Sit venia verbo

Dienstag, 23. Februar 2010

"Aber selbst Mieter, die dem Regime ablehnend gegenüberstanden, äußerten sich beschwichtigend. "Was wollen Sie denn?" fragte Herr Deecke aus dem Erdgeschoß, der Vater des hübschen "Trautchens": "Sie übertreiben!" Jeder begreife doch, daß die Dinge täglich besser liefen. Ebenso redete Frau Dölle, die sich gern als Hausmeisterin aufspielte und keine Gelegenheit ausließ, von ihrem dickbäuchigen, immer zu Schweieigeleien aufgelegten Sohn zu schwärmen. Herr Patzeck wiederum mit der tiefen, offenen Stimme, dessen Frau inzwischen niedergekommen war, sprach vom bloßen "Budenzauber" der Nazis, der noch lange nicht das Abendland bedrohe; mit solchen Überdrehungen arbeite man der "Hitlerbande" nur in die Hände. Und der für seinen derben Zynismus bekannte Herr Leopold aus irgendeinem Ministerium meinte, die ganze Nazidiktatur laufe doch, von den üblichen Kinderkrankheiten abgesehen, auf eine Einschränkung der Meinungsfreiheit hinaus. Das tue ihm nicht einmal "auf der linken Arschbacke weh", so drückte er sich aus. Denn man müsse sich bloß anhören, was die berühmten "Leute von der Straße" an Unfug alles daherredeten; da sollte man den neuen Herrschaften eigentlich dankbar sein, daß sie dem elenden "Politgequatsche" ein Ende machten. Mein Vater antwortete auf solche Einwürfe zumeist, wie er uns später erzählte, daß es überhaupt nicht um die Arbeitslosen gehe. Und um die Meinungsfreiheit schon gar nicht. In Wirklichkeit suche jeder nur nach einer Rechtfertigung fürs Wegsehen von den Verbrechen ringsum. Sogar auf seiten erklärter Hitlergegner machte sich bald eine zunehmende Gleichgültigkeit breit. Zu einem nicht geringen Teil war sie auf das verharmlosende Vokabular des Regimes zurückzuführen. Mein Vater war "abgebaut", wie die Bezeichnung lautete, anderen waren "vorläufig" pensioniert, Verhaftungen hießen "Sicherheitsverwahrungen", was war so schrecklich daran? Mit dem SPD-Freund Ma Fechner unternahm mein Vater Ende 1933 einen Spaziergang durch die Kiefernwaldungen bei Erkner, die er aus Sicherheitsgründen gern aufsuchte, wenn er politische Gespräche führen wollte. "Also lassen wir uns mal eine Zeitlang von Rüpeln regieren", sagte Fechner, die machten es nicht lange. Mein Vater führte auf, was diesem Urteil widersprach, und wies auf die "Schmach" der Machtergreifung hin. Die republikanischen Verbände hätten nach Millionen gezählt, aber nicht einmal einen Generalstreik zustande gebracht. Sondern sich binnen weniger Tage auf bloße Regierungsanordnung hin widerstandslos in Luft aufgelöst und es sich bei den Aufmärschen unter den Fahnen der Nazis gemütlich gemacht. Jetzt fielen allen ständig neue Gründe für ihr Mitlaufen ein."
- Joachim Fest, "Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend" -

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