Der Wert eines Arbeiters

Freitag, 14. September 2012

Da lag er. Er sei tot, wie man mir sagte. Ich konnte nur seine bejeansten Beine, seine mit Stahlkappen gefütterten Schuhe sehen. Alles andere war von einem grünen Stahlschrank verdeckt. Als ich die Werkshalle zur Spätschicht betrat, fiel mir eine Ambulanz, fiel mir ein Polizeiwagen auf. Alleine ich dachte mir wenig dabei; sei es aus jugendlicher Ignoranz gewesen, sei es, weil ich anderen Gedanken nachhing. Ich zog mich gedankenlos um, verschloss gedankenlos meinen Spind, betrat gedankenlos und wenig motiviert die Produktionshalle, ging an die Maschine, die mir bis Neun kostbare Freitzeit stehlen sollte, ging nochmal zurück zur Automatenstation, um mir eine Cola zu ziehen, kam zurück und da erst sah ich Beine und Schuhe; sah ich Polizei, Notärzte, sah ich Abteilungsleiter und Meister, sah ich Arbeiter, die am Leichnam vorbei paradierten.

Das ist nun viele Jahre her. Ich habe es nie vergessen. Konnte es nie vergessen. Wie denn auch? Kaum etwas prägte mich so sehr, kaum etwas widerfuhr mir so roh und unmenschlich, wie das, was sich damals ereignete.

Der Tote war ein Leiharbeiter, der etwa zwei Wochen vorher in die Abteilung kam. Viel gesprochen hatten wir bis dato nicht, denn er war viel zu fleißig, immer in Eile, fand keine Zeit zum Plaudern. Später erfuhr ich, er war Mitte Vierzig, verheiratet, Vater. Vielleicht eine Stunde bevor ich die Halle betrat, bevor ich ihn am Boden liegen sah, das was ich von ihm sehen konnte, nahm er sich eine Stahlkiste, um darin irgendwelche Teile, die er vorher gespindelt oder gebohrt oder wer weiß was hatte, einzuräumen - nahm er sich, ging einige Schritte, fiel um, war vermutlich sofort tot. Die Todesursache habe ich nie erfahren. Man kann sie sich ausmalen, wenn man ihr unbedingt Bedeutung zumessen möchte.

Rückblickend sage ich, dass dergleichen passiert - tragisch, aber es passiert, es ist unvermeidbar, man muss damit leben, man muss damit sterben. In jenem Augenblick damals nahm ich es nicht so stoisch auf, damals war ich erschüttert, ratlos - als junger Mensch erschlägt einen die Brutalität des Lebens und speziell des Entlebens. Man glaubt, an einer schrecklichen Ungerechtigkeit beteiligt zu sein, wenn jemand so stirbt. Das sind Keime metaphysischer Revolte, Auflehnung gegen Naturgewalten, gegen Unentrinnbares. Altert man, erkennt man, dass solche Revolten schwachsinnig sind. Man erfährt Demut, lernt hinzunehmen.

Ich war damals also mit dem Tode konfrontiert, was ich bis dahin nicht sehr oft war. Nicht lange danach sollte mein Vater sterben und erst dann wurde mir bewusst, was es bedeutet, den Tod eines Menschen zu verarbeiten, den man liebte. Damals, als der Leiharbeiter starb, war da der Tod, aber die Verarbeitung, die quälenden Stunden danach, die langen Wochen der Trauer, die lernte ich nicht kennen. Nur der Augenblick des Todes, die Momente darauf, bis der Leichnam aus den Augen war.

Zur Erklärung: Leiharbeiter, sage ich. Wie soll ich sonst sagen? Seinen Namen weiß ich nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn je kannte.
Zur Erklärung: So ergeht es vielen Leiharbeitern in Entleihbetrieben, selbst nach Monaten kennt man ihren Namen noch nicht.
Zur Erklärung: Das entschuldigt nichts, ich hätte mit dieser Tradition, den Namen eines Leiharbeiters nicht erfragen zu wollen, brechen können.
Zur Erklärung: Ich war jung, ich war dumm... ich war nicht der, der ich heute bin. Ich kannte Heraklit noch nicht. Heute kenne ich ihn. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss; in dem Wasser von damals, stehe ich heute nicht mehr.

Nach vergeblichen Bemühungen der Notärzte: sie holten ihn nicht mehr zurück. Da lag er jetzt und nun geschah, was sich mir einbrannte. Es war nicht der Tod, mit dem findet man sich ab. Man lebt auch weiter, wenn die Eltern gehen, man überlebt den Verlust eines Partners. Der Tod ist irgendwann akzeptabel. Nicht aber der Umgang mit ihm. Denn die Arbeitsplätze unmittelbar neben dem Leichnam wurden nicht etwa pietätvoll geräumt, die Arbeit wurde nicht etwa unterbrochen. Nein, es musste ja verdient werden. Da werkelten und schufteten sie direkt neben dem Leichnam. Einer, die widerlichste Figur der Abteilung, stand zwei Meter weg, blies seine Stahlleisten mit Druckluft ab, arbeitete pausenlos, ja mir schien, er arbeitete pausenloser als sonst - vielleicht verständlich, stand doch der Abteilungsleiter mit einem Polizeibeamten gleich bei ihm, gleich beim Leichnam. Ersterer ließ sich selten hienieden sehen, aber heute war er da; und mit dem Beamten flachste er, lachte er, gab sich nonchalant - das alles direkt neben der sterblichen Hülle dieses Mannes, für den er wenigstens theoretisch verantwortlich war.

Niemand kam auf die Idee, die Arbeit ruhen zu lassen, bis der Leichnam beseitigt wäre. Mein Kollege, die mir entgegengesetzte Frühschicht, war empört, stellte die Arbeit ein, er könne das nicht, so tun als sei nichts, meinte er. Aber so viele andere, sie machten weiter, machten einige Meter vom Toten so weiter, als sei nichts geschehen. Man bedeckte den Toten nicht, man spannte keinen Sichtschutz auf. Ich stellte mir vor, wie der Typ, der seine Stahlleisten fertigte, Späne und Kühlmittelreste auf diesen toten Menschen blies; ich empfand Ekel vor einer Haltung, die den Menschen nicht würdigt, die ihn wie eine Funktion, wie einen Apparat zur Pflichterfüllung behandelt.

Wenn der Mensch stirbt, so hat sein Leichnam in jeder Kultur mehr oder minder, auf die eine oder andere Weise, noch einen Anspruch, mit gewisser Würde behandelt zu werden. Der Augenblick des Todes ist nicht der Augenblick, in dem wir dem Leichnam das Menschsein absprechen. Die sterbliche Hülle ist nicht einfach organischer Abfall, sie ist etwas Kostbares, sie ist einerseits das Antlitz der eigenen Sterblichkeit, die wir auch respektiert wissen wollen im Fall der Fälle. Und sie wird andererseits gewürdigt, um einen letzten Liebesdienst an einem Menschen zu tun, den man respektierte, schätzte oder sogar liebte. Der Leiharbeiter, tot in der Halle, der zwischen Arbeitseifer und scherzenden Abteilungsleiter lag, er war in dem Moment, da er umfiel, wertlos geworden. Gerade noch Personalressource, gerade noch Träger von acht Stunden Arbeitszeit, gerade noch Faktor für die Buchhaltung, ward er zum störenden Fleischklumpen gewandelt, den man schnell loswerden wollte; ward er zur entwerteten Hülle reduziert, die den Produktionsablauf bloß nicht behindern sollte.

In jenen Jahren wusste ich nicht viel vom Kapitalismus. Den Begriff kannte ich, aber was er bedeutet, wie er sich definierte: keine Ahnung! Es kümmerten mich andere Dinge; ich widmete mich den Sachen, die man in jenem Alter für wichtiger erachtet und die da wohl auch wichtiger sind. An jenem Tag machte ich Bekanntschaft mit dem Zynismus des Systems, damals lernte ich, dass es keine Romantizismen kennt, dass es knallhart ist, dass es Menschen nicht für durchblutet und beseelt, sondern für funktional und nützlich ansieht.

Keiner behinderte die Arbeiter, die aus anderen Werkshallen herströmten, um das Tagesgespräch mit eigenen Augen zu sehen. Keiner hatte auch nur den Anflug pietistischer Ansichten. Sie kamen zum Gaffen, sie kamen um mit dem Finger auf ihn zu deuten. Ein Moslem betete - der hat sich mir eingebrannt; er war das menschliche Antlitz dieses Tages. Der Abteilungsleiter stand daneben, noch immer im angenehmen Gespräch mit dem Polizisten und sagte nichts zu den Gaffern - sie gingen ihn ja nichts an, sie kamen aus anderen Abteilungen, für die er nicht verantwortlich war. Wären sie aus seiner Abteilung gewesen, er hätte natürlich einschreiten müssen - nicht aus Pietät gegenüber dem Toten, sondern aus Respekt vor dem Profit.

Natürlich denkt sich nun mancher, der Verfasser übertreibt, bauscht auf, um pointierter zum Ziel zu geleiten, damit seine billige Parabel nicht verröchelt, bevor sie sich entfaltet. Ich könnte verstehen, wenn man das meint. Nur es wäre ein falscher Verdacht. Nichts ist hier auf die Spitze getrieben - exakt so war es, genau so und vielleicht noch derber, ging es zu. Vielleicht habe ich manche zynische Nuance damals noch gar nicht verstanden.

Ich sehe diesen schlacksigen, in Anzug gerafften Mann immer noch vor mir, seine Visage, seine Zahnleiste, seine in Körperhaltung veranschlagte Arroganz. Diesen Abteilungsleiter mit einem Allerweltsnamen, den ich allerdings nicht mehr weiß, weil er so allerweltlich war. Der, der seine Stahlleisten bohrte, der sie entgratete, sie abblies, sie in Kisten schichtete, den habe ich auch noch vor Augen. Er war nicht der einzige, der in Gegenwart des Leichnams so arbeitete, als sei nichts geschehen. Aber ihn habe ich noch im Kopf, ihn habe ich nicht vergessen. Ich meine, ich kannte ihn ja leider vorher schon, er erzählte mir von seinen Heldentaten als Fischereiaufseher, davon, dass ihn junge Mädchen anschmachteten, weil er der Sheriff vom Baggersee sei. Er war, ich mache es kurz, ein Dummkopf, der sich gerne hervortat - und dass er nach einer Weile, da er so neben dem Tod arbeitete, meinte, er habe heute mehr geschafft, als zeitlich veranschlagt war, zeigt das doch anschaulich. Dieses System, dieser Kapitalismus, das wurde mir viel später, bei der Exegese jenes Tages, deutlich, ist das geliebte System von gewissenlosen Zynikern, geschaffen für ausgemachte Dummköpfe.

Ich will die Ereignisse jenes Tages, von dem ich nicht mal mehr ein Datum habe, nicht als Parabel feilbieten. Sie taugt dazu womöglich nicht. Vielleicht ist sie mir eine persönliche Parabel - als ein Erweckungserlebnis dient mir jener Tag aber sicher. Er rührte am Schlaf meiner jugendlichen Welt. Mir fielen nicht flugs Schuppen von den Augen, was da geschah, rumorte und arbeitete lange in mir; aber klar ist mir, ich will so etwas nie wieder erleben. Und falls doch, so werde ich nicht, so wie damals, als ich ein junger Mann war, ja ein Bub eigentlich noch, schweigen.



13 Kommentare:

Anonym 14. September 2012 um 08:05  

Phänomene wie Unfallvoyorismus und Katastrophentourismus sind anscheinend nicht auszurotten. Der Mensch weiss wenig über das Sterben und fast gar nichts über den Tod. Daraus resultiert vielleicht die Neugier.

Dabei ist ein Toter ein Unglück, 100 Tote eine Katastrophe und ab 1.000 Tote nur Statistik (Stichwort Frontex).

Anonym 14. September 2012 um 08:34  

Für mich eine wertvolle Besinnung zum Tag. Ich möchte es nicht weiter kommentieren, einfach wirken lassen...

der Herr Karl

Anonym 14. September 2012 um 08:44  

Zu einer besonderen Form des Gaffens ist die Vorführung von inzwischen nicht mehr medien- und öffentlichkeitstauglichen, weil dementen Ex-Sport-Profis.

So ist z. B. der Ex-Boxer Muhamed Ali allenfalls das »Sportopfer des Jahrhunderts«, er leidet nicht an der Parkinsonschen Krankheit, wie immer wieder behauptet wird, vielmehr leidet er am sogenannten »punch-drunk-syndrom«, einer chronisch traumatischen Enzephalopathie als Folge der zahllosen Schläge gegen den Kopf, die er im Laufe seiner Karriere bezogen hat. Symptome dieser unter Medizinern als »Dementia pugilistica« bekannten neuralen Dysfunktion sind fortschreitende Einschränkungen der Motorik, der Sprechfähigkeit und der Kognition. Die Schädigungen des Gehirns sind irreversibel. Dass er immer wieder bei Großveranstaltungen wie den Olympischen Spielen in London als ein an Alzheimer leidender Promi vorgeführt wird, finde ich nicht sehr pietätvoll. Er kann nämlich nichts mehr sagen, weil sein zermatschtes Gehirn das nicht mehr zuläßt.

Passt irgendwie auch zum Thema.

Anonym 14. September 2012 um 09:25  

Beim Lesen fühlte ich mich, als sei ich dabeigewesen.

Hartmut

Anonym 14. September 2012 um 11:05  

In der Regel uneingestanden verliert man als einfacher Arbeiter den Respekt vor sich selbst und zugleich auch mit den Anderen. Wenn die Geschäftsführung ein geheuchelt verbindliches Wort an mich richtet, dann nur, weil - so könnte man meinen - eine Laune der Natur mir zufällig die Fähigkeit zum Sprechen verliehen hat und damit eben auch die potentielle und potentiell störende Möglichkeit schenkte, die fast schon rassistisch wirkende soziale Ungleichheit verbal offenbar werden zu lassen. Wenn ich tot bin, rede ich nicht mehr. Dann erübrigt sich natürlich auch die Camouflage der "Höherwertigen".

Anonym 14. September 2012 um 11:29  

selbst in der leblosigkeit keinen "wert" zu erfahren ist zutiefst erniedrigend ; das gelesene hat mich mehr als berührt

Bademeister 14. September 2012 um 12:16  

Ein schöner, nachdenklicher Artikel. Dabei ist die alltägliche entmenschlichende Ausbeutung bei uns noch vergleichsweise banal, verglichen mit anderen Ländern.

So will die Polizei in Südafrika gerade Minenarbeiter wegen Mordes anklagen - 34 Minenarbeiter wurden von der Polizei erschossen, da sie und ihre Kollegen die Mine besetzen und streiken um auf die hundsmiserablen Arbeitsverhältnisse und Löhne aufmerksam zu machen. Die Mörder wollen nun die Kameraden der Ermordeten dafür haftbar machen.

Wenig hat sich seit den Tagen des Manchesterkapitalismus verändert.

Warum ist dieses System, das täglich für Jedermann sichtbar scheitert, eigentlich nicht mittlerweile ebenso verrufen wie der Gegenentwurf des Realsozialismus?

landbewohner 14. September 2012 um 14:21  

ich habe keinen moment daran gezweifelt, daß die geschichte so passiert sein könnte. und das ist das eigentlich erschreckende. totes humankapital, welches nicht einmal die restlichen "arbeitsknechte" innehalten lässt, geschweige denn auch nur die geringste teilnahme bei betriebsführung und -gefolgschaft aufkommen lässt - nicht kann die verrohung unserer sitten besser darstellen.

Dennis 14. September 2012 um 14:43  

Ein bewegender Artikel allemal.
Fairerweise und leider muss man sagen, dass derart in den Fabriken aller Staaten unabhängig vom politischen System passiert und die Prinzipien immer die gleichen sind...

Ich überlege, wie ich als Toter das Geschehen "empfinden" würde, wenn das möglich wäre. Ich würde sagen, die Leute dürfen mich ruhig so liegen sehen, ohne Sichtschutz. Ich würde es auch nicht als pietätlos empfinden, wenn die Leute in unmittelbarer Umgebung weiterarbeiten würden. Sie sollen nicht erschreckt innehalten müssen. Ich weiss, dass Ihre Gedanken andere sind als sonst, während sie mechanisch ihre Arbeit fortführen. Diese Tätigkeit gibt ihnen sicher auch Halt in diesem Moment.
Es ist OK, wie es ist.

Anonym 14. September 2012 um 18:06  

Dies ist der ganz ,,normale´´Irrsinn einer irrsinnigen Arbeitssüchtigen Gesellschaft unter den Bedingungen einer lohnsklaverei und Knechtschaft die für mich Unerträglich, Abscheulich, Anwiedernd ist und das Sehe ich jeden Tag in den Kaputten Arbeitssüchtigen(Brutalos) Norm Menschen die mir Nichts mehr bedeuten denn diese sind es nicht Wert Menschen genannt zu werden Sie sind für mich Gefährliche Monster die jeden von uns schon morgen mit Ihrem Auto Überfahren können um Ihrer Arbeitssucht Gerecht zu Werden.

Zoran 15. September 2012 um 09:29  

Furchtbar...auch doch eine Parabel auf den Alltag. Grauenvolle Realität. Desinteresse, Egoismus, Gafferei. "Der Mensch ist Mensch". Sehr oft gesehen, gespürt und dagegen gekämpft. Der Begriff "Menschlickeit" ist falsch besetzt. Der Mensch ,an sich, ist anscheinend auf nur drei Dinge erpicht, sozialer Status, Konsum und Sensation, für alles andere ist kein Platz. Auch wenn du danach dürstest, erwarte keine Hilfe, erwarte keine Pietät, kein Mitgefühl.

Anonym 18. September 2012 um 16:57  

Ich finde diese Geschichte sehr gut geschildert und ich verstehe auch, was du damit zum Ausdruck bringen möchtest. Dennoch kann ich der Parabel nicht folgen. Du implizierst mir zu sehr, wie du gern hättest, was das richtige Verhalten der Mitmenschen in so einer Situation wäre.

Ich folge da eher der Ansicht von Dennis. Vielleicht hast du recht und alle handeln aus Indoktrination durch den Kapitalismus. Vielleicht liegen dem aber noch viel grundsätzlichere und niedrigere Beweggründe vor, die eben einfach typisch menschlich sind.

Vielleicht aber haben viele sogar Mitgefühl, doch möchten sie sich damit nicht zu sehr auseinandersetzen, weil es ja auch ihnen niemand nahestehendes ist (übrigens ein aus der Psychologie bekanntes System zum Selbstschutz der eigenen Psyche. Stell dir mal vor dich würde jeder Tote so mitnehmen, wie wenn es ein Geschwister- oder Elternteil wäre).

Oder aber sie pfeifen wirklich darauf, weil sie eben einen Fremden nur als störenden Fleischklops sehen. Sowas ist mir immer noch lieber als dieses geheuchelte, weil gesellschaftlich verlangt, Mitgefühl.

Wir Menschen wären nun mal nicht Menschen, wenn sich alle gleich verhalten würden und ob alle hier auf Profit getrimmt waren oder doch eher viele versch. Gründe (Erziehung, Charakter, Erfahrung, etc...) für ein bestimmtes Verhalten verantwortlich sind, naja ich halte Zweiteres für wahrscheinlicher.

@Bademeister
"Warum ist dieses System, das täglich für Jedermann sichtbar scheitert, eigentlich nicht mittlerweile ebenso verrufen wie der Gegenentwurf des Realsozialismus?"

Weil die Meisten sich diese Frage nicht stellen (wollen) oder selbst wenn, eine von Haus aus vorgegebene Antwort darauf haben (also ideologisch verblendet sind). Genau das müsste mal aber jemand in einem Interview mit Fr. Merkel stellen:

"Wieso ist der Realsozialismus in seiner extremen Form pauschal falsch, aber das Gegenstück dazu, der Manchester Kapitalismus wird als alternativlos und pauschal richtig angesehen?" Die Antwort würde ich gerne hören, aber diese Frage wird nie kommen. Bei der Frage geht es nämlich noch nichtmal um die Wertung. Es geht nur darum, dass sie bitte erklären soll, weshalb das eine immer falsch und das andere immer richtig ist. Für diese Einstellung muss es ja Gründe, Fakten, Argumente, etc... geben.

Anonym 18. September 2012 um 17:41  

Als Hospizhelfer kann ich Sie gut verstehen. Verwunderlich ist nur, dass Sie das so lange in sich haben arbeiten lassen. Menschen tendieren heute eher dazu, es erst überhaupt auf den letzten Drücker wahrzunehmen und es dann möglichst schnell wieder zu vergessen.

Die Griechen, vor allem die Epikureer und die Stoiker, waren da weit klüger. Sie haben ihr ganzes Leben danach ausgerichtet, einen möglichst guten, ehrenvollen, schönen Tod (daher kommt der Begriff Euthanasie) haben zu wollen. Sie haben das schon ihren Jüngsten eingegeben. Lebe jeden Tag als deinen letzten.

Angesichts des Todes, verdammen sich heute viele Menschen selbst zum Schweigen. im Grunde unverständlich, da alle so schlau sind wie jedermann, wenn es um den Tod geht. Es sind alle gleich ratlos, gleich machtlos und gleich dumm. Hier hat niemand ein Privileg. Nichts macht die Menschen angesichts von unterschiedlichem Reichtum, unterschiedlichen Verstandeskräften, unterschiedlichen Körpern so gleich untereinander wie der Tod. Napoleon musste ihn ebenso erleben wie der unbekannte Mann in der Gosse.

Wie Hartmut auch, konnte ich mir Ihre Erinnerng sehr gut vorstellen beim Lesen. Inklusive Fabrikhallenfenster. Im Grunde ist schon der Ort als Ort des eigenen Todes zutiefst würdelos. Außer mit einer geballte Ladung Humor würde wohl sonst niemand an solchem Ort freiwillig dahinscheiden wollen.

Cioran meinte einmal, einer der größten Verluste für die Abendländische Todeskultur sei die "Abschaffung" der Klageweiber gewesen. Wenn ich Ihren Beitrag lese, möchte ich glatt eine Forderung aufstellen, dass in solchen ("berufsgefährlichen") Betrieben Klageweiber wieder eingeführt werden, damit sich dem entstandenen Leid niemand einfach so entziehen kann. So sehr das nötigend wäre, so sehr denke ich doch, dass das Schweigen noch nötigender ist, vor allem, weil es so sinnlos ist. Aus ihm geht die eigentliche Angst vor dem Tode vielleicht erst hervor, denn wo niemand etwas zu sagen weiß, weiß auch niemand etwas zu verstehen. Versteht man aber nicht, was seit allen Zeiten und überall passiert, wird man ohnmächtig - und schweigt selbst. Klageweiber haben in diesemm Sinne vielleicht früher einmal die "erste Stimme" gegeben, das "Eis gebrochen" (früher werden die Menschen den Tod ebenso bedauert haben wie wir heute, nur sie haben weit weniger darüber geschwiegen). Heute hat kaum noch jemand eine solche Stimme.
Vielleicht ist das die gewaltigste, kulturelle Verdränungsleistung unserer Zeit überhaupt. Nichts ist so sehr Tabu wie das Sterben und der Tod, nicht einmal der Sex.

Auch wenn Sie das lange mit sich herumgetragen zu haben scheinen: es ist nur gut, wenn man so etwas vor sich selbst einmal verbalisiert. Wenn man Zuhörer hat, umso besser.

Ich klopfe Ihnen auf die Schulter.

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