihn sollte man nicht bestrafen, hörte man da, denn er schaffe ja Arbeitsplätze und habe den sportlichen Erfolg nach Bayern geholt, spendete überdies immer wieder hohe Summen an gemeinnützige und karitative Projekte – und ließ mancher Veranstaltung Rostbratwürste frei Haus zukommen.

Hoeneß ist freilich kein »Chapo« - aber das Prinzip ist eindeutig dasselbe. Man blendet die kriminellen Handlungen aus, betont die Wohltäterschaft und glaubt damit reingewaschen zu haben. Das ist wohl so eine Art moderner Ablasshandel in Zeiten moralischer Orientierungslosigkeit. Einer, der die tiefe Sehnsucht nach Kümmerern befriedigt, weil sich staatliche Gemeinwesen immer mehr zurückziehen und ihre Bürger auf sich alleine gestellt lassen. In Mexiko, wo sie »El Chapo« anbeten oder in Kolumbien, wo Escobar ein beliebter Mann gewesen ist, da waren die Staatswesen nie besonders ausgeprägt. In Deutschland sieht man an den Reaktionen, die diese Gönnerschurken moralisch freisprechen, dass ein solcher Verfall auch hier voranschreitet.

Es zeichnet sich die Renaissance des Paternalismus ab, wie er in Schwellenländern immer mehr oder minder üblich war. Die Regierungen sind dort schwach und der Staat übernimmt keinerlei Garantien für die Fallstricke des Lebens. Wer keinen Gönner hat, der Arbeitsplätze verteilt, Aufstiegschancen bietet oder Charity betreibt, der ist verloren. Paternalismus ersetzt den Sozial- und Rechtsstaat, installiert eine Parallelgesellschaft und einen Staat im Staate. In diesem System gibt es allerdings keine Rechtsansprüche, sondern im wesentlichen entscheidet die Laune des Padrinos. Er ist Legislative, Judikative und Exekutive in einer Person. Das System beruht auf Gnadenakte, auf die man keinen Anspruch hat. Aber dort, wo es sonst wenig Ordnung gibt, fühlt sich dieses hierarchische Prinzip durchaus wie Ordnung an und hat deshalb Anhänger und Befürworter.

Man könnte es auch kürzer sagen. Überall dort, wo die politische Klasse korrupt ist, Politik gegen die Menschen betreibt, Ausbeutung und Ungerechtigkeit toleriert und sich lediglich für die eigene Karriere ins Zeug legt, da entwerfen sich die Menschen sonderbare Heilige und verwechseln deren willkürliche und teils kriminelle »Herrschaft« mit »weiser Regentschaft«. Das schrieb der erwähnte Hobsbawn damals ganz ähnlich, als er darstellte, dass kriminelle Banden »außerhalb der Reichweite von Gesetz und Autorität« selbst Autorität darstellen. So gesehen hat auch Deutschland seine »Chapos«. Und man muss annehmen, dass in Zeiten des »schlanken Staates« überall »Chapos« verschiedener Ausprägung entstehen werden. Paternalismus ist überall da im Kommen, wo der Staat im Gehen ist.

6 Kommentare:

In Dubio 6. März 2014 um 17:12  

Ich frage mich wie schon neulich zum Begriff der Postdemokratie: War es wirklich je anders?

Erst kürzlich schriebst du ja:
"Arbeitnehmer unzufrieden mit Berufsanfängern! ist doch keine Schlagzeile. Das war nie anders."
ad-sinistram.blogspot.de/2014/01/so-dumm-wie-wir-war-keiner-vor-uns.html

Nun schreibst du: "...dass ein solcher Verfall auch hier voranschreitet."
Sicher? War es bei vergleichbaren Fällen früher anders? Ich zweifele.

ninjaturkey 6. März 2014 um 17:46  

Der größte Wohltäter der Welt, Bill Gates (Bill & Melinda Gates Foundation) , ist nach jahrelanger, weltweiter Finanzkrise heute wieder der reichste Mensch der Welt. Gut, er mag nicht direkt in Mord und Totschlag verwickelt sein, sein Geld ist es mit Sicherheit an vielen Stellen.

Braman 6. März 2014 um 18:15  

Halo Roberto,
volle Zustimmung. Auch hier wird den fürsorglichen aus der Oberschicht (Berufsbanditen) doch sehr gehuldigt.
Aber warum suchst Du Dir als Beispiel so eine kleinen Fisch raus.
Geh mal durch die Liste der Empfänger für die verschiedenen Bundesverdienstkreuze. Da findest Du die wahren Wohltäter wie z.B. Friedrich Flick, Reinhard Gehlen oder Roland Koch u.v.a.

MfG: M.B.

Anonym 6. März 2014 um 19:06  

Lieber Roberto, ich lese hier regelmäßig, kommentiere selten und habe heute nur eine bitte, weil mir das jedesmal wieder auf den keks geht, wenn ich es falsch geschrieben sehe: schreib den namen dieses großen und großartigen britischen historikers doch bitte richtig - Eric (John Ernest) Hobsbawm.

M am ende nicht n (woher nur kommt diese oft zu lesende falschschreibung? Scheint wohl am namen selbst bzw. an der "verenglischten" namensherkunft zu liegen (quasi running gag) oder ist es doch nur die tastatur?

es grüßt oblomow

maguscarolus 8. März 2014 um 13:07  

Der schwache unzuverlässige und korrupte Staat ist der ideale Nährboden für mafiöse Strukturen aller Art. Und wenn dann das Gemeinwesen erst mal auf diese Art durchwuchert und verdorben ist wird es für die kleinen Leute nur noch diese Mafia als Existenzgrundlage geben.

Wer hätte vor 50 Jahren gedacht, dass Deutschland sich dereinst in Richtung auf eine solche Gangsterherrschaft hin entwickeln könnte? Und doch erleben wir ständig Schritte in der bezeichneten Richtung.

flavo 10. März 2014 um 09:32  

Die Oligarchie fordert ihre psychosoziale Struktur. Wie könnte sonst ein Oligarchenklüngel existieren? Durch Gewalt? Vielleicht die Chapos von Mexiko haben unlimitierte Gewaltamplituden zur Verfügung, aber nicht unsere Oligarchen.
Unsere Oligarchen werden angehimmelt. Sind sie unauffällig, werden sie in Ruhe gelassen und Kampfesstrebungen auf Seinensgleichen gerichtet, werden sie auffällig, werden sie verteidigt und gepriesen. Man ergötzt sich an ihnen, man verspürt Zuneigung und lechzt nach ihrer Liebe. Auch, sprich nur ein Wort und meine Seele wird geheilt. Spräche nur ein Hoenes zu einem Bayern-Fan ein Wort, ein Berlusconi zu einem Arbeiter oder ein Obama zu einem Bobo. Ihre Seelen lägen dar im Rausch. Sie sind unsere Überväter. Wollte man einem Vater alles nehmen? Jeder sollte in seine Regungen horchen! Wem wird entgehen, dass er beim Gedanken an eine Enteignung der Oligarchen, Enteignung sämtlicher Königshäuser, Enteignung sämtlicher Superreicher nicht etwas Mitleid, Trauer und Scham verspürt? Wer wird nicht Verlustleere spüren beim Gedanken an eine oligarchenfreie Ordnung? Wohin mit der Anhimmelungs- und Verabhängigungsenergie in uns? Nun denn eben, man braucht die Herrschaft nicht außen im fernen Politikfeld suchen. Man kann sie live in sich beobachten. Nicht genug? Nun, dann beobachte einmal deinen emotionalen Komplex, der in Betrieb genommen wird, wenn eine Fragmentierungsleistung unter Seinesgleichen zu erbringen ist, wenn auszusieben ist, wenn der Beste und der Schlechteste gesucht werden muss, wenn es darum geht zu trennen, darum geht, zu besiegen, mehr zu leisten als andere, einen Wettkampf zu bestehen und glücklich zu werden die Sieg und Sicherheit. So richtig emtional taub sind wir nur wo es um Mitentscheidungsprozesse geht. Sie sind mühsam, so der weit verbreitete Glaube. Höchstens devote Altlinke verbringen Stunden damit, irgend etwas auszudiskutieren. Da ist die weitreichende, blitzschnelle Steuerungsanorndung eines Oligarchen oder sonstiger Befehlesgeber wie emotionales Öl in der Ratio. Die beiden Komplexe sind in ihrer Ausdifferenzierung wie ein van Gogh gegenüber einem scharzen Rechteck aus dem Laserdrucker. Zack Zack und die urgierte Anorndung setzt ganze Heerscharen isomorph in Gang. Wundern muss man sich aber nicht. Wenn man nicht einem herrschaftlichen Fehlschluss verfallen ist, dann muss man zugestehen, dass ein emotionaler Komplex für Demokratie sich ja nicht entwickeln hat können. Wann denn? Mehr als demokratisches Flackern alle Jahrhunderte einmal hat es nicht gegeben. Was soll daraus entstanden sein? Mehr als eine wirrer Traum kann solches Flackern für den oligarchischen Komplex nicht gewesen sein. Der Alt 68er benasprucht mehr erreicht zu haben? Naja, er soll schauen, wie still und leise er vollständig in die neoliberale Moral der Sieger integriert worden ist, indem ihm ein bisschen quirlige Kreativitätspotenz zugestanden wurde. Ihm wurde im Oligarchismus ein Spielfeld eingerichtet, wo er altautonom sein kann und zugleich Marktsieger. Auch er wird angehimmelt. Und er genießt es vermutlich.

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