Legitimitätsfragen!

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Die Frage musste ja aufgeworfen werden: Wie kommen diese Typen eigentlich dazu, für 99 Prozent sprechen zu wollen? Die Antwort musste ja gegeben werden: Das haben schon mal welche in Deutschland gemacht, nämlich "eine kleine Gruppe von Nazi-Ideologen"! Da leben wir in einem Land, in dem man neuerdings ungeniert genetische Taschenspielertricks als Wissenschaft verkaufen darf, in dem man als Ausländer beäugt wird wie ein Stachel im Volkskörper, in dem Leitkultur deutscher Provenienz wieder diskutabel ist - aber nazistisch sind nicht diese Auswüchse und ihre Ideologen, nazistisch sind die, die gegen den Kapitalismus demonstrieren.

Das publizistische Hallali gegen die Protestkultur scheint eröffnet. Das "gesunde Volksempfinden" von Wir sind 99 Prozent! ist irgendwie nationalsozialistisch oder ähnelt der Leitlinien der SED - wie man diffamiert, kann man sich als williger Kunde der Diffamierungskampagne also aussuchen. Es ist für jeden Geschmack etwas dabei, um sich der "gutgemeinten Umarmung" zu entziehen. Wer hat der Bewegung eigentlich die Legitimität dafür gegeben, für 99 Prozent zu sprechen? Die Frage ist berechtigt und die Antwort knapp: niemand! Das ist schon wahr. Aber fragen sollte man dann auch, wer beispielsweise der EZB die Legitimität gegeben hat? Wer hat den Volksvertretern eigentlich die Berechtigung gegeben, mit Konzernen zu promenieren, gleichwohl man dem Bürger harten Fußmarsch verordnete? Die Antwort, sie wäre vermutlich dieselbe: niemand! Jedenfalls nicht der Souverän...

Überhaupt eine ganz verquere Sichtweise, die das Qualitätsmedium Stern pflegt. Woher nehmen diese Leute das Recht, für 99 Prozent zu sprechen, fragt es. Diese Leute fragen jedoch gleichfalls, woher das übrige Prozent das Recht nimmt, sich die Welt so zu gestalten, wie sie es für rentabel hält. Das ist nebenher die viel essentiellere Berechtigungsfrage. Woher nehmen diese Leute das Recht, die Welt als ein Gemisch aus Kosten und Nutzen, Aufwand und Brauchbarkeit, Aufwendungen und Verwendbarkeit zu betrachten, in dem die Interessen der Menschen immer mehr zurückgedrängt werden? Woher nehmen sie diese Chuzpe, 99 Prozent ihrer Profitgier untertan zu machen? Legitim durch politische Wahlen!, könnte man antworten. Sicher - jene Wahlen, bei denen keine Optionen, nur There is no alternative! angeboten werden; bei denen die Wahlbeteiligung mehr und mehr strauchelt; bei denen Volksvertreter gewählt werden, die in Aufsichtsräten profitorientierter Unternehmen sitzen. Ist das alles so sehr legitim?

Das ist die große Frage, die die Occupy-Bewegung umtreibt. Der Journalismus dreht nun den Spieß um und richtet dieselbe Frage auf die Parole dieser Bewegung und verunglimpft sie als nazistisch. An der Parole hängt er sich auf. Und die kleine Gruppe von Neoliberalismus-Ideologen, die ihr wildes Treiben für mit dem "gesunden Volksempfinden" kompatibel erachten, die haben keinen Hang zum Totalitarismus - oder wie darf man das verstehen? Die erklären doch auch unentwegt, sie machen Politik und Wirtschaft für die schweigende Mehrheit - popolus lo vult! Die Frage nach Gerechtigkeit, nach Gleichheitsaspekten, die in der Parole von Occupy! hörbar wird, das macht die Frage nach der Legitimität überflüssig - die Nazi-Ideologen, die der Stern bemüht, haben sich nie über solche Ideale den Kopf zerbrochen. Und das übrige Prozent, das sich auf 99 Prozent stützt, es kennt solche Aspekte heute auch nicht. Genau deshalb ist die Frage nach deren Legitimität berechtigt und jene nach der Legitimität der Demonstranten belanglos.



8 Kommentare:

klaus baum 27. Oktober 2011 um 08:02  

Diese ständigen Umkehrungen a la Orwell sind auch ein Kennzeichnen des Neoliberalismus. 99 prozent werden von der unersättlichen profitgier dieses einen prozentes massiv dominiert, und zwar diktatorisch dominiert. und jetzt soll der protest gegen diese diktatur diktatorisch sein?

ich finde die verteidiger der herrschenden verhältnisse nur noch peinlich. dumm und dreist.

antiferengi 27. Oktober 2011 um 08:21  

Das ist guter gewohnter Bertelsmann-Journalismus. Für jeden ist etwas dabei. Jeder kann sich darin wohlfühlen, seicht und smart rein-lesend, und jeder liest auch den kleinen hängen-bleibenden Aha-Effekt versteckt in den Zeilen. Man sehe sich dazu etliche dieser Bertelsmann-Studien an, die nach gleichem Muster funktionieren.

Eines wurde allerdings diesmal übersehen;

"Wir sind Papst".

Behauptet Bertelsmanns Flagschiff jetzt gar noch, dass Springers Erben katholische Nazis mit totalitärem Anspruch sind? Oh,oh,oh...

Stefan Sasse 27. Oktober 2011 um 08:31  

Naja, die Frage an sich ist schon berechtigt. Tatsächlich sprechen die occupy-Jungs sicherlich nicht für 99%; angesichts von immer noch 3% FDP-Wähler ist diese Mathematik hinfällig. Die 99% sind ja nur eine Metapher, was dem Stern hier zu entgehen scheint. Nichts desto trotz hat occupy genausoviel oder genausowenig demokratische Legitimation wie die Tea-Party-Bewegung.
Was die EZB und das Parlament angeht: der Souverän hat ihnen sehr wohl die Legitimität gegeben. Der Bundestag ist grundgesetzlich korrekt zusammengestellt worden, und die EZB wurde von den Volksvertretern geschaffen. Das BVerfG hat zu dem sogar seinen Segen gegeben. Man kann die konkrete Politik attackieren, aber die Legitimität lässt sich schlechterdings nur in Frage stellen, wenn man das bestehende parlamentarische System insgesamt in Frage stellt.

Elwood 27. Oktober 2011 um 14:11  

Die aufgeworfene Legitimitätsfrage geht ja am Kern der Sache vorbei. Der im Rahmen von Occupy Wall Street aufgekommene Slogan "We are the 99%" ist auf die Verteilung des Wirtschaftswachstums in den USA wärend der letzten Dekade, in der so gut wie alles beim obersten Prozent der Einkommenspyramide landete und die restlichen 99% nichts davon sahen, zurückzuführen. Hierzulande war das bei einem Verhältnis von etwa 10:90 nur unwesentlich anders.

Mit der 99%-Aussage steht also nicht die Legitimitäts-, sondern die Verteilungsfrage im Raum.

Anonym 27. Oktober 2011 um 14:19  

Grundkurs Negative Dialektik

Adornos Gedanke ist logisch schon fast haarsträubend einfach, und ich bin sehr verbittert darüber, dass dieser Gedanke promovierten Teutschen Adorniten aufgrund ihrer erniedrigenden „Ausbildung“ plötzlich nicht mehr vermittelbar ist (x-beliebigen Punk-Teenies dafür umso leichter).

Es heisst „Occupy Wallstreet“ und nicht etwa „Occupy Middle West“: Die „99%“ sind ein logisches Nebenprodukt der eigentlich thematisierten „1%“. In der Kritischen Theorie heisst das „bestimmte Negation“ des „Identischen“: Die 1% sollen und können positiv bestimmt werden, denn diese 1% repräsentieren real das „Identische“, das durch formal korrekte demokratische Verfahren zustande Gekommene, das institutionell wissenschaftlich Abgesicherte, das im Qualitätsjournalismus immer und immer ad nauseam Wiederholte, kurzum: das Ganze und das Wahre.

Ausgehend von diesen 1% kann negativ das „Nichtidentische“ abgeleitet werden, das in den realen demokratischen Verfahren nicht Repräsentierte, das aus wissenschaftlichen Fachzeitschriften Ausgeschlossene, das im Qualitätsjournalismus nicht Thematisierte. Der revolutionäre Kern in Adornos Gedanken besteht darin, dass eine positive Bestimmung des „Nichtidentischen“ dieses logisch zwangsläufig in „Identisches“ verwandelt, welches das historisch Revolutionäre mit der Zeit ins Reaktionäre verkehrt. Dieser Gedanke lag im Konkreten schon der Dialektik der Aufklärung zugrunde, die Negative Dialektik verallgemeinert darauf aufbauend dessen logische Form: Das Ganze ist das Unwahre.

Umgekehrt ausgedrückt: Der logische Kern der „99%“ besteht also darin, dass sie positiv eben gerade nichts repräsentieren, vulgo, dass „diese Typen“ eben gerade nicht die Macht ergreifen wollen. Was nicht heisst, dass sich an solchen Events nicht viele zukünftige Joschka Fischers tummeln würden, dass gerade der Qualitätsjournalismus sich in gegenseitiger Symbiose auf zweitere Sorte „Typen“ kapriziert und im Erfolgsfall als Popstars der Bewegung produziert.

aCAMPadaBerlin 27. Oktober 2011 um 15:07  

99% Prozent bedeutet dass im bestehenden Schneeball-Geldsystem eben jener Teil der Bevölkerung langrfristig zwangsweise den Kürzeren zieht...es ist im Übrigen nicht "antisemitisch" oder sonst was darauf hinzuweisen, genau das Gegenteil ist der Fall:

Nur wenn die breite Masse kapiert, dass es an der (Geld)-Systemlogik liegt sehen die Leute davon ab später einigen Wenigen die Schuld zu geben!

Björn 27. Oktober 2011 um 16:50  

Haha, der Heidboehmer haut ne Satire raus und alle fallen darauf rein. Spätestens beim Diktaturvergleich sollte einem auffallen, dass das gar nicht ernst gemeint sein kann, so dummdreist kann gar niemand...oh verdammte...

flavo 27. Oktober 2011 um 17:26  

Abgesehen von dem Instrument des Neoliberalismus, durch aus Reichtum eingerichteten Massenmedien sprachliche Defintionsprozesse zu bewerkstelligen, kann man darin aber auch noch anderes sehen.
Es partizipieren viel zu viele Menschen illusionär an diesen Herrschaftsverhältnissen, an der sensuellen Welt dieser 1%. Wer möchte sagen, dass er nicht positive Gefühle hegen würde, wenn er selbst zu diesen 1% gehören würde. Viele wohl zunächst, aber weniger bei genauerer Betrachtung. Diese Identifizierung reicht schon. Man partizipiert an der Macht der Herrschenden, in dem man deren Moral in sich trägt und sie exekutiert. "Mit hilfe des Über-Ichs 'partizipiert' das Ich an der Macht des mächtigen Vaters, der Erwerb des Über-Ichs entspricht dem Erwerb einer Trophäe."(Fenichel 1939 Trophäe) Die aggressiven Energien des Umsturzes werden lahm gelegt und die Welt der Herrschenden, mit der man sich Identifiziert hat, wird als die eigene Empfinden. Derart trägt man die Fremdherrschaft über sich selbst zu aller Qual noch in sich. Ist man gegen das 1%, muss man an sich bemerken, dass man auch gegen sich sein müßte. Diese Ehrlichkeit ertragen nicht viele. Die Form und das Sensorium der Seele sind somit angeordnet und geneigt, das Bestehende zu repoduzieren. Am leichtesten ist es noch, sich im Denken davon zu distanzieren. Aber schwieriger ist es, im nächsten Moment nicht zurückzufallen und die Kupplung loszulassen und die alten Schemata wieder in Kraft treten zu lassen. Ein tiefes Problem aller Aufstände und Revolutionen oder Personen (Fischer), die sich in ihr Gegenteil verkehren. Die 99% sind im Status quo nichts anderes als das 1%. Das Infragestellen der Relation, und um die geht es letztlich, um Verhältnisse, dieses Infragestellen steht vor der offenen Zukunft. Tendenziell ist ein Austausch zu befürchten. Ein anderes 1% will das 1% spielen oder sich zu dem 1% dazuheimschen und beide in ein 2% verwandeln oder 4%, je nach dem. Typisches Beipsiel die Grünen: die Frucht des Kampfes war die Etablierung innerhalb des 1%. Prokalmiert war die Abschaffung der Relation. Tja, so gehts eben.
Der weit verbreitete pejorative Ton in den Medien ist wohl bezahlt sowie Ergebnis dieser illusionären Partizipation an der Moral des 1%. Das Journalistenmilieu ist heute ja ein sehr eigenartiges, voll mit außengelenkten Trendheischern und spröde-graublassen Stiefelleckern. Im konkreten sind es auch nur Menschen mit einem Denk- und Gefühlsapparat, der halt synchron mit dem des 1% läuft. Im Hintergrund schwelt freilich die Angst. Die Vernunft weckt zunächst die Angst. Die Angst ist der Bote der leisen Vernunft, deren Anspruch sich bemerkbar zu machen droht.

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