Medizinische Notwendigkeit

Samstag, 13. April 2013

oder Es gibt für die Medizin nicht die Notwendigkeit, jedem zu helfen.

In Deutschland wird zu viel operiert. Der Gesundheitsminister will daher unnötige Operationen künftig verhindern. Operationen, die nicht medizinisch notwendig seien, müssten demnach auf den Prüfstand. Wer soll aber prüfen, was medizinisch notwendig ist oder nicht? Der MDK vielleicht, der nebenher auch gleich AU-Bescheinigungen von Arbeitslosen auswerten soll.

Natürlich lassen sich immer Fälle aufführen, in denen unnötig operiert wurde. Das Morgenmagazin im Ersten führte beispielsweise einen Mann auf, dessen Knie voreilig durch ein künstliches Gelenk ersetzt wurde. Gleichzeitig ließen sich aber auch Fälle aufzeigen, in denen notwendige Operationen verschleppt oder gar nicht gemacht wurden. Paradebeispiele für Sachverhalte jeglicher Art findet man in der Gesellschaft immer. Damit läßt sich also wenig beweisen. Und Ärzte, die sich zusammen wie viele Köche am Brei verhalten, dürften wohl auch keine überparteiliche und neutrale Instanz sein. Da geht es immer um Profit, Launen und Revierstreitigkeiten gegenüber Kollegen, die vielleicht schon vorher dem Patienten einen Befund ausgestellt hatten.

Irgendwer muss aber doch über Notwendigkeiten befinden und wenn es nicht ein neuer bürokratischer Schlichtungsapparat sein soll, der zwischen Befunden laviert und selbst befindet, dann wird das im Zweifelsfall der Medizinische Dienst der Krankenversicherung anpacken müssen. Ausgerechnet jener Dienst, der im Auftrag der Jobcenter in die klassistische Kriegsführung einbezogen werden soll, um Jagd auf kranke Hartz IV-Leistungsberechtigte zu machen.

Was soll "medizinisch notwendig" heißen? Knie-OP sinnvoll oder nicht? Oder: Knie-OP bei Menschen über achtzig Jahren sinnvoll oder nicht? Resektion beim Krebspatienten mit Aussicht auf Erfolg? Oder: Resektion beim Krebspatienten mit Hartz IV-Anspruch ja oder nein?

Wenn der MDK auf demselben Flur die Büros hat, in denen Jagd auf Kranke gemacht wird, die zufällig auch arbeitslos sind, und jene Büros, in denen über OP-Notwendigkeiten befunden werden soll, wer garantiert denn dann, dass sich da Klassismus und Medizin nicht vermengen? Böse Zungen behaupten, dass es diese Mixtur heute schon gibt. Man muss als Langzeiterwerbsloser nur mal eine Kur beantragen - es gibt keine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit für Menschen in Hartz IV. Mit ein Grund dafür, warum der Krankenstand unter Hartz IV-Berechtigten recht hoch liegt.

Muss man Meldungen dieser Tage nicht immer im Kontext lesen? Gehören die Meldung über zu viele unnötige Operationen und jene über Jagd auf arbeitslose Kranke nicht unbedingt zusammen? In einer Gesellschaft, die sich strikt an Effizienzmachung ausrichtet, wahrscheinlich schon. Gesundheitsminister Bahr und sein politischer Kumpel Mißfelder entstammen einer (ökonomisierten) Generation und Kaste. Letzterer ereiferte sich schon vor Jahren, dass künstliche Gelenke für Senioren ab einem bestimmten Alter sich betriebswirtschaftlich nicht mehr rechneten. Ich schrieb über beide und ihre Generation mal: "Es ist eine durch und durch ökonomisierte Generation, die nun an die Pötte treibt. Eine, die sich biologistisch absichert, die erklärt bekam, dass das Abwägen, dass Kosten-Nutzen-Analysen aus der natürlichen Selektion stammen - die Evolution sei nämlich der Fortschritt gemessen an Nutzen und den dazugehörigen Investitionen. Was kostet und nicht nützt, wird abgestoßen. [...] Die Denke hinter Bahr und Mißfelder, etwas was sie aber nie laut sagen würden, ist doch auch, dass wir in einem unnatürlichen Stadium leben. Der Mensch sei biologisch gar nicht für neunzig Erdenjahre gemacht - warum also künstlich, medizinisch aufwerten, was so unnormal ist?"

Ist es da so abwegig, Bahrs Prüfstand für Operationsnotwendigkeiten als Angriff auf Klasse und Alter begreifen zu wollen, als in geübter neoliberaler Seriosität angekündigter Sparplan? Man kann den neoliberalen Charaktermasken zwar abnehmen, dass sie Anstöße für Reformen aus dem wirklichen Leben greifen, so wie der Mann mit seinem unnötig operierten Knie aus dem Morgenmagazin real war. Aber dass sie solche Anstöße benutzen, um ihre klassistische Gesellschaftspolitik durchzuboxen, sollte man dabei nie vergessen. Die medizinische Notwendigkeit, die der evolutionäre Betriebswirtschaftler meint, ist keine wissenschaftliche Frage, sondern eine des Klassenkampfes, den das Vermögen gegen das - aus ihrer Sicht - Unvermögen führt. Medizinische Notwendigkeit meint dabei auch: Es ist für die Medizin nicht notwendig, jedem zu helfen, jeden zu operieren. Nur wer es verdient, weil er verdient, darf hoffen.



8 Kommentare:

maguscarolus 13. April 2013 um 08:46  

Längst schwingen allenthalben die Betriebswirte das Henkersbeil der Alternativlosigkeit.

Dem wäre durch einen Volksaufstand abzuhelfen, so man denn ein geeignetes Volk hätte und nicht eine Herde Hammel.

Hartmut B. 13. April 2013 um 09:56  

Hier wird von den ReGIERungs-prolls doch jede Hemmschwelle überschritten.

Der MDK, diese bürokratische Schnüffelinstanz, hat soviel Ahnung von medizinischer Notwendigkeit, wie die Kuh vom Tanzen.

Ein befreundeter Arzt sagte mir mal vor Jahren wortwörtlich: Diejenigen, die den Arztberuf vom Schreibtisch ausüben sind keine Ärzte mehr !"

baum 13. April 2013 um 12:04  

ich kenne den MDK nur als vereinigung von pflegestufenverhinderern. da sind selbst noch die unbeholfenen greise nicht pflegebedürftig

Anonym 13. April 2013 um 16:16  



Die Würde des Menschen ist unauffindbar - Auch im medizinischen Bereich, aber nicht nur.

Zur Reise eines Soziologen durch das Land der Tafeln und Suppenküchen

http://www.heise.de/tp/artikel/38/38915/1.html

Anonym 13. April 2013 um 18:38  

Warum eigentlich lassen wir uns das alles gefallen,lamentieren kann doch jeder!

mone 14. April 2013 um 00:07  

Der MDK...genau. Der wußte ja auch viel besser als mein Hausarzt (also der Arzt meines Vertrauens, der mich schon seit meiner Geburt kennt) und besser als ich selbst, dass ich als berufstätige Mutter um Schichtdienst mit drei kleinen Kindern doch gar nicht belastet sein kann.

"Nutzen Sie doch erstmal ambulante Möglichkeiten!" Ja klar, mach ich gerne, wenn Sie derweil auf meine Kinder aufpassen?

Gruß mone

endless.good.news 14. April 2013 um 17:03  

Hier zeigt sich, dass man das gesundheitssystem nicht privatisieren kann. Die Ziele der unterschiedlichen Akteure sind zu verschieden. Die schnittmenge der Interessen ist weit weg vom preislichen Optimum.

maguscarolus 14. April 2013 um 18:59  

B-orniert
W-eltfremd
L-ebensfeindlich

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