Der Verdacht als Beweiselement

Mittwoch, 6. Oktober 2010

Im Kielwasser von Missbrauchsdebatten treibt zunehmend jener phrasenhafte und beredte Konsens, der klarmachen will, dass Missbrauchstätern keine Gnade zufallen darf. Dieses Plazet ist zum Selbstläufer geworden, hat viele als vollkommen unverdächtig geltende Bürger dazu überredet, sich für die Todesstrafe solcher Straftäter zu engagieren. Obwohl diese grimmige Haltung viele Anhänger findet, so dürfte die Mehrheit besorgter Eltern jedoch nicht dahingehend tendieren. Was den Umstand betrifft, dass man bereits des Missbrauchs Verdächtigte, die gerichtlich noch gar nicht vernommen oder gar verurteilt wurden, mit dem Verbrechen stigmatisiert: das dürfte mittlerweile, auch gestützt durch eine hemmungslose Berichterstattung der Medien, durchaus Usus sein.

Der Missbrauchsverdächtige ist ja nicht umsonst unter Verdacht geraten, vernimmt man da desöfteren. Er muß doch etwas getan haben, was ihn verdächtig werden ließ - wer sich einwandfrei benimmt, der kann in so eine Bredouille nie und nimmer geraten. Diese sich nicht durch Indizien erhärtende Logik entstammt dem bürgerlichen Spektrum, das stets die Eigenverantwortung als eines der höchsten Güter emporhält: so wie der Erwerbslose die Schuld für seine Situation selbst trägt, so ist der Verdächtige ebenfalls schuldig, verdächtig geworden zu sein. Derlei unreflektiert und unkritisch verstandenes Rechtsverständnis kommt denen, die einen Missbrauch mit dem Missbrauch betreiben - ob wissentlich oder nicht -, zupass - der geistige Nährboden des apriorischen Aburteilens liegt in einem Denken begraben, in dem der Eigenverantwortlichkeit ein höherer Stellenwert zukommt, als dem Ausgeliefertsein an sozio-ökonomische Gegebenheiten. Das soll mitnichten heißen, dass ein Missbrauchstäter (ein verurteilter!) Opfer seines Umfelds sein muß - aber es bedeutet, dass ein Missbrauchsverdächtigter durchaus unschuldig in sein Dilemma gestolpert sein kann. Diese Unschuld gilt, bis ein Richter gegenteilige Beweise heranziehen kann, bis aus dem Verdächtigten auch ein Täter hervorgeht.

Tragisch ist, dass dieses Denkverhalten, Verdächtige bereits als schuldig zu begutachten, weil ja angeblich niemand unschuldig in Verdacht gerät, als eine Form moderner Zivilcouragiertheit verstanden sein will. Nur keinen Fußbreit Toleranz mit potenziellen Vergewaltigern; kein Milde, keine Gnade! Wer
zu nachsichtig ist, gerät in den Ruch, den Vergewaltiger - der ja noch gar keiner ist, vielleicht nie einer wird, falls er unschuldig in den Verdacht geriet! - zu unterstützen; vielleicht selbst ähnliche Phantasien zu hegen. Ohne Gnade und ohne Bedacht auf geltendes Rechtsverständnis auf Verdächtige einzudreschen, Rufmord zu betreiben, deren Ansehen zu beflecken: das ist zu einer modernen Variante von Zivilcourage geworden. Endlich sei eine Zeit angebrochen, wo man den Missbrauch gesellschaftlich thematisiere, wo man Täter zur Rechenschaft zöge - und gleich auch noch Verdächtige, wenn wir schon dabei sind! In so einem Klima gilt die Verhetzung als Mosaikstein der Justiz - besonders laut nach Rache, nach Vergeltung, nach Züchtigung zu schreien: das ist der Geist aktionistischer und hysterischer Bestrafungswut, die sich an Emotionen kettet, nicht an Gesetz und Rechtspraxis.

Michel Foucault beschreibt in seinem Buch "Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses" diese moderne Auffassung, die Verdächtige jener Schuld überführt, verdächtig geworden zu sein: "Die Beweisführung bei Gericht gehorchte also nicht dem dualistischen System wahr/falsch, sondern einem Prinzip der stetigen Abstufung: eine bestimmte Stufe der Beweisführung bildete bereits eine Schuldstufe und hatte darum eine bestimmte Strafstufe zur Folge. Der Verdächtige als solcher verdiente immer eine bestimmte Züchtigung; man konnte nicht unschuldigerweise Gegenstand eines Verdachts sein. Der Verdacht bildete für den Richter ein Beweiselement, für den Angeklagten das Zeichen einer bestimmten Schuld und verlangte deswegen auch nach einer bestimmten Strafe. Ein Verdächtiger, der verdächtig blieb, wurde damit nicht für unschuldig erklärt, sondern in eingeschränktem Maße bestraft." Anzumerken sei hierbei aber, dass Foucaults Skizzierung nicht die heutige Zeit meint, sondern das 17. Jahrhundert - anders erklärt: die offiziöse Rechtsauffassung zum Missbrauchsverdächtigen, die sich als modern und aufgeklärt feiert, sie ist im Grunde ein alter Hut, eine Rechtspraxis, die schon lange begraben wurde. Was als fortschrittliche Sensibilisierung von Eltern und empörten Bürgern begriffen wird, ist in Wahrheit der Rückschritt aufs Schafott, die Wiederbeatmung des Schauprozesses und die Abwicklung fundamentaler Ideen der Aufklärung.

Semper aliquid haeret - etwas bleibt immer hängen! Der allzu unbedarfte Umgang mit der Unschuldsvermutung, die bei Missbrauchsverdächtigen (medial und gesellschaftlich) de facto ausgesetzt wird, macht aus Plutarchs Zitat einen Rechtsspruch. Freigesprochene Ex-Verdächtige erhalten niemals ihre Reputation zurück - diejenigen, die in jenem Eifer sich als gute und besorgte, politisch korrekte und engagierte Eltern zu stilisieren, zur üblen Nachrede verleiten ließen, werden nicht belangt, nicht zur öffentlichen Entschuldigung gezwungen. Das hielten diese vielleicht auch für eine Zurschaustellung, für ein Schafott - ein Schafott, dass sie nur für den Verdächtigen und natürlich (wenn auch nicht zurecht, da die Zurschaustellung als Teil des Strafvollzugs abgeschafft ist) für den Verurteilten vorgesehen haben; nicht aber für den braven Bürger, der im Tatendrang und aus Angst zu unreflektierten Aussagen und Handlungen hingerissen wurde.


13 Kommentare:

Anonym 6. Oktober 2010 um 08:31  

ich bin selber mutter von 3 kindern, davon sind 2 mädchen..
es gibt nichts widerlicheres als wenn jemand kinder mißbraucht!
aber!
es kann auch nicht sein, das väter angst haben (oder ein ungutes gefühl ) im alltäglichen normalen umgang mit ihren kindern.
mein mann hat udn macht viele dinge nicht bei unseren mädchen weil er angst hat das jemand es falsch verstehn könnte...
angefangen beim richtigen sauber machen nach dem großen geschäft in der windel (weil man da ja auch zwischen den schamlippen putzen muß)bis hin zum einfach freien umgang mit den kindern (egal ob eigene oder besuchskinder..
ich als frau gehe ohne drüber nachzudenken mit kindern um...bei ihm schleichen sich, weil er ein mann ist, in meinen augen, seltsame gedanken ein und schränken ihn ein..
das ist ganz schön hart finde ich..
und solche kommentare und forderungen wie "tod den kinderschändern" helfen da nicht wirklich weiter

epikur 6. Oktober 2010 um 08:37  

Todesstrafe für Vergewaltiger und Kinderschänder ist der Versuch, die Todesstrafe wieder salonfähig in Deutschland zu machen. Es ist ein Hintertürchen für all jene Kräfte, die davon ablenken wollen, dass sie die Todesstrafe als Gänze wieder eingeführt haben möchten. Eben nicht nur für gewisse Gestalten, sondern am Ende für alle. Das Leben ist jedoch unantastbar!

Ein gutes aktuelles Beispiel, der Rufmord- und Verdachtskampagne, ist Jörg Kachelmann.

Kurt 6. Oktober 2010 um 09:10  

Meines Wissens wurde die Todesstrafe in der BRD nach 1945 abgeschafft, um die vielen Naziverbrecher vor dem Strang zu bewahren, an den sie gehört hätten, hätte die BRD wirklich Ernst mit der Aufarbeitung der Völkerrechtsverbrechen der Nazis gemacht. Dass die Todesstrafe nun im Zusammenhang mit Kinderschändern von der Bevölkerung guten Mutes wieder gefordert wird, entbehrt nicht einer gewissen Rachsucht (auf dieselbe Ebene gehört auch die Sicherungsverwahrung nach Abbüßung der eigentlichen Strafe), ja sogar der Tragikomik. Wer von denen, die die Todesstrafe fordern, ist sich darüber im klaren, dass sie dann vor allem für politische "Verbrechen" eingesetzt werden würde - wie einst zu Nazizeiten?

Libero 6. Oktober 2010 um 09:34  

Das Spiel mit der Angst - eine unermessliche Spirale, die nach oben geöffnet ist. Eine unermessliche Spirale, die unermessliche Gewinne einfahren lässt.
Bleibt nur die Frage: wie definiere ich Gewinn?

ninjaturkey 6. Oktober 2010 um 10:14  

Hm - Todesstrafe für Kinderschänder also. Und was ist mit einem brutalen (gibts auch zärtliche?) Vergewaltiger, dessen Opfer ebenfalls für den Rest seines Lebens traumatisiert ist. Auch Todesstrafe, o.k. Wie schauts aus bei einem Raubüberfall wenn der Überfallene dauerhafte Schäden davon trägt - auch, gut. Und was ist, wenn jemand im Auftrag gehandelt hat mit dem Auftraggeber (konstruiert, aber kommt vor). Todesstrafe, her damit. Führen wir die Kette einmal fort bis zum Bankberater der in voller Kenntnis der Risiken zum eigenen Nutzen (und dem der Bank) Menschen das hart verdiente Geld aus der Tasche zieht und diese und ihre Familie (da sind auch Kinder bei) ruiniert. Todesstrafe? Und wie soll die aussehen? Human oder möglichst qualvoll? Wollen wir das öffentlich sehen oder soll es verschwiegen hinter dicken Mauern im Keller stattfinden? Wen trifft die Schuld wenn mal jemand aus Versehen fälschlicher weise exekutiert wird. Und wie wäre es wenn es aufgrund einer Namensgleichheit oder falscher Anschuldigung einen selbst trifft...

hartmut 6. Oktober 2010 um 11:05  

Hallo Roberto,

Vielleicht noch ergänzend:
das politisch Schäbige an all diesen Verfahren, die Leute aufzuputschen: Sie konnotieren Dinge, die kein Mensch bestreitet (kein Mensch, der bei Trost ist, findet Mißbrauch richtig!) mit ihrer Agenda. Wer nicht für die netzsperren ist ist für Kinderficken. Wer nicht für Afghanistankrieg ist ist für Terrorismus. Wer nicht für Stuttgart 21 ist, macht unsere Zukunft kaputt. Wer nicht für Joachim Gauck ist, will Mielke wiederhaben. Etc. Dieses seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten (Schopenhauers Erristik) hinlänglich bekannte, schäbige Diskursverfahren findet leider immer wieder Dumme, die drauf reinfallen. Es ist fast zum Verzweifeln. Du kannst 10.000 Präventionsveranstaltungen durchführen, vor den Tricks der Nepper, Schlepper, Bauernfänger warnen - die nächste Diskurskaffeefahrt kommt bestimmt, und wieder wirds genug Dumme geben, die mitfahren.

lg aus Hamburg-Barmbek

Yusuf Zenj 6. Oktober 2010 um 13:19  

Zur anonymen Mutter von 3 Kindern:
Als Kinder sind wir in den fruehen 60ern total locker mit unseren nackten Eltern in die Wanne gegangen oder haben mit Vattern im Bett rumgeschmust. Die Eltern waren KEINE Kommunarden sondern 'normale' Landeier vom und im Dorf. Soll nicht heissen, damals und dort gab es nicht Gewalt gegen Kids und Frauen, soll heissen: macht einfach wie ihr es fuer richtig haltet und fuehlt, seid locker und offen und vor allem: habt euch lieb, das ist die Hauptsache.

Und zu Hartmuts leider, leider so richtigem Beitrag auch noch eine Ergaenzung: Wer gegen kinderschaendende Priester ist kommt in die Hoelle.

p.s.
Gibt es die Todesstrafe nicht doch noch in Deutschland - im Hessischen Landesrecht?

Anonym 6. Oktober 2010 um 16:34  

Meinst du vielleicht Pranger statt Schafott?

pascal 6. Oktober 2010 um 16:54  

@yusuf:
die todesstrafe gab es noch in der bayrischen verfassung, bis sie 1998 zusammen mit dem bayrischen senat abgeschafft wurde. meinst du das?

Yusuf Zenj 6. Oktober 2010 um 17:44  

Falls von Interesse:
Es gibt die Todesstrafe tatsaechlich noch in Hessen.
Art. 21 Abs. 1 HV (Hessische Verfassung) Die Todesstrafe kann allerdings nur für besonders schwere Verbrechen verhängt werden.

(Kann natuerlich nicht, Bundesrecht geht ueber Landesrecht, ist aber doch seltsam dass die hessen nicht ihre Verfassung aendern. Koennte schoen viel Geld kosten!)

http://de.wikipedia.org/wiki/Verfassung_des_Landes_Hessen

Anonym 7. Oktober 2010 um 01:36  

Dumme Menschen gibt es eben überall.

"Kinderschändern das Recht auf Leben abzusprechen und ihnen mit dem Tod zu drohen macht nicht einmal aus eurer Position heraus Sinn.
Schließlich findet Mißbrauch hauptsächlich im familiären- und Bekanntenumfeld statt. Selbst härtere Strafen wie bspw. lebenslänglich können unter Umständen kontraproduktiv wirken und dazu führen dass es zu weniger Anzeigen kommt.
Das Opfer wird schließlich nicht gefragt ob es möchte das der Papa oder Onkel für immer weggesperrt wird ~ oder gar hingerichtet; obdenn es ansonsten vllt. gerne zur Polizei gehen würde. Konsequenz der Androhung solcher Strafen oder Lynchung durch einen Mob wäre also glatt das sofortige einbrechen von Strafanzeigen.

Und selbst wenn es eine vollkommen fremde Person wäre, kann es für viele dennoch eine Belastung sein sein Gewissen auch noch auf diese Art zu belasten.
Eine doppelte Belastung also im nachhinein."

Das würde ich ihnen gerne sagen.
Doch dann würde mir vorher einfallen dass ich mich nicht dazu herablasse mit solchen Menschen gar zu reden.

Und welch Ironie:
"Immer denken alle immer nur an die Täter und nie die Opfer"

Diese Menschen merken doch gar nicht wie wenig ihre Haltung die Gefühle der Opfer berücksichtigt sondern stets nur ihre EIGENEN gegenüber den Tätern reflektiert.
HAHAHA das Leben ist manchmal so köstlich ...

>es gibt nichts widerlicheres als wenn jemand kinder mißbraucht!

*gähn*
Oder vielleicht haben sie auch nicht gerade viel Fantasie.
Wenn sie 3 Kinder haben, gehen sie doch bitte wieder in die Küche und bereiten für eben diese Mahlzeiten zu.
Vermutlich gibt es auch davon abgesehen noch genug zu putzen/waschen in ihrem Haushalt.

pascal 7. Oktober 2010 um 15:36  

Um die ganze Hetze zu vervollständigen, bringt RTL2 jetzt noch die passende Sendung dazu raus:

http://www.dwdl.de/story/28226/ab_heute_zu_guttenberg_jagt_kinderschnder_bei_rtl_ii/

Mit Nachwuchsmutti der Nation...

Anonym 10. Oktober 2010 um 20:18  

@ Anonym 7. Oktober 2010 01:36

Ich finde es ein wenig unhöflich, dass Sie den ersten Poster hier verhöhnen. Wenn Ihre Argumentationsgabe sich wirklich darauf beschränkt einer Mutter den Rückzug zum Haushalt nahezulegen, weil Ihnen allem Anschein nach eine ihrer Aussagen nicht ganz günstig zu sein scheint, dann bewegen Sie sich intelektuell auf einer Ebene mit denen, über deren verkorkste Argumentation Sie sich beschweren wollen.

Ein Narr, der sich selbst auslacht!

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