In Ruhestellung

Freitag, 24. Dezember 2010

Zuunterst, obgleich Kerzen glimmen, Tannenbäume schimmern, die ganze Erde juchzt und feiert, zuunterst, brütet selbst zum Liebesfest die Wut. Weihnacht ist und alle Welt tut so, als denke sie an die Gosse, an diejenigen, die im Rinnstein verwesen, die aus dem Raster gefallen sind, die nun in der Jauchegrube bemüht sind, ihren Scheißegeruch zu tilgen. Weihnacht ist und der Gosse wird gedacht, all der armen Kretins wird gedacht, die sich waschen und waschen und immer wieder waschen, nur um diesen penetranten Geruch nach Stuhl und Harn auszuradieren. Waschen waschen, um am Ende nie aus dem gestankspendenden Abfluß der Gesellschaft zu enteilen, um endgültig darin eingezogen und wohnhaft geworden zu sein.

Zwischen Stank und Brodem, tief drunten, zuunterst, ist es Weihnacht. Und einmal im Jahr, nur ein einziges Mal im Jahr, wird nicht dorthin geschissen und geschifft, wo der gesellschaftliche Menschenabfall döst. Wenn Weihnacht ist, wird aus dem Penner, dem Erwerbslosen, dem Ausländer, dem prekären Arbeitsnomaden ein Mensch - ganz kurzfristig und nur kurzzeitig, ein Mensch mit Antlitz. Er mag in Schwaden aus Abgasen und Abfällen leben, eine Bruchbude sein Heim nennen, monatlich, wöchentlich die Gosse vor den Hütern und Vermittlern der Drangsalsanstalten kennenlernen und einatmen - doch zur Weihnacht darf er sich, soll er sich Mensch rufen. Ein Mensch, den man anlächelt, dem man hilft, dem man Fressen in den Napf spuckt, mit dem man in einem wirren, irrationalen Moment der Leutseligkeit womöglich sogar an einem Tisch speisen würde. Ein richtiger, ein wahrer, ein menschlicher Mensch!

Flüchtig des Miefs enthoben, von der Scheiße befreit, als Eiter, als Krebs, als Geschwür der Gesellschaft abgelöst, lichtet sich die Tristesse. Nein, wir sitzen gar nicht in der Gosse!, sinnieren die Stinkenden. Man akzeptiert uns doch! Neinnein, wir haben uns in denen getäuscht, die uns täglich die Köpfe vollscheißen und den breiigen Dung auch noch einmassieren! Es ist Weihnacht und die ganze Welt liebt die Armen, die Hungernden, die Resignierten. Vom schmierigen Gänsebraten blicken sie auf, zwischen Gebirgen von Geschenken linsen sie hindurch, dabei an jene denkend, denen es an jenem Abend schlechter ergeht. Oh, mein Reicher, was wärst du ohne mich? An wen könntest du denn im Anflug von Nächstenliebe denken, wenn ich arme Sau nicht wäre? Und dann ist das jährliche Spiel vorbei, ausgespielt, Weihnacht verfliegt, der Rausch gleich mit. Zurück bleibt der Kater, die Ernüchterung, bittere Erkenntnis und es kehrt heim der Urindampf, der Stuhlgeruch, das ganze unappetitliche Programm menschlicher Säftebildung.

Zuunterst brütet die Wut. Wenn sie romantisch und verträumt vom Fest der Liebe sprechen, ihre Humanität herauskehren, zum Weihnachtsfest Abendessen für die Einsamen spendieren, während die Einsamen dreihundertvierundsechzig Tage des Jahres weiter vereinsamen. Oh, wie brütet die Wut, wenn sie so tun, als wären sie auf ihren Nächsten bedacht, auch auf jenen Nächsten aus der Pissrinne, bloß um letzten Endes die magische Nächstenliebe jenes Abends zu vergessen. Vergessen, damit sie sich ihrer Peinlichkeit, ihrer Sentimentalität nicht schämen müssen. Wie faucht die Wut, wenn oberhalb des Abschaums Liebe psalmodiert wird, um am anderen Tage wieder pflichtgemäßer Ausbeuter, Unterdrücker, Aufwiegler, Schlächter zu sein! Wie sehr waltet doch die Wut, wenn sie Humanisten spielen, Mildtätige darbieten, Selbstlose karikieren. Wie elend erbricht sich die Wut, wenn sie Interesse heucheln, damit sie tags darauf darüber schwatzen können, was für feine Barmherzige sie doch sind, was für elende, einschläferungswürdige Stinker sie hofieren durften. Meterweit kotzt die Wut sich im hohen Bogen aus, wenn dann all diese Liebenden, Mitfühlenden, Verständnisvollen wieder an ihren Posten und Pöstchen strammstehen, die Gosse durch das Jahr hetzen, dem Erwerbslosen Engpässe und Bedrängnis schenken, dem Obdachlosen schiefe und entehrende Blicke, dem Niedriglöhner Spott und gute Ratschläge, wie er es zu etwas hätte bringen können. Meterweit kotzend, sich schier einscheißend vor Wut, wenn sie an die afrikanischen Kindlein denken, Blähbäuchlein mit Almosen tätscheln, von Minen gestiftete Bein- und Armstümpfe mit dem Balsam der Spendenquittung einreiben, nur um nach dem Weihnachtsurlaub die Waffenexporte zu expandieren, Diktatoren über die Köpfe afrikanischer Kindlein zu stellen, Blähbäuche zu verewigen, Kinderarbeit zum Sinnbringer zu erklären!

Im Dreck der Gesellschaft, in der Talsohle, zeichnet sich das Fest der Liebe durch blanke Wut aus. Die Pissrinne liebt keiner, man kann sie sich zur Weihnacht noch so sehr schönsaufen, sie bleibt immer feucht, glitschig, stinkend. Das Fest der Wut! Vor diesem institutionalisierten Schauspiel, jährlich gegen Ende des Dezembers veranstaltet und aufgeführt, kann man nicht aufrechten Standes harren. Man faßt sich an den Bauch, beugt sich vorneüber und es geschieht - speiübel erträgt man den jämmerlichen Rest des Abends, darauf wartend, ab dem morgigen Tage wieder ein Penner zu sein, ein Nichts, ein Niemand, ein Verlierer, der letzte Dreck, Freiwild, auf das die Hetzredner und Fanatiker ungestraft ballern dürfen. Zuunterst, durch die braune Brühe der darüberstehenden Schichten watend, wünscht man sich traditionellerweise ein frohes Fest. Blanker Unsinn, romantisches Brauchtum und Schwärmerei! Denn zuunterst weiß man, frohe Feste feiern andere, in der Gosse atmet man nur einen Abend durch, ist man einen Abend entlastet, geduldet sich flüchtig in Ruhestellung, um den Kampf morgen wieder aufzunehmen.

Dieser Text erschien bereits im Vorjahr zur Weihnachtszeit.



9 Kommentare:

Anonym 24. Dezember 2010 um 09:20  

woow, lyrik

ega333 24. Dezember 2010 um 09:21  

So in etwa habe ich mich kürzlich auch geäußert und dafür viel Schelte bekommen. Das dieses System überhaupt noch einigermaßen funktioniert, ist und bleibt ein Rätsel.

Anonym 24. Dezember 2010 um 10:02  

A.

Weihnachten ist ein verlogenes Fest!

Bitte den obigen Text jährlich wieder rein stellen.

Heiko 24. Dezember 2010 um 12:28  

Auch wenn einen Tag vor Weihnachten der Bescheid kam mit der kompletten Anrechnung des Elterngeldes (also Kürzung) nebst 30% Kürzung des ALG2-Satzes, ich wünsche euch trotz allem eine besinnliche Weihnachtszeit fernab von Hektik und Kommerz. Ein guter Mensch wie hier häufig anzutreffen, läßt hunderte solcher Psychopathen in Politik, Amt und Wirtschaft vergessen.

Anonym 24. Dezember 2010 um 13:31  

Irgendwann verfällt dieses Land in Agonie und Zerfall.

Anonym 24. Dezember 2010 um 14:10  

Danke für, aber ich sehe Weihnachten eh als "Sol Invictus", das Fest des römischen Sonnengottes, an.

Wer sich schon einmal mit der Frühgeschichte des Christentums befasst hat, und zwar die Version der kritischen Kirchengeschichtsschreibung (Ja, die soll es geben, z.B. der Ex-Theologe und Kirchenkritiker Karlheinz Deschner), der weiß, dass es den ersten Christen nicht reichte die "Heiden" mit Feuer und Schwert zum angeblich "einzig wahren" Glauben zu bekehren.

Nein, man machte diese "Heiden" noch nach dem Untergang ihrer Kultur schlecht, und klaute noch deren höchste Feiertage, eben "Sol Invictus" von Christen am 24./25. Dezember jeden Jahres als "Weihnachten" gefeiert.

Traurig, aber leider wahr.

Dennoch schöne Weihnachten

Übrigens, irgenwo im Netz soll es ein Gedicht aus der Zeit des ersten Weltkrieges geben, über Weihnachten, mit dem Titel "Kitsch und Kälte" - irgendwie erinnert "In Ruhestellung" mich daran.

Tipp: Sucht mal danach.

Ist einige Jahre her, dass ich es gelesen habe, aber ich bin mir fast sicher, dass Abschriften davon noch im Netz zu finden sind, zumal ich meine, dass es sogar von einem bekannten dt. Dichter/Schriftsteller der damaligen Zeit stammen soll.

Anonym 24. Dezember 2010 um 15:00  

Irgendwann??? ...

Anonym 29. Dezember 2010 um 11:43  

wieso fiel mir in diesem Zusammenhang sofort die PR-trächtige Armenspeisung durch den großherzigen Frank Zander in Berlin ein?

Der rbb hat ja fleißig darüber berichtet.

@ Anonym

"Irgendwann verfällt dieses Land in Agonie und Zerfall."

Mich erinnert die ganze Sache immer mehr an die DDR im Zustand von etwa 1988. Das schönste daran war immerhin, dass danach 1989 kam...

Anonym 30. Dezember 2010 um 21:27  

Hermann Hesse, der in weiß Gott keiner besseren Zeit lebte, fand so unendlich beseeltere treffende Worte dazu. Vielleicht als kleines Kontrastprogramm:

Ich sehn’ mich so nach einem Land
der Ruhe und Geborgenheit
Ich glaub’, ich hab´s einmal gekannt,
als ich den Sternenhimmel weit
und klar vor meinen Augen sah,
unendlich großes Weltenall.
Und etwas dann mit mir geschah:
Ich ahnte, spürte auf einmal,
daß alles: Sterne, Berg und Tal,
ob ferne Länder, fremdes Volk,
sei es der Mond, sei’s Sonnnenstrahl,
daß Regen, Schnee und jede Wolk,
daß all das in mir drin ich find,
verkleinert, einmalig und schön
Ich muß gar nicht zu jedem hin,
ich spür das Schwingen, spür die Tön’
ein’s jeden Dinges, nah und fern,
wenn ich mich öffne und werd’ still
in Ehrfurcht vor dem großen Herrn,
der all dies schuf und halten will.
Ich glaube, dass war der Moment,
den sicher jeder von euch kennt,
in dem der Mensch zur Lieb’ bereit:
Ich glaub, da ist Weihnachten nicht weit!

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