Briefe in die polynesische Vergangenheit

Freitag, 11. November 2011

Oh Brüder, die ihr das Glück habt, auf gesegneter Muttererde Nukulaus zu schreiten, seit nunmehr einigen Wochen lebe ich bei den Pākehā, den weißen Seefahrer- und Luftseglervölkern auf der anderen Seite von Manaias großer Erde. Ich schreibe es euch, Brüder, lest genau: Wir haben über die Pākehā falsch geurteilt. Sie sind nicht, wie unser großer Tahu zu sagen pflegte, Wesen ohne Götter und Geister. Sie haben eine ausgeprägte Religiosität. Diese ist nicht, wie die Lehren unserer Tahus und Tohungas, sensibel und mit bildlichen Erklärungen ausgestattet, eher ein wenig ruppig und schroff. Gleichwohl, meine Brüder im fernen Nukulau, sie sind nicht nur denkende Kopf-Pākehā, sie haben auch ein Herz und das Bedürfnis, ihr Leben in die Hände eines großen und überirdischen Häuptlings zu legen.

Mich hat es an einen Ort verschlagen, den die Einheimischen B'len nennen. Ein sehr großer Ort mit sehr großen Häusern. Mir wurde erlaubt, ein solches Gebäude zu besteigen. Ich sah weit ins Land - Meer sah ich jedoch keines, stellt euch nur vor. Wie die Pākehā Meere bereisen können, ohne ein Meer vor ihren Hütten zu wissen, bleibt mir ein Rätsel. Oh Brüder, es gäbe so viel Seltsamkeiten zu berichten; Kleinigkeiten wie Großseltsames. Gerätschaften gibt es hier und Eigenarten des Benehmens. Aber Brüder, wie ihr wisst, bin ich vom ehrwürdigen Ariki zu den Pākehā gesandt worden, um deren Schamanismus zu ergründen. Davon will ich euch schreiben - fragt mich, wenn ich wieder zurück bin auf Muttererde Nukulau, nach all dem Gesehenen. Dann werde ich euch köstlich zu unterhalten wissen.

So laßt mich kurz erzählen. Die Pākehā haben Götter und Geister, denen sie ihren Alltag übertragen. Ihre Tohungas kommen täglich in jede Hütte. Ihr müsst dazu große Vorstellungsgabe haben, Brüder. Die Pākehā haben Kästen in ihren Hütten stehen, die Klänge und Bilder verströmen. Bewegliche Bilder. Dieser Kasten trägt einen sehr schönen Namen: Tefau - fast wie eine kleine Schwesterinsel gleich neben Nukulau, liest sich das. Für mich ein Indiz dafür, dass sich die Pākehā, nachdem sie uns am anderen Ende der Erde entdeckt hatten, auch etwas von uns abgeschaut haben. Ein schöner nukulauischer Name für den Kasten. Dort jedenfalls, oh Brüder, sprechen ihre Tohungas heraus. Trockene alte Zausel und Jungfern, die viel über Religion schwatzen. Es gibt viele Geister und Götter und ich bin mir nicht sicher, ob ich jedes Wesen einordnen kann. Ein besonders wichtiger Geist scheint Wak-tum zu sein. Wahrscheinlich eine Art Hilfsgeist, der Wohlstand über die Pākehā bringen soll. Wak-tum muß geschaffen werden!, ist ein Gebetsspruch, der vermutlich der Beschwörung dient. Manchmal ist jedes dritte Wort Wak-tum und ich vermute stark, dass man Wak-tum deshalb so oft in Sätze einbindet, damit er sich erbarmt, eine Götterparade, die sie die Merctes nennen, abzuhalten, die dann wiederum zu Glück, Gesundheit und Wohlstand führen soll.

Die Merctes sind die Wesen der obersten Göttergalerie. Für sie tun die Pākehā alles. Und nun, oh meine Brüder, hört genau zu: als sie unser schönes Nukulau entdeckten, dann taten sie es genau für jene Merctes. Es war nicht Gier, wie unser alter Ariki Koloueli immer behauptete. Sie taten es für ihre Götter. Wir müssen daher unsere Geschichtsschreibung neu überdenken. Sie sind keine Bestien, keine Ausbeuter - sie tun das ja nicht freiwillig, sondern weil es ihnen ihre Götter anraten. Bedenkt das, wenn ihr bald wieder auf die Pākehā schimpft. Sie wollen euch nichts Böses, Brüder. Dahinter steht die Göttervielfalt der Merctes. Und es ist der böse Hilfsgeist Wak-tum, der ebenfalls verantwortlich ist. Die Pākehā führen nur aus.

Die Merctes sind oft sehr nervös, erklären ihre Tohungas und Tahus. Das tun sie jeden Tag mehrmals. Merctes sind ungestüme Götter. Sie kennen keine Gemütlichkeit. Ständig wollen sie befriedigt werden. Wak-tum ist immer dabei. Merctes, so die Tohungas besorgt, könne ohne Wak-tum nicht gedeihen. Die Pākehā sind sehr religiös, sie unterwerfen sich den Merctes. Sie halten sich ständig kleine Kästchen seitlich ans Gesicht. Brüder, sie lieben Kästen und Kästchen in allen Größen und Farben. Die kleinen Kästchen heißen allerdings nicht Tefau. Ich vermute, diese kleinen Kästchen sind dazu da, um ständig mit den Merctes in Verbindung zu stehen. Sie sprechen mit den Kästchen und besänftigen die böse Stimme der Merctes, die sie aus dem Kästchen hören können. Außerdem vermute ich, dass diese Gesichtskästen kleine Figuren von Wak-tum sind - denn nur mit Wak-tum gedeihen ja bekanntlich die Merctes.

Oh Brüder, die Pākehā sind getriebene Wesen. Merctes sind knallhart. Sie haben fürchterliche Angst vor Bestrafung durch sie. Ihre Häuptlinge machen Regeln, die zur Ruhigstellung der Merctes dienen sollen. Das gelingt nicht immer und dann beschimpfen sie sich gegenseitig. Sie werden laut und machen sich Vorwürfe. Dabei schwitzen sie nicht und werden auch nicht zornesrot, wie es Tohunga Tawhiao immer wird, wenn wir den Ritus nicht pfleglich einhalten. Ich glaube, das Beschimpfen ist bei den Pākehā nur ein Ritual, ist gar nicht ernst gemeint. Wahrscheinlich wollen Merctes, dass sich Häuptlinge beschimpfen. Ein weiteres Ritual ist es, alten Häuptlingen still zu lauschen. Hier am Ort B'len verfolgen sie andächtig die Worte zweier Manaias. Beide sind sehr alte Männer. Ihr Ehrentitel lautet El-Mut, was ungefähr soviel bedeutet wie weiser und alter Häuptling. Einer dieser El-Muts heißt Tch-Mit; der andere Ko-Hohl. Tch-Mit ist immer so still vor sich hinwütend, dass es ihm aus dem Rachen raucht. Ko-Hohl spricht seltener, wenn er es aber tut, so sind seine Zuhörer voll Einsicht. Letzterer, so sagt es die Legende, sei mit schwarzen Koffern voller Tauschwaren über sein Volk gekommen. Diese beiden Hohenpriester stehen den Merctes sehr nahe. Man erwartet, dass sie bald selbst zu Götter in Merctes werden.

Nun sehe ich mich gezwungen, meine Zeilen zu unterbrechen. Ich werde gleich einem religiösen Zeremoniell beiwohnen. Im Tefau sprechen gleich einige Tahus über die Lage Merctes. Dazu lassen sie oben und unten Schriftzeichen laufen, die Merctes Laune erzählen. Tahus sprechen dabei sehr schnell und laut und wirr in Stäbe; sie beten Merctes, seid uns gnädig! und Merctes, die wir euch dienen! Schriftzeichen geben Auskunft, ob die Beschwörung gefruchtet hat. Derzeit scheinen die Merctes aber sehr wütend und das Gebet nicht sehr erfolgreich zu sein. Krise nennen die Pākehā das. Krise meint den Zustand, wenn Götter und Erdenwesen sich voneinander entfernen.

Ich muß also aufbrechen, das Zeremoniell ruft und ich will es nochmals bestaunen. Doch, Brüder, seid euch dessen gewiss, ich schreibe euch alsbald wieder und erzähle euch von den Lehren, die Merctes für ihre Pākehā bereithalten. Sie sind moralische Wesen, im Einklang mit der Muttererde. Soviel will ich euch schon jetzt sagen, oh Brüder. Wir müssen uns ein neues Bild von den Pākehā machen. Sie leben in Einklang mit Manaias schöner Natur, so wie wir es tun - nur auf ihre eigene Weise. Lebt wohl, bis ich euch wieder berichte, küsst mir Nukulaus Sand und Wiesen...



6 Kommentare:

Maldovi 11. November 2011 um 10:26  

Oh Bruder, gedankt sei Dir für Deine Einsichten in das Treiben der Pākehā!
Lass Dir gesagt sein: Auch ich hatte das Vergnügen mit ihnen, und ich kann Dir sagen, dass sie ihre Götter weit mehr hinterfragen als wir die unsrigen.
Allabendlich mittlerweile sieht man, wie sie in ihren magischen Televisions-Apparaten ihre Götter in "Talkshows" hinterfragt, ihre Fehlbarkeit kommt beständig zur Sprache.
Auch in ihren verschriftlichten Medien kommt man kaum mehr an Artikeln vorbei, die sich mehr mit dem Schatten als mit dem Licht ihrer in Frage gestellten Götter beschäftigen.
Ach, ich wünschte, dass wir ebenso kritisch mit den unsrigen Göttern umgingen. Aber wir werden dafür Bewußtsein schaffen und es den Pākehā einmal gleichtun.
Sei gegrüßt!

klaus baum 11. November 2011 um 11:28  

die briefe von paulus an die römer sind ebenfalls empfehlenswert - neben rosendörfer.

Cygnus 11. November 2011 um 12:59  

Liebe Brüder (und Schwestern),

laßt euch nicht vom trüben Blick des Briefe schreibenden Bruders den Blick trüben: Viele Dinge mögen die Pākehā haben, aber ein Herz besitzen sie nicht. Sie werden nicht zögern, überall auf Manaias großer Erde viele Tausend mal Tausend Brüder und Schwestern zu schlachten um sie ihren gefräßigen Göttern Merctes, Wak-tum und Proph-Iet als Opfergaben in den gefräßigen Rachen zu werfen. Dies tun sie immer, wenn sich ihre Götter von ihnen abzuwenden drohen.
Laßt euch nicht vom Glanz ihrer Tempel und Kathedralen blenden, sondern macht sie dem Erdboden gleich, und ihre Priester legt in Ketten, wo immer ihr ihnen begegnet, wenn ihr noch länger auf gesegneter Muttererde Nukulaus schreiten wollt.

Die rote Katze 11. November 2011 um 13:00  

Sehr schön. Wenn das mal in dieser Weise dargestellt wird, wird die Absurdität dessen, was hier abgeht, gleich viel deutlicher.

Anonym 11. November 2011 um 16:06  

Ein Herz dürfen sie nicht haben,
weil sie es dem Mamm On opfern müssen.

Das ist ihr Sakrament der Pākehā-
Weihe, ohne die sie sich den Mercte
niemals nähern dürfen, geschweige denn sie ansprechen!.
Sonst bleiben sie stumme Tempeldiener, die sich im Hintergrund halten müssen und bei
Existenzgefahr NIEMALS das Allerheiligste betreten dürfen.

Anonym 11. November 2011 um 21:41  

Haha, einfach klasse ... muss zugeben ... hab ein paar Sekunden gebraucht ....

Einfach stark ... Pākehām in Verbindung mit Wak-tum, Merctes ...

Eine derartige Betrachtungsart über die Belange der Glaubensrhetorik unserer Brüder und Schwestern hab ich noch nicht gelesen ;)

Ein Tipp wäre schön, wie nenne ich jetzt diesen Gebetskasten ... ein jener der zumeist stummen Symbolik, die auf keiner Steintafel ihren Platz finden könnte, dem ich nun irgendwie zu huldigen scheine? ;)

Gruss
rosi

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